# taz.de -- Sexuelle Gewalt gegen Kinder: Den Kopf immer tiefer im Sand
       
       > Was hat die Gesellschaft begriffen nach zwei Jahren Aufdeckung von
       > Missbrauchsfällen? Nichts. Eher im Gegenteil, zumindest wenn man die
       > Reformpädagogik betrachtet.
       
 (IMG) Bild: „Die Schule hat den einzelnen Schüler stets geachtet, sie ist ein gemeinsamer Lebens- und Lernraum“.
       
       Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) nennt es gerne eine „neue Kultur
       des Hinschauens“. Das bedeutet, kurz gesagt: Lehrer, Eltern, Pfarrer, die
       Polizei, die Öffentlichkeit, alle müssen viel sensibler auf
       Missbrauchsverdachte achten und schnell reagieren – zum Schutz der Opfer.
       Das muss die Lehre sein aus der Aufdeckung schwerster und umfangreicher
       Missbrauchsfälle in Kollegs, Klöstern und der Odenwaldschule. Denkt man.
       
       Und dann beschäftigt der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche,
       Bischof Stephan Ackermann, gewissermaßen der Chef des Kirchen-FBI, in
       seinem Bistum weiterhin „tatsächlich Priester, die Täter sind“ (Ackermann);
       der Spiegel zählt sieben Päderastenpfarrer im Bistum Trier. Und dann
       missinterpretiert eine Polizeidienststelle Selbst- und Fremdanzeigen eines
       Jungpädophilen, dessen Lebenslauf sich wie die Chronik der angekündigten
       Entsicherung einer Handgranate liest. Und dann liegt Lena tot im Parkhaus.
       
       Gesellschaft ist ein komplexes Gebilde. Geprägt von akuten sozialen
       Determinanten, schillernden Meinungsumschwüngen und zähen,
       historisch-kulturell geprägten Haltungen. Bis jemand nach dem Satz „Das
       weiß doch jeder, dass der was mit kleinen Jungs hat“ nicht mehr zum
       Schmunzeln, sondern zur Polizei abdreht, werden noch viele
       Verjährungsfristen abgelaufen sein.
       
       Nimmt man die Reformpädagogik und fragt: „Was hat dieser brandgefährliche
       Teil der Pädagogik aus dem Doppeljahr des Missbrauchs gelernt?“, dann kommt
       man zu dem Schluss: nichts. Eher im Gegenteil. Stündlich vernebelt mehr
       Weihrauch die kritische Sicht auf die Nähe zum Kind (alle Reformpädagogen),
       auf die Zärtlichkeit als scheuen Gott der Pädagogik (Hartmut von Hentig).
       Um die Reformpädagogik zu verstehen, bedurfte es beinahe kriminalistischer
       Vorgehensweisen. Denn die Zunft schottet sich ab.
       
       Jetzt aber haben Reformpädagogen ein Buch herausgebracht, das den Tausch
       von Ermittlungen gegen Lektüre ermöglicht. „Reformpädagogik in der
       Schulpraxis“ zeigt von Anfang an, wo es langgeht. „Es mag auch LeserInnen
       geben, die“ – so heißt es im Vorwort – „einen Zusammenhang zwischen der
       Reformpädagogik und dem Missbrauch“ sehen. „Die Herausgeber sehen keinen
       solchen Zusammenhang.“ Ob das ein guter Auftakt ist? Das
       Bundesbildungsministerium hat das Buch finanziell gefördert. Bedeutet das,
       die Bildungsministerin möchte eine neue Kultur des Hinsehens – und bezahlt
       die alte Kultur des Wegsehens?
       
       ## Die Erotisierung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses
       
       Das Buch ist dennoch nicht uninteressant. Dafür sind mit Joachim Bauer,
       Heinz-Elmar Tenorth oder Micha Brumlik zu viele exzellente Autoren am Werk.
       Und mit Jürgen Oelkers darf auch ein scharfer Kritiker der Reformpädagogik
       das Wort ergreifen, einer. Oelkers packt die versponnene Lehre quasi bei
       den Eiern: „Warum konnte ein Topos wie der pädagogische Eros überhaupt so
       wirkmächtig werden?“, fragt er – und macht deutlich, dass die Erotisierung
       des Lehrer-Schüler-Verhältnisses ein Verbrechen ist. Das ist der schwerste
       Schlag gegen eine Pädagogik: dass man zeigen kann, wie Erotik und
       asymmetrische Machtverhältnisse an ihrer Wiege stehen – und sexueller
       Gewalt konzeptionell Tür und Tor öffnen.
       
       Mit diesem bestens dokumentierbaren Vorwurf gehen die anderen 35 (sic!)
       Autoren freilich nicht um. Sie bauen, von Bauer, Tenorth und Esser
       abgesehen, eine Brandmauer um die Reformpädagogik. Indem sie die Vorwürfe
       empört zurückweisen; indem sie das Thema in den ersten Absatz ihres
       Aufsatzes schreiben – und nicht weiter darauf eingehen. Oder indem sie
       einfach ihre alten reformpädagogischen Heldengeschichten drehorgeln – als
       seien seit der Schulgemeinde Wickersdorf nicht Hunderte Kinder und
       Jugendliche an reformpädagogischen Schulen unter die Räder gekommen.
       
       Christine Biermann etwa schreibt über das Präventionskonzept der
       Laborschule Bielefeld, also jener Schule, die neben der Odenwaldschule die
       wichtigste deutsche Reformschule ist. Eine konkrete und ernsthafte
       Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt findet aber nicht statt. Biermann
       bekräftigt, dass die Schule den einzelnen Schüler stets geachtet habe, dass
       sie ein gemeinsamer Lebens- und Lernraum sei usw. usf. Sie zählt also all
       jene reformpädagogischen Elemente auf, die es auch im Odenwald gegeben hat
       – die aber den Super-GAU jahrelangen systematischen Missbrauchs nicht
       hatten verhindern können. Biermann denkt nur gar nicht daran, das zu
       problematisieren, sie schreibt einfach, diese Prinzipien werden „in der
       Laborschule weiter gelebt, diskutiert, für wichtig erachtet und deshalb
       gestaltet“. Und alles ist gut?
       
       ## Ein Streichholzmäuerchen gegen Päderasten
       
       Beinahe tragisch ist der Text von Wolfgang Edelstein zu nennen. Der
       Ex-Max-Planck-Direktor ist der Architekt der demokratischen Struktur der
       Odenwaldschule. In seinem Aufsatz referiert er, wie wichtig demokratische
       Schule ist, und er kann bis ins Detail aufzeigen, warum es sinnvoll ist und
       wie das geht. Allein, auch Edelstein gibt nicht den Hauch einer Antwort auf
       die vielleicht quälendsten Fragen für Odenwaldschule und Reformpädagogik:
       Wie konnte es sein, dass ausgerechnet die demokratische Musteranstalt
       jahrelang die öffentliche Entdeckung des Missbrauch verhinderte? Wieso die
       angeblich so starke institutionelle Demokratie der Schule wie ein
       Streichholzmäuerchen vor den Päderasten zerbarst?
       
       Edelstein vermag im Gespräch die präzisesten Analysen zu liefern, wie der
       Haupttäter Gerold Becker als Schulleiter die demokratischen Gremien der
       Schule entkernen und die Zivilcourage durch seinen Charme betäuben konnte.
       Aber auf dem Papier sagt Edelstein nichts dazu. Kein Wort. Nirgends.
       
       So bleibt am Ende ein übler Geschmack. Wie kann es sein, dass Oelkers die
       prägende Rolle des fanatischen Päderasten Gustav Wyneken für Ideologie und
       Praxis reformpädagogischer Schulen peinlich genau herausarbeitet – und
       sämtliche anderen Autoren, die Wyneken nennen, schlicht unterschlagen, dass
       er ein verurteilter und unbelehrbarer Pädokrimineller war? Weil
       Beschönigung und Lüge Meister aus der Reformpädagogik sind?
       
       Wenn die Mikrofone aus sind, spricht die Zunft ja längst ganz andere Themen
       an. Dass es zum Beispiel wichtig sei, nach dem überlangen Zuhören der Opfer
       zu fragen: „Wie wird der Pädophile eigentlich damit fertig, dass er eine
       sexuelle Orientierung hat, die nicht lebbar ist?“ So unkt es aus dem
       Zentralkomitee der Reformpädagogik, das es selbstverständlich nicht gibt
       und auch keine offizielle Nomenklatur ist, sondern stets ein autonomes
       Kommando wie bei al-Qaida. Reformpädagogik, das lehrt der Vergleich, ist
       eine wirkmächtige, beinahe betäubende Dachidee, aber auch ein amorphes und
       ungeordnetes Puzzle, in dem die Päderastie als ursprünglicher Gedanke und
       Aktion bestens gedieh.
       
       10 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Füller
       
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