# taz.de -- Kommentar Grass' Gedicht: Der alte Mann und das Stereotyp
       
       > Günter Grass entschuldigt mit einem Gedicht sein langes Schweigen über
       > die Furcht, als Antisemit abgestempelt werden zu können. Das aber ist
       > falsch und perfide.
       
 (IMG) Bild: Er hat es – mal wieder – geschafft: Deutschland und die Welt sprechen über ihn.
       
       Es ist mehr als erfreulich, dass Lyrik in diesem Land endlich mehr als nur
       eine Nischenrolle spielen darf. Wann hat die halbe Republik schon einmal
       über ein Gedicht diskutiert?
       
       Allein es steht zu befürchten, dass dies der einzige erfreuliche Aspekt
       rund um Günter Grass’ Zeilen „Was gesagt werden muss“ bleiben wird, und das
       liegt keineswegs daran, dass sich das Gedicht nicht reimt. Denn dieses
       Gedicht spielt falsch, so falsch wie viele der Reaktionen darauf.
       
       Dabei geht es nicht darum, dass Grass die israelische Regierung für ihre
       Iranpolitik scharf kritisiert. Solche Kritik ist alltäglich und nur allzu
       berechtigt. Doch Grass nutzt seine Gedichtveröffentlichung für etwas ganz
       anderes: Er entschuldigt sein langes Schweigen mit der Furcht, als
       Antisemit abgestempelt werden zu können.
       
       Das aber ist falsch und perfide. Die auch in deutscher Sprache verfassten
       Beiträge, die den Kurs der Regierung Netanjahu für gefährlich halten, sind
       nicht zu zählen, so viele sind es. Und selbstverständlich hat es nicht das
       Geringste mit Judenhass zu tun, wenn man seine Ablehnung von Israels
       Iranpolitik öffentlich äußert.
       
       Wenn Grass aber genau das behauptet, dann produziert er ein Tabu, das nicht
       existiert. Dann erzeugt er neue Vorurteile. Und dann passt es ins Bild,
       wenn Grass über das Teheraner Regime wenige milde, über Israels Atommacht
       aber viele deutliche Worte verliert.
       
       Der Skandal besteht also nicht in Grass’ Israelkritik, sondern darin, dass
       er sich bei dieser Kritik zum Märtyreropfer von Juden stilisiert, die mit
       der Antisemitismuskeule angeblich die Wahrheit zensieren wollen. Das ist
       ein antisemitisches Stereotyp. Doch das haben weder die konservativen
       Politiker begriffen, die sich nun mit Gebrüll auf den vermeintlich linken
       Grass stürzen, noch die Linken, die Grass unterstützen, weil er als einer
       der Ihren gilt.
       
       Beide Seiten bedienen lediglich einen Reflex. Ihnen dient das Grass-Gedicht
       nur als billiger Schwung, um dem politischen Gegner einen – wahlweise
       rechten oder linken – Haken zu versetzen.
       
       Die Wahrheit ist schlimmer. Denn es ist ziemlich unwichtig, ob ein älterer
       Schriftsteller, der offenbar an einer gewissen Selbstüberschätzung leidet,
       Israel kritisiert und dabei Angst vor einem Atomkrieg äußert. Aber es ist
       verheerend, wenn ein deutscher Literaturnobelpreisträger mit
       antisemitischen Stereotypen hantiert.
       
       4 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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