# taz.de -- Hamburger Journalistin über Jüdinnen in Palästina: "Sie wurden verspottet"
       
       > Die Journalistin Andrea von Treuenfeld hat in Israel 16 Frauen getroffen,
       > die nicht sehr freundlich empfangen worden waren. Die über 80-Jährigen
       > waren froh, noch einmal davon erzählen zu können.
       
 (IMG) Bild: "Ich hatte das Gefühl, ich müsste diese Geschichten festhalten": Andrea von Treuenfeld.
       
       taz: Frau von Treuenfeld, was sind „Jeckes“? 
       
       Andrea von Treuenfeld: Als „Jeckes“ bezeichnet man die 50.000 bis 60.000
       assimilierten deutschen Juden, die in den 1930er und 1940er Jahren nach
       Palästina einwanderten. „Woher das Wort „Jecke“ stammt, kann man heute
       nicht mehr mit Sicherheit sagen.
       
       Was bedeutet der Begriff genau? 
       
       Eventuell leitet er sich ab von Jacke oder Jackett und spielt darauf an,
       dass diese Einwanderer selbst bei schweren körperlichen Arbeiten im heißen
       Wüstenklima ihre Anzüge trugen. Einer anderen Theorie zufolge ist es eine
       Zusammenfassung dreier hebräischer Worte, die etwa „begriffsstutziger Jude“
       bedeutet.
       
       Warum haben Sie ein Buch über die Jeckes geschrieben? 
       
       Das hat biografische Gründe. Ende der 70er Jahre bin ich erstmals nach
       Israel gereist. Damals habe ich in einem Kibbuz in der Nähe von Haifa
       gearbeitet, in dem viele deutsche Holocaust-Überlebende lebten. Bei der
       Arbeit in der Küche oder auf dem Feld habe ich vorsichtig versucht, mit
       ihnen ins Gespräch zu kommen. Es war sehr spannend, wenn sie von ihrem
       Leben in dieser landwirtschaftlichen Siedlung und vom Aufbau des Landes
       erzählten. Über ihre persönliche Vergangenheit sprachen sie allerdings nie.
       
       Haben Sie gefragt? 
       
       Das wagte ich nicht. Ich fand, dass ich danach als Deutsche ein paar
       Jahrzehnte nach Kriegsende nicht fragen konnte. Ich war ohnehin überrascht,
       dass sie sich mit mir unterhielten. Aber selbst wenn sie den Arm mit ihrer
       Auschwitz-Tätowierung zeigten, haben sie immer gesagt: Du hast damit nichts
       zu tun, du bist eine andere Generation.
       
       Und dann? 
       
       Dann bin ich, weil ich fasziniert war von diesem Land, immer wieder nach
       Israel gefahren und dachte, ich will mehr darüber wissen: Wie war das, aus
       dieser behüteten, gesettelten Umgebung in Deutschland aufzubrechen in ein
       Nichts? Ich hatte immer das Gefühl, ich muss das festhalten – und ich muss
       diese Fragen stellen, solange die Zeugen noch leben. Das war auch der
       Grund, warum ich ein Buch geschrieben habe. Denn es nützt ja nichts, wenn
       nur ich diese Dinge weiß.
       
       Warum wollten Sie nur Frauen interviewen? 
       
       Zum einen, weil sie in der ohnehin sehr spärlichen „Jeckes“-Literatur kaum
       vorkommen. Andererseits, weil sich gerade die Frauen ganz extrem umstellen
       mussten: Das Leben der jungen Mädchen veränderte sich damals viel stärker
       als das der Jungen, die in Palästina meist zur Schule gehen konnten. Aber
       finanzieren mussten das deren Schwestern: Für die Mädchen war mit der
       Ankunft in puncto Ausbildung Schluss. Sie mussten als Putzhilfe oder
       Verkäuferin arbeiten – auch, um ihre Eltern zu finanzieren, die deprimiert
       zuhause saßen, weil sie ihre Berufe nicht mehr ausüben konnten.
       
       Warum nicht? 
       
       Einerseits, weil kaum Akademiker gebraucht wurden, sondern Menschen mit
       landwirtschaftlicher Erfahrung. Andererseits, weil zum Beispiel das
       Rechtssystem völlig anders war und ein Anwalt nicht einfach weiter arbeiten
       konnte. Und schließlich, weil es ihnen schwer fiel, Hebräisch zu lernen.
       
       Hofften Sie auch, dass Frauen offener sprechen würden? 
       
       Ja. Frauen haben oft einen differenzierteren Blick als Männer. Sie geben
       auch mal zu, dass sie gelitten haben, als erst die Söhne, später die Enkel
       zum Militär gingen, kämpften, vielleicht fielen. Meine Entscheidung, Frauen
       zu befragen, hatte allerdings keine feministischen Gründe. Ich dachte nur:
       Diese Gruppe muss nochmal ans Licht geholt werden, bevor sie nicht mehr da
       ist.
       
       Wie haben Sie die Frauen aufgespürt? 
       
       Ich habe im Laufe meiner Recherchen bemerkt, dass es in Israel
       „Landsmannschaften“ der Ehemaligen gibt: der Kölner, Frankfurter und so
       weiter. Ihrem Dachverband stand eine Frau vor, die ich um ein Interview
       bat. Sie war sofort einverstanden. Ein paar Tage später lud sie mich zu
       einem Brunch mit zehn, zwölf weiteren älteren Damen. Sie waren zwischen 85
       und 90 und trugen Perlenkette, Hemdbluse, hatten kein graues Haar. Man
       hätte sie sich in jedem deutschen Plüsch-Café vorstellen können.
       
       Konnten sie noch deutsch? 
       
       Ja. Während des gesamten Brunches fiel kein einziges hebräisches Wort.
       Dabei waren diese Menschen seit 70 Jahren im Land. Danach bin ich
       weitergereicht worden, wobei mir wichtig war, Frauen aus verschiedenen
       Städten und mit möglichst verschiedenen Lebenswegen zu fragen.
       
       Mussten Sie die Frauen überreden, mit Ihnen zu sprechen? 
       
       Nein. Obwohl sie mich nicht kannten, haben alle sofort sagt: Ja, klar, wann
       wollen Sie kommen? Und alle haben mich zuhause empfangen, rührend bekocht
       oder trotz Gehbehinderung Kuchen besorgt.
       
       Wussten die Frauen damals, was sie in Palästina erwartet? 
       
       Den wenigsten war klar, dass sie da ganz konkret ein Land urbar machen
       mussten. Bei Kindern und Jugendlichen war es anders. Da gingen etliche in
       landwirtschaftliche Vorbereitungslager, wo sie lernten, eine Ziege zu
       melken und ein Feld zu bestellen. Aber die Älteren hatten keinerlei
       Vorbereitung.
       
       War die Ankunft in Palästina ein Schock für sie? 
       
       Ja. In dieses Wüstenland zu kommen und nichts vorzufinden war ein großer
       Schock.
       
       Wie wurden sie empfangen? 
       
       Sie stießen auf Ablehnung und wurden verspottet.
       
       Warum? 
       
       Weil sie wegen ihres Habitus auf die ansässige Bevölkerung überheblich
       wirkten. Außerdem fehlte diesen Akademikern das Zupackende; sie hatten
       keine landwirtschaftlichen Kenntnisse, kein handwerkliches Geschick. Sie
       waren also keine echte Hilfe in einem Land, in dem mühsam Sümpfe trocken-
       und Felder angelegt wurden. Dass sie den Staat Israel in puncto Bildung,
       Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft entscheidend weiterbrachten und dass
       deutsche Profs die Uni Jerusalem mit aufbauten, wurde erst viel später
       anerkannt.
       
       Außerdem sprachen die Jeckes deutsch. 
       
       Ja. Die verhasste Sprache der nationalsozialistischen Mörder. Viele wagten
       deshalb nicht, auf der Straße Deutsch zu sprechen, damit sie nicht
       angepöbelt wurden.
       
       Waren die Frauen erleichtert, Ihnen diese Dinge zu erzählen? 
       
       Mehr als das. Fast alle haben sich bedankt bei mir, zum Teil mit Tränen in
       den Augen. Das hat mich tief berührt und ich habe gesagt, ich muss mich
       doch bedanken. Dann haben die Frauen geantwortet: Nein, denn ich habe das
       noch nie erzählt. Auch nicht meinem Mann oder meinen Kindern. Ich bin so
       froh, das ich es nochmal ausgesprochen habe.
       
       Warum haben die Frauen so lange geschwiegen? 
       
       Einerseits, weil damals alle Einwanderer ähnlich Schreckliches erlebt
       hatten; da gab es nicht viel auszutauschen. Außerdem musste das Land
       aufgebaut werden. Da blieb nicht viel Zeit, über die Vergangenheit zu
       sprechen. Zudem gab es immer den stummen oder auch ausgesprochenen Vorwurf,
       sie und ihre Familien seien wie die Lämmer zur Schlachtbank gegangen.
       
       Wann änderte sich das? 
       
       Mit dem Eichmann-Prozess 1961. Der sei ein Segen für das Land gewesen,
       haben die Frauen gesagt. Als dieser Nazi-Scherge verhört wurde, der
       bedauerte, dass nicht noch mehr Juden ermordet worden waren – und als es
       Holocaust-Überlebende aus ganz Europa gab, die Zeugnis ablegten: Da wurde
       zum ersten Mal klar, dass sie eben nicht wie die Lämmer ins Gas gegangen
       waren, sondern keine Wahl gehabt hatten.
       
       Gab es auch psychologische Gründe für das Schweigen? 
       
       Die Holocaust-Erfahrungen waren so grausam, dass sie sie verkapselt haben.
       Denn sie wussten, es würde sie überfluten, wenn sie es hervorholten. Bei
       einer der Frauen ist mir im Interview ein „Oh, wie furchtbar“
       herausgerutscht. Da hat sie mich giftig angeguckt und gesagt: „Sag nicht
       furchtbar. Wenn du das sagst, kann ich nicht weiterreden.“
       
       Haben manche geweint? 
       
       Ja. Und ich habe mitgeweint. Es ergab sich so, und es war richtig.
       
       Empfanden sich die Frauen eigentlich noch als Deutsche? 
       
       Nein. Alle würden auf diese Frage klar antworten: Ich bin Israelin mit
       deutschen Wurzeln. Oder, wie andere es formuliert haben: Dieses Land hat
       mich mich gerettet, ich bin ihm dankbar, und ich bin Israelin.
       
       22 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
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