# taz.de -- Eurovision und Menschenrechte: „In einer reinen Diktatur? Nein“
       
       > Darf der nächste Eurovision Song Contest in Aserbaidschan ausgetragen
       > werden? Thomas Schreiber, bei der ARD für das Festival verantwortlich,
       > sagt Ja.
       
 (IMG) Bild: Eine Nelke – nicht für Popsternchen, sondern für die Demokratie. Baku, 2005.
       
       taz: Herr Schreiber, in Aserbaidschan ist die Menschenrechtssituation
       zumindest fragwürdig – kann die ARD es verantworten, nach Baku zum
       Eurovision Song Contest zu gehen? 
       
       Thomas Schreiber: Ja. Schon die Tatsache, dass der Contest in Aserbaidschan
       stattfinden wird, hat ja in den vergangenen Wochen einen publizistischen
       Niederschlag auch bei anderen Themen gefunden. Ohne den Eurovision Song
       Contest – seien wir mal ehrlich – hätte es diese Form der Aufmerksamkeit
       für dieses Land nicht gegeben.
       
       Für die aserbaidschanische Regierung überwiegt zugleich die positive
       Berichterstattung. 
       
       Das bleibt abzuwarten. Sicherlich ein hohes Maßes an Aufmerksamkeit für das
       Land, man will sich dort als weltoffen und modern darstellen und zeigen,
       was man in 20 Jahren Unabhängigkeit erreicht hat.
       
       So ist es dort aber nicht. 
       
       Die circa 1.550 Journalisten, die rund um den ESC nach Aserbaidschan kommen
       werden, werden eben nicht nur über die bunte Show berichten, sondern auch
       Geschichten von den Menschen im Land erzählen, und das bedeutet natürlich
       auch Aufmerksamkeit für die Opposition und für die Menschenrechtsgruppen.
       
       Die European Broadcasting Union, die für den ESC verantwortlich ist, hat in
       einem Statement auf das Jahr 1969 verwiesen, als der Contest im
       franquistischen Spanien stattfand. Sehen Sie da auch Parallelen? 
       
       So etwas zu sagen finde ich unverantwortlich. Spanien war ein Land, in dem
       zum Beispiel die Todesstrafe auf grausamste Weise durch die Garotte – und
       das noch bis 1974 – ausgeübt wurde.
       
       Und das heißt? 
       
       Wir sollten aufpassen, dass wir fair sind, dem Song Contest gegenüber und
       Aserbaidschan. Ich will mich nun nicht auf dünnes Eis begeben und sozusagen
       das Thermometer für die Celsiusgrade an Menschenrechtsverletzungen
       ansprechen, aber ich habe schon den Eindruck, dass an den ESC gelegentlich
       andere Maßstäbe angelegt werden als an Olympische Spiele …
       
       … Sie meinen die im Sommer in London? 
       
       Nein, die vor knapp vier Jahren in Peking. In China werden nach Schätzungen
       von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty jedes Jahr bis zu 4.000
       Menschen hingerichtet, und dennoch haben alle Nationen der Welt an den
       Olympischen Spielen damals teilgenommen. Neben der Sportberichterstattung
       gab es mächtig viel Aufmerksamkeit für politische und gesellschaftliche
       Missstände dort.
       
       Im Sommer findet die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine
       statt … 
       
       … in der Ukraine, ebenfalls Mitglied des Europarats, wird momentan eine
       ehemalige Ministerpräsidentin zu Tode inhaftiert – Briefe des
       Menschrechtsbeauftragten der Bundesregierung an die deutsche
       Fußballnationalmannschaft habe ich noch nicht gelesen.
       
       Sie meinten neulich, nach Minsk würde die ARD zum Contest nicht reisen … 
       
       Ich habe gefragt: Wenn Weißrussland gewinnen würde, möchte ich dann dabei
       sein? In einer lupenreinen Diktatur? Nein.
       
       Jetzt mal doch verglichen: Warum ginge Weißrussland nicht – und geht
       Aserbaidschan doch? 
       
       Die Frage müsste lauten: Wer darf, nach welchen Kriterien, eigentlich
       mitmachen? Wenn ein Land gewonnen hat, hat es auch das Recht, die
       Veranstaltung auszurichten und Gastgeber zu sein. Man muss das Problem
       vorher lösen – in der Frage der Teilnahme überhaupt. Ich sehe dieses Jahr,
       nach allem, was ich gehört habe, nicht die unmittelbare Gefahr, dass der
       Eurovision Song Contest 2013 in Minsk veranstaltet wird.
       
       Dennoch: Gibt es nachvollziehbare Unterschiede der Regime von Lukaschenka
       in Minsk und dem in Aserbaidschan? 
       
       Ja, die sehe ich. Aserbaidschan war 70 Jahre lang formal eine
       Sowjetrepublik, de facto aber eine Art sowjetischer Kolonie. Es ist seit 20
       Jahren unabhängig und liegt geografisch an einer der schwierigsten Stellen
       der Welt. An der Nordgrenze die unruhigen Kaukasusrepubliken mit dem
       ehemaligen Kolonialherrn Russland, an der Südgrenze Iran, das in
       Aserbaidschan einen Mordanschlag auf den israelischen Botschafter
       organisiert hat, auf der anderen Seite des Kaspischen Meeres Kasachstan und
       Turkmenistan, und das sind auch keine lupenreinen Demokratien. In welche
       Himmelsrichtung soll dieses Land blicken?
       
       Bitte! 
       
       Nur nach Westen. Baku ist eine Stadt, die einen europäischen Kern hat.
       Kulturell, auch wenn es jenseits des Kaukasus liegt und der Kaukasus die
       Kontinentalgrenze zwischen Europa und Asien beschreibt, zählte Baku einst,
       bis zum Ersten Weltkrieg, auch ein Stück weit zu Europa. Dorthin will es
       wieder gehören. Wenn jetzt der Fokus des Eurovision Song Contest nach Baku
       kommt, dann wäre es doch naiv, anzunehmen, dass die dortige Regierung nicht
       weiß, was das bedeutet. Sie werden sich reformieren müssen – im
       demokratischen Sinne. Baku will sich um die Olympischen Spiele 2020
       bewerben, und der Contest soll dem Image helfen, nicht ihm schaden. Wir
       können dabei helfen.
       
       Haben Sie bei Ihren Partnern beim Sender Ictimai in Baku die Erfahrung
       gemacht, dass dort diese Ihre Überlegungen auch angestellt werden? 
       
       In Aserbaidschan gibt es unterschiedliche Menschen, das Bild ist nicht
       schwarz-weiß. Es gibt verantwortliche Politiker, die haben ihre
       Sozialisation in der Sowjetzeit erlebt und denken in entsprechenden
       Strukturen. Und es gibt andere Politiker, die ganz anders geprägt wurden.
       Der Übergang aus der Kultur einer ehemaligen Sowjetrepublik in eine
       moderne, demokratische Zivilgesellschaft ohne Korruption geht nicht in
       einem Wimpernschlag, wie bei der „Bezaubernden Jeannie“. Das dauert im
       Zweifel mindestens eine Generation.
       
       So ähnlich argumentierte der kasachische Präsident Nasarbajew neulich in
       Deutschland: Der Westen möge sich nicht so aufblasen, Demokratie wird nicht
       an einem Tag aufgebaut. Teilen Sie seinen Blick? 
       
       Nein, weil dieses Argument missbraucht werden kann, um demokratische
       Entwicklungen zu behindern. Richtig aber ist die Frage: Wie und in welchen
       Zeiträumen entwickelt sich eine Gesellschaft – zumal eine, die eine
       Sowjetrepublik war. Ich möchte es mal mit einem etwas überspitzten Beispiel
       sagen. Stellen wir uns mal vor, da kommt ein Journalist aus dem Ausland
       nach Deutschland und betrachtet Deutschland ausschließlich durch die Brille
       der NSU-Morde. Es wäre die Wahrheit – aber nur in einem winzigen
       Ausschnitt.
       
       Und das heißt, die aserbaidschanische Wirklichkeit wäre nicht eine von
       Menschenrechtsverletzungen? 
       
       Die Lebenswirklichkeit der Menschen in Aserbaidschan ist deutlich komplexer
       als der singuläre Ausschnitt, der jetzt betrachtet wird. Ja, Festnahmen von
       Journalisten oder Bloggern sind nicht hinzunehmen. Ja, Pressefreiheit und
       Meinungsfreiheit muss es geben, genau wie demokratische Wahlen. Und
       natürlich verdient ein Parlament ohne Opposition diesen Namen nicht.
       Gleichzeitig muss man sich aber auch klarmachen: Wie oft ist in Deutschland
       in der Vergangenheit über Aserbaidschan berichtet worden? Nicht so oft.
       
       Dass der Song Contest unpolitisch sei, ja sich aus Politischem
       herauszuhalten habe, ist nicht mehr haltbar? 
       
       Der Eurovision Song Contest ist eine Musikliveshow mit 120 Millionen
       Zuschauern in mehr als 50 Ländern. Aber die politischen Umstände um die
       Veranstaltung herum können nicht mehr außer Acht gelassen werden, und
       darüber werden wir auch berichten. Auch in anderen Ländern.
       
       Jan Feddersen ist taz-Redakteur, verfolgt den Grand Prix seit seiner
       Kindheit und hat mehrere Bücher darüber geschrieben. Er [1][bloggt] und
       arbeitet auch frei für den ESC-Sender NDR
       
       1 Mar 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.eurovision.de/
       
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