# taz.de -- Paul Nolte über Piraten und Wutbürger: „Größter Umbruch seit der Aufklärung“
       
       > Der Historiker Paul Nolte glaubt nicht an die These von der
       > Politikverdrossenheit. Der Wandel weg von der Parteiendemokratie sei
       > vielmehr ein Indiz für ein gewachsenes Interesse an Politik.
       
 (IMG) Bild: Nicht mehr nur die Jugend geht auf die Straße: Protest in Stuttgart Mitte Februar.
       
       taz: Herr Nolte, Stuttgart 21, Piratenpartei, zurückgetretene
       Bundespräsidenten: Erleben wir derzeit eine Krise oder eine Vertiefung der
       Demokratie in Deutschland? 
       
       Paul Nolte: Ein großes Interesse an Politik! Man hört ja immer wieder, wir
       würden im Zeitalter der Apathie, des Desinteresses an Politik leben. Für
       eine Entpolitisierung kann ich aber weit und breit keine Anzeichen
       erkennen. Ich sehe viel eher neue Handlungs- und Artikulationsformen in der
       Demokratie.
       
       Gleichwohl beobachten wir eine wachsende Skepsis gegenüber etablierten
       Parteien und staatlichen Institutionen. Womit hängt das zusammen:
       Populismus, Mediengesellschaft, tatsächliche Missstände? 
       
       Der Wandel weg von Parteiendemokratie, repräsentativer Demokratie und
       Parlamenten ist ein langfristiger Trend. Das hat mit unseren gewachsenen
       Ansprüchen zu tun. In der Nachkriegssituation war man in der Bundesrepublik
       zufrieden, eine „Minimaldemokratie“ - wie sie etwa Joseph Schumpeter
       klassisch definierte - zu sichern. Also: Wir dürfen unsere Vertreter wählen
       und sie alle vier Jahre abwählen oder im Amt bestätigen. Heute wollen wir
       dauernd genau hinschauen. Das ist Ausdruck eines gewachsenen Anspruchs auf
       Transparenz und Mitgestaltung.
       
       Zuletzt war viel von „Wutbürgern“ die Rede, weniger vom schlechten
       Regieren. Aber die ENBW-Atomdeals der CDU in Baden-Württemberg oder die
       gigantischen Fehlprojektierungen bei Stuttgart 21 waren doch keine
       Kleinigkeiten? 
       
       Sicher nicht. Aber die Politiker, insbesondere Regierungspolitiker und
       Abgeordnete, stehen heute kräftig im Kreuzfeuer der Kritik. Insofern:
       Natürlich ist vom schlechten Regieren die Rede, tagtäglich! Auch der
       frühere Bundespräsident musste sich da einiges gefallen lassen. Und dann
       blicken wir auf die Bürger, die sich erregen und engagieren, die Schuhe
       hochhalten oder was immer. Wutbürger ist kein Schimpfwort, eher ein
       Ausdruck des Erstaunens …
       
       … mit einem irrationalen Klang und Beigeschmack. 
       
       Ja, ein bisschen und ein Stück auch zu Recht. Das Wort beinhaltet die
       Frage, was aus dieser Wut politisch wird: mit Verantwortung für die Folgen
       und in Institutionen. Protestieren ist ein Schritt. Auf den Wutbürger muss
       aber der Tubürger folgen, der etwas tut und macht.
       
       Man könnte sagen: An irgendetwas zweifelt der Bürger immer. Doch ist die
       Skepsis gegenüber der ratlosen Politik angesichts der angehäuften
       Schuldenberge nicht auch gerechtfertigt? 
       
       Entscheidungen wie in der europäischen Schuldenkrise sind nicht leicht, da
       darf man sehr wohl einmal ratlos oder zögernd sein. In Demokratien sollte
       man von Politikern mehr als selbstgewisses Reden erwarten. Eine
       komplizierte Materie wie die Schuldenkrise wird man nicht mit Mitteln der
       direkten Demokratie oder des Straßenprotests lösen können. Dafür brauchen
       wir nationale Regierungen und europäische Institutionen, die demokratisch
       legitimiert sind. Auf die derzeitige Krise muss eine Vertiefung der
       europäischen Integration folgen. Und ich bin sicher: Das kommt.
       
       Demokratie ist ein qualitativer Prozess. Was sollen Bürger von Politikern
       denken, denen ihre Spitzenämter mit Mitte 50 zu anstrengend werden und die
       öfters in die Wirtschaft wechseln? 
       
       Im Prinzip drückt sich darin ein anderes Lebensmodell aus. Politiker ist
       man nicht mehr unbedingt ein Leben lang, man hat auch noch anderes vor. Wir
       sollten ehrlich sein: entweder lebenslang Politiker oder mindestens
       lebenslange Versorgung, damit man sich danach nicht mehr die Finger in der
       Wirtschaft schmutzig macht und die Gefahr gebannt wird, dort politische
       Kontakte auszunutzen. Oder wir erwarten, wie jetzt von Christian Wulff,
       dass er wieder ein ganz normaler Bürger wird, seine Brötchen verdient statt
       lebenslang den „Ehrensold“ zu verspeisen. Dann dürften wir uns aber nicht
       beschweren, wenn er morgen bei Gazprom als Kollege von Gerhard Schröder
       oder bei Bilfinger als Kollege von Roland Koch auftaucht. Was ich aber viel
       bedenklicher finde, ist, dass viele zu früh mit der Politik als Beruf
       anfangen. Vom Praktikum über die Referentenstelle bis zum eigenen
       Wahlkreis, den man dann erst mit 75 wieder rausrückt. Davon müssen wir
       wegkommen.
       
       Demokratie hat auch eine soziale Komponente. Müsste der Liberalismus in der
       Lohngestaltung nicht eingedämmt werden: Obergrenzen zum Beispiel für
       Managergehälter festgelegt und auch die erzielten Gewinne stärker besteuert
       werden? 
       
       Ich meine, dass das größte soziale Problem der Demokratie nicht die
       anonymen Kräfte des Finanzkapitalismus oder des globalen Kapitalismus sind,
       durch die sich viele Bürger an die Wand gedrückt fühlen. Sondern es ist die
       zunehmende Ungleichheit, die wir in den westlichen Gesellschaften seit
       zwei, drei Jahrzehnten erleben. Das Auseinandergehen der Schere zwischen
       dem Lohn- und dem Kapitaleinkommen. Man muss dabei gar nicht immer auf die
       Einkommensmillionäre schauen oder auf die wenigen DAX-Vorstände. Wenn man
       die Möglichkeiten der oberen Mittelklasse, also von denen, die 100.000 oder
       200.000 Euro im Jahr verdienen, mit denen der Marginalbeschäftigten und
       Unterqualifizierten vergleicht, stößt man auf ein großes Demokratieproblem.
       Da könnte das ein oder andere Steuerprozent mehr nicht schaden. Ob wir mit
       einer Deckelung der Managerbezüge viel erreichen würden, kann ich nicht
       sagen. Nachvollziehen kann ich die Millionengehälter jedenfalls nicht.
       
       Anders als in vielen anderen europäischen Staaten hat in Deutschland
       bislang keine rechtspopulistische Kraft von den Krisen profitieren können.
       Alle neueren Kräfte in westdeutschen und jetzt deutschen Parlamenten wie
       Die Grünen, Linkspartei oder nun die Piraten stehen eher links. Womit hängt
       dies zusammen? 
       
       Das ist spannend. Deutschland ist damit in gewisser Weise ein Sonderfall in
       der westlichen Welt. Einschließlich der CDU scheint die politische
       Landschaft nach Mitte-links gerückt zu sein. Grüne und Piraten sind zwar
       Teil globaler Bewegungen, aber nirgendwo sonst sind die Grünen so
       erfolgreich. Für die Piraten zeichnet sich etwas Ähnliches ab. Die
       Erfahrung des Nationalsozialismus macht hierzulande einen Rechtspopulismus
       mit breiterer Wirkung bislang unmöglich.
       
       Es hat oft den Anschein, dass viele Politiker nach den Ergebnissen von
       Umfragen ihre Meinungen ändern. So schwenkte die CDU nach Fukushima
       plötzlich auf Antiatomkurs. Zeigt sich hier ein Mangel an Prinzipien und
       Glaubwürdigkeit, oder ist es Ausdruck gewachsener Beweglichkeit, von
       Demokratiewillen und -fähigkeit? 
       
       Es ist wohl immer beides. Man hat sich schon gewundert, mit welcher
       Geschwindigkeit die CDU diese Wende vollzog. Aber man darf auch nicht
       vergessen, dass sich die Partei unter Angela Merkel, also seit zwölf
       Jahren, in vielen gesellschaftlichen Fragen kontinuierlich modernisiert
       hat. Mir gefällt das – und doch bedauere ich manchmal, dass das Spektrum
       der politischen Meinung in einem relativ engen mittleren Bereich
       zusammenschnurrt. Grüne, SPD und CDU verschmelzen zu einer ideellen
       deutschen Gesamtpartei. Da kann man fast wieder froh sein, dass es die
       Linkspartei gibt. Anderswo, wie gerade der US-Wahlkampf zeigt, gibt es
       stärkere politische Polarisierungen, und es wird essenzieller über
       Grundfragen von Freiheit, Individuum, Solidarität gestritten. Ich bin kein
       Freund von Rick Santorum, aber selbst sein Erzkonservatismus ist Teil des
       demokratischen Spektrums.
       
       Nach Umfragen haben Liberale und Konservative seit der Bundestagswahl keine
       Mehrheit mehr. Die FDP ist in sich zusammengebrochen. Finden Sie es dennoch
       richtig, dass Angela Merkel unbeirrt die gesamte Legislatur durchregieren
       will? 
       
       Ja, absolut. Das ist repräsentative oder genauer: elektorale Demokratie.
       Sonst würden wir zur Stimmungsdemokratie, in der jede Woche nach Umfragen
       die Ämter und Mandate neu vergeben werden. Übrigens wäre auch Obama dann
       nicht mehr im Amt. So kann man keine Politik machen. Doch die
       repräsentative Demokratie ist nicht mehr so wichtig wie früher. Die
       Bedeutung des Parlaments wird in den nächsten Jahren weiter abnehmen;
       andere Formen der Demokratie werden wichtiger.
       
       Welche denn? 
       
       Etwa die direkte Demokratie. Kein Allheilmittel, aber in Abstimmungen kann
       das Volk direkt über bestimmte Dinge entscheiden und stärker einbezogen
       werden wie bei Stuttgart 21 oder in Berlin von „Pro Reli“ bis Tempelhof.
       
       Und spricht sich dann wie in der Schweiz für ein Minarettverbot aus. 
       
       Ja, auch das. Das bleibt ambivalent. Demokratie ist insgesamt diskursiver
       geworden; „deliberativer“, würde Jürgen Habermas sagen. Sie wird immer
       stärker auch durch Justiz und in Gerichtsverfahren ausgehandelt. Durch
       Klagen vor dem Verwaltungsgericht oder beim Europäischen Gerichtshof für
       Menschenrechte. Das ist, auch wenn damit ein Parlamentsbeschluss angegangen
       wird, Teil der Demokratie.
       
       Wir erleben also eine Vertiefung der Demokratie bei einer Aushöhlung des
       Parteiensystems? 
       
       Was die Demokratie betrifft, gewiss nicht einfach eine Vertiefung, aber
       sicher eine Vervielfältigung. Und im deutschen Parteiensystem keine
       Aushöhlung, eher ein tief greifender Wandel. Die Grünen reagierten auf den
       ökologischen Paradigmawechsel und jetzt die Piraten auf den technologischen
       Wandel, das Internet. Das ökologische Umdenken ist eines der größten
       Umbrüche unseres Denkens seit dem Siegeszug von Aufklärung und menschlicher
       Fortschrittsgewissheit im 18. Jahrhundert. Das Internet bezeichnet den
       tiefsten Kommunikationswandel seit der Erfindung des Buchdrucks. Es wäre
       doch erstaunlich, wenn sich das nicht auch in politischen Bewegungen
       niederschlägt.
       
       6 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
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