# taz.de -- Transsexualität im Kindesalter: Wer wollte das rosa Einhorn?
       
       > Der kleine Alexander wollte schon im Kindergarten lieber Alexandra sein.
       > Nun wünscht sich die Elfjährige eine Hormonbehandlung. Das Jugendamt ist
       > dagegen.
       
 (IMG) Bild: Mädchen- und Pferdebücher? Alex liest Harry Potter - ziemlich geschlechterneutral.
       
       "Hallo, ich bin Alex*." Das Mädchen, das lächelnd die Tür zu einer hübschen
       Altbauwohnung irgendwo in Berlin öffnet, hat lange blonde Haare, trägt enge
       Jeans und eine Bluse. Das soll ein Junge sein? Dieses liebliche elfjährige
       Wesen, das bereitwillig sein rosa Zimmer präsentiert, mit den weißen Möbeln
       und dem rosa Einhorn auf dem Bett?
       
       Nein, nichts weist auf einen Jungen hin. Und doch ist Alex Geschlecht zum
       Kampffeld geworden. Alex ist transsexuell. Ein Mädchen mit den
       Geschlechtsmerkmalen eines Jungen. Und deshalb droht dem Kind jetzt die
       geschlossene Psychiatrie. Das Jugendamt möchte es einweisen.
       
       Seit wann sie denn denke, dass sie ein Mädchen ist? Alex sieht einem in die
       Augen und fragt zurück: "Seit wann wussten Sie denn, dass Sie ein Mädchen
       sind? Schon immer!" Für Alex ist die Lage klar. Als sie noch kurze Haare
       hatte, steckte sie sich einen Haarreif darauf, an dem zwei Wollzöpfe
       befestigt waren. Ihre Mutter, Anna Kaminski*, hatte damit kein Problem.
       
       Nach dem Kindergarten habe Alexander das Geschlecht offiziell gewechselt
       und sei als Alexandra in die Grundschule gegangen. Sie wurde so akzeptiert,
       beteuern Mutter und Kind. Alex sei ein normales, fröhliches Mädchen.
       
       ## Ein fröhliches Mädchen
       
       Aber das finden nicht alle gut. Der Vater sprach das Kind weiterhin als
       Alexander an. Er zog seinem Sohn Jungensachen an, und wenn Alex weinte und
       sich wehrte, dann, so erzählt es die Mutter, wurde er grob.
       
       Versucht man Alexander das Jungenleben schmackhaft zu machen, oder lässt
       man Alexandra als Mädchen weiterleben? Über diesen Konflikt haben sich die
       Eltern getrennt. Die Gesundheitsfürsorge für Alex haben sie dem Jugendamt
       übertragen. Der Vater kämpft mit aller Kraft gegen das Verhalten des Kindes
       an. Die Mutter möchte Alex den Willen lassen.
       
       Aber nun kommt Alex in die Pubertät. Ihr Körper entwickelt sich zu dem
       eines Mannes. Ein Mann will sie nicht werden. Lieber sterben. Alex möchte
       mit Östrogenen behandelt werden, damit sie sich weiblich entwickelt. Das
       will der Vater verhindern. Er belagert das Jugendamt, schreibt 170 Seiten
       über seine angeblich gestörte Frau, die dem Kind nur einrede, ein Mädchen
       sein zu wollen. All dies erzählt seine Frau, der Vater selbst reagiert
       nicht auf Anfragen.
       
       Was er nicht schreibt, was aber seine Exfrau erzählt, ist, dass auch in
       seiner Herkunftsfamilie schon einmal Transsexualität vorkam. Sie wurde, wie
       damals üblich, versteckt und unterdrückt. Dem Sohn wolle er so etwas
       "ersparen", meint Anna Kaminski. Deshalb kämpfe er so verzweifelt und
       stelle doch damit erst eine Situation her, die sein Kind extrem belaste.
       
       Wie umgehen mit transsexuellen Kindern? Nicht nur Alex Eltern sind
       gespalten, auch die Fachwelt ist uneins. Kinder, die sich ins andere
       Geschlecht wünschen, sind gar nicht so selten. In der Pubertät verschwindet
       oftmals der Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören. Stattdessen bildet
       sich oft eine homosexuelle Identität.
       
       Darauf weist etwa Klaus Beier hin, Sexualmediziner an der Berliner Charité.
       "Wenn wir Kriterien hätten, die uns sicher sagen könnten, dass eine
       Geschlechtsidentitätsproblematik im Kindesalter später in eine
       Transsexualität übergeht, wäre die Gabe von pubertätsblockierenden
       Medikamenten verantwortbar", sagt Mediziner Beier. "Diese Kriterien haben
       wir aber nicht, sodass stets der denkbare Fall zugrunde gelegt werden muss,
       dass sich das Unbehagen im biologischen Geschlecht im Laufe der weiteren
       Entwicklung verlieren könnte."
       
       ## Gegen die Natur?
       
       Es gebe nämlich zum Beispiel auch eine von den Eltern induzierte Störung
       der Geschlechtsidentität, wenn etwa die Mutter selbst eine gestörte
       Beziehung zu Männern habe und ihren Sohn in die weibliche Rolle dränge. Hat
       Alex Mutter, diese sehr normal und fröhlich wirkende Frau, das Zimmer rosa
       gestrichen und das Einhorn gekauft - gegen die Natur des Kindes? Schwer
       vorstellbar. Aber ihr Exmann ist davon überzeugt, dass die Mutter das
       Problem ist und das Kind ohne sie zum Jungen würde.
       
       Es gibt auch andere Haltungen zur frühen Transsexualität als die von Klaus
       Beier. Eine niederländische Studie, für die die Entwicklung von Kindern mit
       einer sogenannten Geschlechtsidentitätsstörung verfolgt wurde, weist darauf
       hin, dass sich biologische Jungen, die besonders hartnäckig behaupteten,
       sie seien Mädchen, später auch zu Transsexuellen entwickelten. Die späteren
       Homosexuellen hatten eher geäußert, es sei ihr Wunsch, ein Mädchen zu sein.
       Aber leider seien sie Jungs. Die Niederländer trauen sich eine
       Unterscheidung zu und fangen in für sie eindeutigen Fällen schon in der
       Pubertät mit der Hormonbehandlung an.
       
       Auch in der Schweiz traut man sich zu, Kinder in der Vorpubertät zu
       diagnostizieren und dann auch zu behandeln. "Ich würde das Kind eine Weile
       begleiten", so Professor Udo Rauchfleisch von der Universität Basel, ein
       anerkannter Experte und Gutachter für Transsexuelle. Mindestens ein halbes
       Jahr lang müsse er das Kind wöchentlich sehen - dann könne er eine Diagnose
       stellen. "Wenn es eine Transsexualität ist, dann würde man auch bald mit
       der Hormonbehandlung beginnen", so Rauchfleisch.
       
       "Es ist natürlich eine ungeheure Erleichterung, wenn das Kind sich dann
       gemäß dem gewünschten Geschlecht entwickelt". Mit Östrogenen behandelte
       Kinder etwa würden keinen Stimmbruch bekommen und keine breiten Schultern,
       stattdessen einen Busen. Sie würden als Erwachsene wie eine Frau aussehen
       und nicht wie ein verkleideter Mann.
       
       Alex wurde nie neutral begutachtet. Vor sechs Jahren sollte sie zu Tests in
       ein großes Berliner Krankenhaus: "Die haben mir erzählt, ich würde als
       Mädchen später unglücklich. Da wollte ich nicht mehr mitmachen," sagt sie.
       
       ## Rollenklischees der Ärzte
       
       Sie brach die Tests ab. Über die Rollenklischees der Ärzte wundert sie
       sich: "Die stellten mich vor ein Regal: links rosa Prinzessinnen, rechts
       Autos. Ich soll entscheiden, womit ich spielen will, das ist doch
       lächerlich. Ich habe dann ein Puzzle gemacht." An solchen Erzählungen merkt
       man erst, wie absurd es ist, dem Kind ein Rollenverhalten zuzuweisen, das
       anderswo geschlechterbewusste ErzieherInnen gerade zu relativieren
       versuchen.
       
       Auch Alex spielt nicht pausenlos mit Puppen. Fußball aber auch nicht. Ihre
       Hobbys sind Breakdance, Schwimmen und Lesen. Und was liest sie? Mädchen-
       und Pferdebücher? Alex liest Harry Potter - ziemlich geschlechtsneutral.
       
       Man möchte gern mit einer neutralen Instanz sprechen. Aber die Lehrerin
       lehnt ab, zu heikel sei der Fall. Im Jugendamt wird erst mal ermittelt. Ist
       die Mutter das Problem? Warum gibt es dann keine professionelle
       Einschätzung ihrer Psyche? Oder setzt nicht vielleicht der Vater die
       Institutionen unter Druck, die einfach keinen weiteren Ärger mit ihm
       riskieren möchten?
       
       Der Chefarzt etwa sprach bei der abgebrochenen Untersuchung vor sechs
       Jahren lange mit dem Vater und dann eine Stunde lang mit der Mutter. Alex
       selbst bekam er gar nicht zu Gesicht. Dennoch stand die Diagnose: Die
       Mutter habe dem Kind die Transsexualität eingeredet. Anna Kaminski suchte
       eine Therapeutin auf. Hat sie eine psychische Störung, von der sie gar
       nichts ahnt? Die Therapeutin konnte nichts dergleichen feststellen.
       
       ## Nie gründlich untersucht
       
       Aber vor allem wurde Alex bis heute nicht gründlich untersucht. Schon gar
       nicht über längere Zeit, wie es Rauchfleisch für nötig hält. Dabei wäre ein
       Bericht oder ein fundiertes Gutachten nun so wichtig: Denn im Jugendamt,
       das jahrelang ruhig war, ist eine neue Pflegerin für Alex eingesetzt
       worden. Und die glaubt dem Vater und schafft Fakten: Das Kind sei
       suizidgefährdet und müsse in die geschlossene Psychiatrie. Hormone solle es
       keinesfalls bekommen.
       
       Sondern die Pubertät erleben, in der Hoffnung, dass es danach doch als Mann
       leben wolle. Dazu solle es therapiert werden: Angebote für eine "männliche"
       Rollenentwicklung würden gemacht. Fußball und Autos. Die "weiblichen"
       Wünsche ignoriert. Später soll Alex in eine Pflegefamilie. Hauptsache, weg
       von der Mutter.
       
       "Das ist absurd. Man nimmt doch ein Kind nicht aus der gewohnten Umgebung",
       sagt Professor Rauchfleisch. Und wenn man es nun quasi umerziehen wolle,
       dann würde sich das Kind eher verstellen - und todunglücklich: "Das hat
       nichts mit Therapie zu tun. Eine Therapie begleitet einen Menschen bei der
       Selbstfindung, sie redet einem nichts ein oder aus. Wenn das Kind wirklich
       transsexuell ist, dann fügt eine solche ,Therapie' dem Kind Schaden zu."
       
       Doch obwohl es keinerlei Gutachten gibt, setzte das Jugendamt die
       Zwangseinweisung vor dem Amtsgericht durch. Anna Kaminski, völlig entsetzt
       von diesem Urteil, ging in die nächste Instanz, der Fall liegt nun beim
       Kammergericht. Aber das Jugendamt will die Einweisung jetzt. Per
       einstweilige Verfügung. Jeden Tag können sie nun vor der Tür stehen. Und
       ein fröhliches, aufgeschlossenes Mädchen ohne ein einziges Gutachten in die
       Psychiatrie bringen. (*Namen geändert)
       
       19 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heide Oestreich
       
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