# taz.de -- Spinnen - oder nicht: Pfui, Scheuerl!
       
       > Kein Schade ist, dass die Hamburger Netzwerk-Ini ihre missglückte
       > Karikatur einstampft. Unerträglich jedoch, dass ihr Gegner dafür die
       > lange Geschichte des Spinnen-Motivs ausradiert - zugunsten eines obskuren
       > Nazi-Illustrators.
       
 (IMG) Bild: Spekulant, Betrüger und Telegrafen-Tycoon Jay Gould wickelt 1885 als Spinne die Justiz ein.
       
       Hässlich? Ach, das ist zu subjektiv. Aber an der Spinnen-Postkarte der
       Initiative „Unser Hamburg – unser Netz“ lässt sich echt viel aussetzen, und
       zweifellos gehört dazu, wie ungelenk die Grafik ausgefallen ist: Wenn es
       eine Kaltenkirchener Ini wäre, ließe sich darüber ja verständnisvoll
       hinwegsehen.
       
       Aber Hamburg ist keine Provinz. Dort residieren wichtige Comic- und
       Kinderbuch-Verlage, mehrere Hochschulen bieten die Fächer Kommunikations-
       und Grafikdesign, Malen und Zeichnen an, und angeblich unterstützen auch
       örtliche Kreative die Verstaatlichungs-Ini, Musiker und Künstler. Sind denn
       nur die schlechten fürs Gute?
       
       Peinlich auch, dass der BUND Hamburg als Mit-Initiator der Postkarte voll
       auf Spinnen-Ekel setzt, während der BUND Deutschland liebevoll gestaltete
       Steckbriefe bedrohter Arachniden online publiziert und andere
       Landesverbände „spannende Spinnenexkursionen“ anbieten. An der sollten die
       Hamburger auch mal teilnehmen - schließlich schmälert die zoologische
       Zweifelhaftigkeit des Witzbildchens auch seine Botschaft: Ganz ohne Vorbild
       ist, dass sich zwei Spinnen dasselbe Netz teilen: Kommt es jetzt zu
       Spinnen-Sex, also Unternehmensfusion? Oder erledigt die eine die andere?
       Und mit welchem Recht beanspruchen wir ein Netz, dass doch eine der Spinnen
       gewebt haben dürfte, als unseres?
       
       Ja, es hätte gute Gründe gegeben, diese Postkarte einzustampfen. Doch dass
       die Ini es tut, um sich „von jeder Nähe“ zur NS-Propaganda „zu
       distanzieren“ – das ist ein Treppenwitz. Grund dafür ist, dass der
       Schulausschussvorsitzende der Hamburgischen Bürgerschaft, Walter Scheuerl,
       behauptet, googelnd zum Ursprung eines Bild-Motivs vorgestoßen zu sein –
       just in dem Moment, als er dessen plumpe Kontrafaktur durch Nazi-Zeichner
       Philipp Rupprecht alias Fips entdeckt hat. Mit der Behauptung, ihre
       Spinnen-Karikatur stamme aus dem Hetzblatt Der Stürmer, hat Scheuerl die
       Netz-Ini zur Nachfolgerin der Tyrannei karikiert: „Wer eine derartige
       Spinnen-Zeichnung in Kenntnis ihres widerwärtigen historischen Ursprungs
       verwendet“, so Scheuerl wörtlich, „zeigt, dass ihm jedes Mittel zur
       Umsetzung seiner politischen Ziele recht ist.“
       
       Das ist Unfug. Denn die Verwendung der Spinne als eines polemischen Emblems
       war kein origineller Einfall der Nazis, und ihr Auftauchen im Stürmer war
       weder ein Höhe- noch der Endpunkt der Motivgeschichte. Im Gegenteil: Gerade
       die Anti-Nazi-Karikatur des Zweiten Weltkriegs greift es oft auf – ohne
       dafür die Stürmer-Jahrgänge zu durchforsten. Mehrere bewahrt das
       US-Holocaust-Museum in seinem Foto-Archiv auf, düstere Zeichnungen aus
       Exilzeitschriften um 1935, aber auch noch die 1947 erschienene erste Nummer
       des in Ivrit verfassten Magazins Eden. Dessen Cover zeigt idyllische Szenen
       der Auswanderung nach Israel, die in einem ovalen Kranz rund um den
       Schriftzug angeordnet sind – das rechte untere Bildfeld aber ist dem
       Schrecken der Verfolgung vorbehalten. In ihm lauert, vor einer KZ-Anlage,
       eine Hakenkreuz-Spinne in ihrem Netz.
       
       Von 1933 bis Kriegsende trug die Spinne auch ein Gesicht: das von Hitler.
       Ihre bekannteste Version ist die von Kimon Evan Marengo alias Kem. Der 1904
       im ägyptischen Zifta geborene Zeichner war 1939 endgültig von Paris nach
       England übergesiedelt. Im Dienst des Ministry of Information zeichnete er
       Postkarten und Plakate, die als Klassiker der psychologischen Kriegsführung
       gelten.
       
       Mit das berühmteste Poster ist „One By One, His Legs Will Be Broken“ von
       1941, das auch in einer französischen und einer arabischen Fassung
       existiert: Die Hitlerspinne hockt auf einer Weltkugel mit orangenen
       Kontinenten und weißem Meer. Ihre Beine erreichen Norwegen, greifen übers
       Schwarze Meer nach Griechenland, durchqueren Frankreich bis zum Atlantik
       und berühren die Sahara. Doch britische Schiffe beschießen sie vor Afrika,
       sowjetische Panzer zermahlen sie im Osten, und von links schwärmen aus dem
       nachtblauen Himmel US-Bomberverbände heran.
       
       Seither ist das Motiv nicht verschwunden – was damit zusammenhängt, dass
       wir die Metapher des Netzes auf immer mehr Bereiche der Lebenswirklichkeit
       anwenden, von der Infrastruktur bis hin zum Terrorismus: Franz-Josef Strauß
       wurde ebenso als Spinne dargestellt wie Osama bin Laden, Icann-Präsident
       Rod Beckstrom oder auch Jacques Parizeau, Ex-Premier von Québec, und zwar,
       weil er versuchte, die private Energiewirtschaft Kanadas zu verstaatlichen.
       
       Für den Hamburger Karikaturen-Konflikt heißt das: Das Motiv ist weder zum
       Anti-Nazi-Motiv geronnen – in dem Sinne, dass jede Spinnenkarikatur einen
       Hitler-Vergleich bedeuten würde –, noch hat die NS-Propaganda es dauerhaft
       umgeprägt: Den Stürmer lesen heute nur wenige. Auch Scheuerl musste ja noch
       einmal nachgoogeln, um den vermeintlichen Ursprung im Jahre 1930 zu
       entdecken.
       
       Das Gewicht seines Vorwurfs hätte mindestens eine sporadische
       Umfeldrecherche erfordert. Die hätte gezeigt, dass die Spinne auf dem
       Terrain der satirischen Zeichnung in den 1920ern höchst prominent ist: So
       eröffnet Gus Bofa am 15. Mai 1930 in der Pariser Galerie Manuel letztmals
       seine Messe der komischen Grafik. Seit 1920 hatte sie als „Salon de
       l’Araignée“ weltweit für Furore gesorgt – zu deutsch: als „Salon der
       Spinne“.
       
       Zu den Gattungsspezifika der Karikatur gehören die Neigung zu Verdrängtem
       und eine Reduktion auf ein Repertoire „immer wiederkehrende Symbole“, wie
       Hannes Haas in seiner Studie über „Die Publizistik des Vorurteils“
       feststellt. Das Motiv der Spinne entspricht dem par excellence: Marginal
       ist es – und doch ist seine Geschichte lang. Die ist weitestgehend
       ungeschrieben, groß sind zudem die Lücken. Aber wie und durch wen die
       Spinne als polemisches Motiv Eingang in die abendländische Kultur findet,
       lässt sich bestimmen. Das ist nämlich geschehen, als Theobald den
       „Physiologus“ bearbeitet hat.
       
       Theobald war ein Geistlicher aus Norditalien. Über seine Identität wissen
       wir nur, dass die Behauptung, er sei von 1022–1035 Abt des Klosters von
       Monte Cassino gewesen, nicht stichhaltig ist. Der „Physiologus“ wiederum
       ist eine frühchristliche Naturkunde: Ihr Verfasser stellt die wichtigsten
       Tiere vor wie Ameise, Löwe und Seejungfrau, und erläutert deren
       heilsgeschichtliche Bedeutung. Theobald bringt vor 1150 das Werk in
       lateinische Verse und fügt das Kapitel „De Aranea“ ein, von der Spinne. Die
       „ist ein kleiner Wurm/der emsig viele Fäden webt“, geht es los, aber eben
       nur zu einem eitel-vergänglichen Netz, das andere Herrgottstierchen
       täuscht, die sie dann – teuflisch – tötet.
       
       Der „Physiologus theobaldi“ wird ein Best- und absoluter Longseller: Die
       letzte Auflage wird 1708 gedruckt, da ist der Ur-„Physiologus“ längst
       vergessen. Vor Charles Darwin hat kein Buch die europäische Sicht aufs Tier
       stärker geprägt. Trotzdem bleibt die Spinne selbst bei Höllenmalern ein
       rares Motiv – und ein ungewisses: Wäre das am linken Rand des rechten
       Flügels von Hieronymus Boschs Garten der Lüste-Triptychon ein
       Spinnenmonster? Einigermaßen zuverlässig greifen die Emblem-Bücher der
       frühen Neuzeit auf die Spinne zurück, wo die ersten Meister der mit dem
       Zeitungsdruck entstehenden Kunstform Karikatur sie für sich entdecken – und
       ihren politischen Nebensinn.
       
       Dass der dem Motiv von Anfang an innewohnt, lässt sich indes am besten
       durch einen weiteren Schritt zurück zu Theobalds Quellen erklären: Statt
       aus der griechisch-römischen Mythologie schöpfte er lieber aus biblischen
       Texten – und war offenbar in Berührung mit der talmudischen Tradition. Die
       weist eine sehr markante Spinnen-Allegorese auf, überliefert hat sie der
       frühmittelalterliche Kommentar zu den Sprüchen Salomonis, der Midrasch
       Mischle. Der referiert eine Deutung der Spinne, die ihr Netz laut Bibel
       „mit eigenen Händen“ in „der Könige Schlössern“ wirkt. Sie soll von Rabbi
       Jirmea ben Eleazar stammen, einem Gelehrten des 3. Jahrhunderts, der in ihr
       Edom sieht, „die böse Nation“ – also Rom. „Denn unter allem Gekreuch gibt’s
       nichts Verhassteres als die Spinne“, heißt es in Martin Bubers Übersetzung.
       Ein „Musterstück subversiver Aufklärung“ nennt Altphilologe Hubert Cancik
       diese Interpretation, die das heroische Wappentier des Imperium Romanum,
       den erhabenen Adler, durch etwas ersetzt, das als klein gilt und hässlich –
       als Gekreuch.
       
       Nicht in der Übertreibung negativer Äußerlichkeiten des Gegners liegt laut
       Kunsthistorikerin Angelika Plum „das Vermögen der Karikatur“, sondern in
       „der Sichtbarmachung dessen, was hinter der äußeren Erscheinung steckt“:
       Wenn die Spinne in die christliche Kunst als entlarvendes Emblem des
       römischen Weltreichs Eingang findet, dann hat das von ihr entworfene Bild
       von Anfang einen karikaturhaften Zug.
       
       Und tatsächlich nutzen Karikaturen die Spinne stets als Schmähbild einer –
       realen oder behaupteten – imperialistischen Übermacht: Das Musterbild des
       Kapitalisten in der entstehenden Sowjet-Propaganda des Jahres 1919 – eine
       Spinne. Der bösartige Aktienmanipulator, Eisenbahn- und Telegrafenspekulant
       Jay Gould wickelt als Spinne 1885 auch die US-Justiz ein. Die Jesuiten sind
       dem französischen Magazin L’Anticlérical im Jahr 1881 – Kreuzspinnen.
       
       Und Napoleon Bonaparte, der sich bei der Kaiserkrönung den Adler Jupiters
       zum Wappentier gewählt hat, erscheint unter Thomas Rowlandsons Feder 1808 -
       und hier haben wir es mit einer politischen Karikatur von eminenter
       Bedeutung, die vergleichsweise früh schon in wichtige Sammlungen Eingang
       gefunden hat und Generationen von Zeichnern beeinflusste - als The Corsican
       Spider In His Web. Denn unter allem Gekreuch gibt es nichts Verhassteres –
       ganz wie Rabbi Jirmea lehrt.
       
       Wirkliche Ursprünge sind selten auszumachen in der Kunst. Und das Vorleben
       eines polemischen Motivs heilt dessen missglückte Anwendung nicht.
       Unerträglich aber ist es, wenn dessen gut 900-jährige Geschichte ausradiert
       wird, gelöscht und vernichtet, zugunsten eines obskuren Nazi-Illustrators,
       dessen Propaganda-Zeichnungen zum Ursprung des Motivs verklärt werden – nur
       weil es gerade einer sachfernen Polemik mehr Durchschlagkraft zu verleihen
       scheint.
       
       Das überhöht, ja glorifiziert letztlich die Nazi-Propaganda selbst, der –
       wie auch immer versehentlich – eine völlig unangemessene Wirkmacht
       zugestanden wird: Dazu sollte sich niemand herablassen. Schon gar nicht der
       Vorsitzende des Bildungsausschusses einer Bürgerschaft.
       
       30 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
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 (DIR) Verfehlte Postkartenaktion: Kalt erwischt
       
       Die linke Hamburger Netzinitiative zitierte bei einer Postkartenaktion
       Nazi-Propaganda, ohne es zu merken. Gemerkt hat es ausgerechnet ein Promi
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