# taz.de -- Aufräumarbeiten in Japan: Der gute Mann von Fukushima
       
       > Kurze Zeit waren die Atomsamariter von Fukushima in aller Munde. Heute
       > herrscht Schweigen rund um die Reaktorruine. Ausgerechnet ein Arbeiter
       > der Mafia spricht jetzt.
       
 (IMG) Bild: Arbeiter im J-Village, dem einstigen Trainingscamp der japanischen Fußballerinnen, das nun als Basislager für die Aufräumarbeiten dient.
       
       FUKUSHIMA taz | Es ist spät geworden, abends in einer Karaoke-Bar in
       Fukushima. Ihsaka schläft. Er hat viel getrunken, erst Bier, dann Sake.
       Jetzt liegt er zusammengerollt auf einem blauen Plüschsofa. Die langen
       grauen Haare bedecken das hagere Gesicht. Er trägt einen Hanten, eine
       altmodische japanische Winterjacke, und Zori, die traditionellen
       Holzsandalen. Vor ihm stehen Gläser, eine Flasche für den Sake und eine
       kaum berührte Schale mit Pommes frites. Tonlos läuft der Fernsehapparat.
       
       Wenn man jetzt neue Codes für weitere Lieder eingäbe, würden wieder die
       alten Lieder aus den 50er und 60er Jahren erklingen, die Ihsaka so liebt.
       Er kennt sie auswendig. Sie handeln von Bruderliebe und Gerechtigkeit, von
       den populären Träumereien der japanischen Mafia. Ihsaka hat den ganzen
       Abend gesungen, dann haben ihn Müdigkeit und Alkohol überwältigt.
       
       "Ich bin ein Yakuza", hat Ihsaka im Laufe des Abends gesagt. Yakuza - das
       sind Mafiosi, Leute aus dem zum Teil kriminellen, zum Teil sozial
       integrierten japanischen Gangstermilieu. Normalerweise verschweigen die
       Yakuza ihre Herkunft, aber Ihsaka verschweigt nur seinen Vornamen.
       
       Er ist ein Sonderfall, denn er befindet sich auf einer Mission. "Was ich
       tue, ist ein winziger Beitrag", sagt er nach vielen Gläsern Sake. "Aber
       wenn meine Arbeit nicht getan wird, werden nie wieder Kinder in Fukushima
       spielen können." Im Gegensatz zu anderen ist er freiwillig nach Fukushima
       gekommen. Ihsaka ist eine Art Atomsamariter.
       
       ## Treffpunkt J-Village
       
       Seit dem vergangenen Sommer arbeitet er an vier Tagen pro Woche auf dem
       verseuchten AKW-Gelände von Fukushima. Er wohnt in einer Touristenherberge
       eine Fahrtstunde südlich davon. Eigentlich ein Luxusquartier, aber er teilt
       das Zimmer mit drei Kollegen. Ihsaka misshagt diese Enge. Deshalb ist er
       froh, wenn er einen Abend in der Karaoke-Bar verbringen kann.
       
       In dem Ferienort Yuzawa-onsen in der Präfektur Fukushima haben die
       AKW-Arbeiter als Gäste die Touristen ersetzt, die nicht mehr kommen. An
       Arbeitstagen steht Ihsaka morgens um fünf Uhr auf. Dann bringt ein Kleinbus
       der Yakuza ihn und seine Kollegen bis zum J-Village. Das J-Village war das
       Trainingsgelände der japanischen Frauen-Fußballnationalmannschaft, die die
       Weltmeisterschaft in Deutschland gewann. Heute ist es die Kommandozentrale
       für die Rettungs- und Reparaturarbeiten an den zerstörten Reaktoren. 5.000
       Leute arbeiten im J-Village und auf dem 20 Kilometer weiter entfernten
       Reaktorgelände.
       
       Ihsakas Kleinbus hält auf einem riesigen Parkplatz neben Hunderten von
       anderen Bussen, hinter deren Windschutzscheiben Schilder der großen Firmen
       stecken: Mitsubishi, Toshiba, Hitachi. Die ganze Japan AG räumt jetzt mit
       auf, und die Busse bringen die Firmenmitarbeiter vor Ort. Doch zur Japan AG
       gehört auch die Yakuza. Keines der über 50 Atomkraftwerke im Land wurde
       ohne sie gebaut. Denn die Mafiabanden monopolisieren seit Jahrzehnten das
       Vermittlungsgeschäft für Tagelöhner auf Großbaustellen.
       
       Dabei müssen die von der Mafia gestellten Arbeiter die niedrigsten und
       meist auch gefährlichsten Arbeiten verrichten. Passiert dann ein Unfall,
       kaschiert dann das Gangsternetzwerk die Folgen. Umso mehr wird die Yakuza
       jetzt in Fukushima gebraucht. Erkrankt einer ihrer Arbeiter später an
       Krebs, der von radioaktiver Strahlung ausgelöst wurde, werden
       Nachforschungen erfolglos sein. Dennoch gibt es Arbeitsverträge. Im Prinzip
       also ein legales Geschäft.
       
       Ihsaka zählt zu einer Arbeitsgruppe von acht Männern. Ihr Tageslohn liegt
       mit umgerechnet 150 Euro etwas höher als auf normalen Baustellen. Sie
       sammeln sich auf dem Parkplatz, betreten die Sperrzone jenseits des
       J-Village und werden von dort zum Reaktorgelände gefahren. Ihre Aufgabe
       besteht darin, Gebäude, Rohre und Ruinen zu reinigen - alles, was von den
       kaputten Reaktoren noch stehen geblieben ist. Ihsakas Kollegen sind weniger
       freiwillig dabei: Die meisten von ihnen haben Schulden bei den Kredithaien
       der Mafia und müssen deshalb jede Arbeit annehmen, die ihnen die Gangster
       vermitteln.
       
       ## Arbeiten ohne Schutzanzug
       
       Kein Außenstehender darf die Arbeiter auf dem Reaktorgelände begleiten.
       Journalisten konnten bisher nur in Gruppen unter genauer Anweisung des
       AKW-Betreibers Tepco den Katastrophenort besichtigen. Ihsaka aber ist
       viermal die Woche vor Ort und kann davon erzählen.
       
       Normalerweise tragen er und seine Kollegen schwere Schutzkleidung und einen
       Dosimeter bei der Arbeit. "Wir sollen Anzüge und Masken tragen, aber das
       tun wir nicht immer", sagt Ihsaka. Jetzt im Winter stört die Kleidung nicht
       mehr so. Aber noch vor ein paar Monaten, im Spätsommer, als Ihsakas Gruppe
       Schutt und Geröll von den Reaktorruinen abtrug, behinderte sie die Arbeiter
       beim Heben schwerer Gegenstände. Zudem schwitzten die Arbeiter. "Damals sah
       ich oft die Tattoos meiner Kollegen", sagt Ihsaka. Sie arbeiteten dann ohne
       Oberbekleidung neben den strahlenden Reaktoren. Ihsaka erinnert sich, dass
       niemand ihn anlernte, wie man sich am besten im Schutzanzug bewegt.
       
       Bis heute passen die acht Männer von Ihsakas Team auf, dass jeder von ihnen
       am Ende eines Arbeitstages die gleiche Strahlenanzeige auf dem Dosimeter
       hat. "Wenn ich 1,1 Millisievert abbekomme und der Kollege nur 0,9
       Millisievert, tauschen wir nach einer Weile die Arbeitspositionen", sagt
       Ihsaka. Dabei leitet die Männer nicht so sehr die Furcht vor einer höheren
       Strahlendosis als die Sorge um die Arbeit am nächsten Tag. Denn wer zu viel
       Strahlen abbekommt, wird für die Arbeit am nächsten Tag aussortiert - und
       erhält keinen Lohn.
       
       Bei 100 Millisievert liegt die Obergrenze für die Strahlendosis, der ein
       AKW-Arbeiter in Japan pro Jahr ausgesetzt werden darf. Ihsaka hat bisher
       seit Juli laut seinen Arbeitsdokumenten 70 Millisievert akkumuliert. Noch
       kann er weiterarbeiten. Wie groß die Gefahr für ihn wirklich ist, will er
       nicht wissen. "Natürlich bin ich deren Versuchskaninchen", sagt er. Aber
       das scheint ihn nicht zu stören.
       
       Ihsaka hat seine eigenen Gründe, das Strahlenrisiko auf sich zu nehmen. Bis
       zum letzten Sommer arbeitete er 29 Jahre lang als Koch in Tokio. Er war
       kein aktiver Yakuza, gehörte zum Milieu. Deshalb aber verließ ihn seine
       Frau. Bei ihm blieb nur seine erwachsene Tochter, die sich um ihn kümmerte,
       als er vor einem Jahr an einer schweren Lungenentzündung erkrankte.
       
       Er war tagelang bewusstlos, doch die Tochter blieb an seinem Bett. "Ich
       wurde gerettet, nun bin ich hier, um das Leben der Kinder von Fukushima zu
       retten. Dafür will ich meiner Tochter in Erinnerung bleiben", sagt Ihsaka.
       Eigentlich wollte er in Fukushima als Koch für die Evakuierten arbeiten.
       Aber dann fand er über seine Kontakte zur Mafia den Job auf dem
       Reaktorgelände.
       
       ## Diese Geheimnistuerei
       
       Ihsaka hat weder studiert noch je eine Ausbildung erhalten. Auch das Kochen
       brachte er sich selbst bei. Aber er ist ein nachdenklicher Mensch. Von sich
       aus spricht er an dem Abend in der Karaoke-Bar über Hiroshima und Nagasaki.
       Das tun ganz wenige Japaner im Zusammenhang mit Fukushima. Ihsaka besinnt
       sich, dass die Amerikaner nach den Atombombenabwürfen alles unternahmen, um
       die Folgen der radioaktiven Strahlung geheim zu halten.
       
       Tatsächlich wurden sämtliche Untersuchungen des berühmten amerikanischen
       Strahlenkrankenhauses in Hiroshima über Jahrzehnte unter Verschluss
       gehalten. "Die gleiche Geheimnistuerei betreiben wir Japaner heute nach
       Fukushima", sagt er.
       
       Auch deshalb spricht er an diesem Abend so viel. Er will keine Geheimnisse
       mehr. Zwar musste er vor Antritt seiner Arbeit eine Erklärung
       unterschreiben, dass er den Medien nichts von seiner Tätigkeit berichtet.
       Doch nun bricht er bewusst die Regel. "Ich würde der Welt gern alles
       erzählen", sagt er.
       
       Nach Eintreten der Reaktorkatastrophe galten AKW-Arbeiter wie er für einen
       Moment in der Öffentlichkeit als Helden. Doch sie erlangten nicht annähernd
       den Ruhm wie etwa die New Yorker Feuerwehrmänner nach den Attentaten auf
       die Twin Towers. Dabei ist Ihsaka ein echter Überzeugungstäter und ein
       dankbarer Interviewpartner. Dennoch gibt es bis auf ein paar allgemeine
       Berichte der New York Times über die Arbeitsbedingungen der AKW-Arbeiter
       bisher kaum Geschichten über die Helden von Fukushima. Sind sie der
       Erzählung nicht wert?
       
       Je länger Ihsaka in der Karaoke-Bar redet, desto mehr begreift er, wie
       aufsehenerregend seine Geschichte ist. Die Fragen des Reporters machen ihn
       stutzig. Warum fragt dieser nach den Farben und Motiven von den Tattoos
       seiner Kollegen? Ihsaka erreicht immer wieder einen Punkt, an dem er nicht
       mehr antwortet.
       
       Er würde gern erzählen, aber er müsse auch an seine Unterschrift für die
       Betreiberfirma Tepco denken, rechtfertigt er sich. Vor die Kamera würde er
       nie treten. Aber am nächsten Tag verabredet er sich noch einmal in einer
       Nudelbar mit dem Reporter. "Ich bin einsam", grüßt er. "Ich vermisse das
       Reden."
       
       10 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Blume
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Fukushima
       
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