# taz.de -- 100.000 Besucher beim Comicfestival: Gegen den Strich zeichnen
       
       > Bastien Vivès und Art Spiegelman sind Gegenpole des Comicfestival in
       > Angoulême – einerseits die "neunte Kunst", auf der anderen Seite die
       > Relevanz über Ästhetik.
       
 (IMG) Bild: Guy Delisle, Autor von "Chroniques de Jérusalem".
       
       Angoulême ist ein kleines gallisches Dorf, und einmal im Jahr fällt den
       Bewohnern der Himmel auf den Kopf. So auch bis zum Sonntag: Vier Tage lang
       überschwemmten mehr als 100.000 Besucher die Kleinstadt nördlich von
       Bordeaux, um die "bande dessinée" zu feiern, kurz "BD". So heißt in
       Frankreich der Comic, und Angoulême ist seine europäische Hauptstadt.
       
       "Spie-gel-man, Spie-gel-man", skandiert eine Gruppe Jugendlicher. Der
       Zeichner hastet vorbei, im Schlepptau eine Horde Fotografen. Art
       Spiegelman, 64, Autor des Holocaust-Comics "Maus", leitet beim 39.
       "Festival International de la Bande Dessinée" die Jury.
       
       Spiegelman ist eine Ikone, niemand kommt an ihm vorbei. Am wenigsten er
       selbst. "Ich versuche zu entkommen, aber ständig ist diese tonnenschwere
       Maus hinter mir her", sagt der New Yorker. Mit dem zweibändigen Werk,
       erschienen 1986 und 1991, hat er die Grenzen des Genres neu definiert.
       
       "Maus" erzählt die Geschichte seines Vaters Vladek, eines polnischen Juden,
       der Auschwitz überlebt. Für Angoulême hat Spiegelman seine bisher
       umfassendste Werkschau zusammengestellt, ab März ist sie im Pariser Centre
       Pompidou und ab September im Kölner Museum Ludwig zu sehen.
       
       Die Retrospektive und der katalogartige Band "Meta-Maus" umfassen Skizzen,
       Interviews und Tonbandaufnahmen seines Vaters. Das Ziel sei, sagt er
       selbstironisch, "die drei großen Fragen zu beantworten: Warum Comics? Warum
       Mäuse? Warum der Holocaust?"
       
       ## Polina
       
       Bastien Vivès hat darauf keine Antworten. "Ich bin wahrscheinlich der
       einzige lebende Zeichner, der ,Maus' nicht gelesen hat", sagt er. Der
       27-jährige Pariser ist einer der Favoriten des Festivals. Nach "Der
       Geschmack von Chlor" ist in deutscher Übersetzung gerade sein neues Buch
       "Polina" erschienen. Darin erzählt er mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit von
       der russischen Ballerina Polina Uljanow, die sich trotz – oder wegen –
       ihres erbarmungslosen Lehrers Bojinski eine Karriere in Moskau und später
       in Berlin ertanzt.
       
       "Von Tanz hatte ich vorher keine Ahnung", sagt Vivès. "Ich habe Polina
       geschaffen, weil mich ihr Werdegang als Künstlerin interessiert und die
       Fragen, die sie sich stellt: Warum tanze ich? Wofür die ganze Schinderei?"
       
       Vivès und Spiegelman sind die Gegenpole dieses Festivals. Der Franzose
       steht für die Tradition aufwändig produzierter Alben, die als "neunte
       Kunst" gleichberechtigt neben Malerei oder Musik stehen. Auf der anderen
       Seite Spiegelman, dem Relevanz über Ästhetik geht. Seine Wahl zum
       Jurypräsidenten symbolisiert auch die Öffnung der lange hermetischen
       französischen Szene hin zu den USA. Er ist erst der zweite Amerikaner, dem
       diese Ehre zuteil wird.
       
       Den Brückenschlag zwischen den Traditionen macht der Frankokanadier Guy
       Delisle. Die Jury um Spiegelman hat seinen Reisebericht "Aufzeichnungen aus
       Jerusalem" am Sonntagabend zum besten Album des Jahres gekürt, aus einer
       Liste mit 58 Titeln. Im März erscheint die deutsche Übersetzung
       (Reprodukt-Verlag), nach "Pjöngjang" und "Aufzeichnungen aus Birma".
       
       Seine Themen verdankt der 46-Jährige seiner Frau, die für Ärzte ohne
       Grenzen in der Welt unterwegs ist. Mit ihr und den beiden Kindern hat er
       ein Jahr lang in Ostjerusalem gewohnt. Auf mehr als 300 Seiten in
       Schwarz-Weiß zeigt Delisle, wie er mit dem Skizzenblock jüdische Feste oder
       palästinensische Flüchtlingslager besucht. Selbst ein Windelkauf wird zum
       Politikum, als er dafür von seinem palästinensischen Vorort Beit Hanina in
       die jüdische Siedlung fahren muss.
       
       In der Tradition der "Comic-Reporter", angeführt von dem
       maltesisch-amerikanischen Zeichner Joe Sacco ("Palästina"), sieht sich
       Delisle nicht. "Sacco arbeitet investigativ, bezieht Stellung. Ich hingegen
       nehme den Leser mit auf einen Spaziergang und zeige so die verschiedenen
       Seiten des Nahostkonflikts."
       
       ## Auch Berlin ist vertreten
       
       Und dann gibt es in Angoulême noch die jungen Deutschen. Aisha Franz, 27,
       und Till Thomas, 33, sind mit ihren "Minicomics" bereits zum zweiten Mal
       dort. Für die Berliner Zeichner ist das Festival ein Speed-Date mit
       tausenden potenziellen Lesern. In dem lindwurmartigen Zelt der
       Independent-Verlage zeigen sie selbstverlegte Arbeiten ihres Kollektivs
       "[1][Treasure Fleet]" und das Sammelalbum "Orang", nominiert für den Preis
       "Bester alternativer Comic".
       
       "In Deutschland ist die Szene sehr einseitig, Hefte mit künstlerischem
       Anspruch stoßen nicht auf große Gegenliebe", sagt Thomas. Anders in
       Frankreich: Hier suchen die Verlage Talente, die gegen den Strich zeichnen.
       
       Angoulême, findet Aisha Franz, ist einzigartig. Wo sonst sieht man ganze
       Familien, die Schlange stehen, um ein Buch vom Autor signieren zu lassen
       oder eine Ausstellung über taiwanesische Mangas zu besuchen? Und wo sonst
       stehen sogar die Straßennamen in Sprechblasen?
       
       31 Jan 2012
       
       ## LINKS
       
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