# taz.de -- Debatte LiquidFeedback: Die flüssige Demokratie
       
       > LiquidFeedback könnte für die Demokratie so wichtig sein, wie die
       > Erfindung der Druckerpresse. Doch bei einer Positionierung zu
       > Rechtsextremismus hilft die Technik nicht.
       
 (IMG) Bild: Manchmal stimmen die Piraten auch ganz klassisch ab.
       
       Als Lewis Carroll 1884 das „Delegated Voting“ vorschlug, hatte Alexander
       Graham Bell gerade erst das Telefon erfunden. Der Autor von „Alice im
       Wunderland“ hatte für ein Wahlsystem plädiert, bei dem die eigene Stimme
       nicht nur an eine Person delegiert werden kann, sondern diese sie auch
       weiterreichen darf: Delegation über mehrere Stufen.
       
       Bis die Idee des transitiven Wählens tatsächlich und mit jederzeit
       widerrufbarer Delegation umgesetzt wurde, mussten über 100 Jahre und eine
       digitale Revolution ins Land gehen. Erst mit Hilfe moderner Technik ist es
       möglich geworden, Demokratie ständig stattfinden zu lassen.
       
       Die Piratenpartei setzt dafür seit 2009 „LiquidFeedback“ ein, ein System
       zur innerparteilichen Meinungs- und Willensbildung. Dort kann jedes
       Mitglied online Vorschläge einbringen, diskutieren und abstimmen. Das sorgt
       für niedrigschwellige Teilhabe und verabschiedet die Präsenzkultur
       etablierter Parteien, die Menschen mit Zeit und Geld privilegiert. In
       LiquidFeedback können sich alle jederzeit beteiligen, müssen es aber nicht:
       Stimmen können für einzelne Themen oder Themenbereiche delegiert, die
       Delegationen jederzeit widerrufen werden.
       
       Trotz der Nutzung durch die Piratenpartei und verschiedene NGOs steht die
       „flüssige Demokratie“ in Deutschland noch ganz am Anfang. Dabei könnten
       Systeme wie LiquidFeedback für die Politik des 20. Jahrhunderts das sein,
       was die Druckerpresse für die Politik des 16. und 17. Jahrhunderts war.
       
       Durch die neue Technik konnten Presseerzeugnisse erstmals in großem Stil
       verbreitet werden. Eine neue bürgerliche Gesellschaft entstand, die in
       Kaffeehäusern über Politik diskutierte und Kritik und Vorschläge in der
       neuen Presse veröffentlichte. Das Verständnis von Repräsentation wandelte
       sich: Der Herrscher verkörperte nicht mehr Gott vor dem Volk, sondern
       sollte das Volk selbst repräsentieren. Seine Handlungen galten erst dann
       als legitim, wenn sie die Zustimmung der neuen Öffentlichkeit hatten.
       
       ## Ein neuer Strukturwandel
       
       Habermas hat diese Veränderung in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“
       herausgearbeitet und behauptet dort: Mit dem Aufkommen moderner
       Massenmedien und politischer Öffentlichkeitsarbeit sei das räsonierende zum
       konsumierenden Publikum verkommen. Diese Analyse ist umstritten, und
       Habermas hat sie später relativiert.
       
       Spätestens aber seit sich im Internet eine neue politische Öffentlichkeit
       formiert, trifft sie nicht mehr zu. Dort sind fast alle Konsument und
       Produzent zugleich, eine politische Debatte findet laufend statt, von
       PolitikerInnen wird erwartet, kontinuierlich Rede und Antwort zu stehen.
       Das Netz hat einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit bewirkt.
       
       Die Piratenpartei trägt dazu bei, indem sie mit LiquidFeedback die
       Kaffeehäuser digitalisiert hat. Das eröffnet die Chance auf einen zweiten
       Wandel unseres Repräsentationverständnisses. Einer Generation, die alles
       jederzeit kommentieren, Einfluss nehmen und selbst tätig werden kann,
       genügt es nicht, alle vier Jahre ein undifferenziertes und nicht
       revidierbares Kreuzchen zu machen.
       
       Menschen werden direkt und selbst entscheiden wollen, wenn sie sich
       kompetent fühlen, und andernfalls präzise bestimmen, wer sie in welcher
       Debatte repräsentiert. Damit kommen wir der eigentlichen Idee von
       Demokratie immer näher. Die Grenze zwischen BürgerInnen und PolitikerInnen
       verschwimmt.
       
       ## Neutral – auch gegenüber Rechtsextremen
       
       In der aktuellen Debatte um Parteimitglieder mit rechtsradikalem
       Gedankengut können wir uns daher allerdings auch nicht darauf zurückziehen,
       dass diese keine Ämter oder Mandate inne- und allein deshalb keinerlei
       Einfluss hätten. Zudem verhält sich das System den Inhalten gegenüber
       neutral. Eine klare politische Positionierung kann die Technik den Piraten
       also nicht abnehmen.
       
       Vorschläge müssen allerdings ein Quorum der Mindestunterstützung durch
       andere Mitglieder erreichen, um überhaupt diskutiert werden zu können –
       diese Hürde konnte noch nie ein in dieser Hinsicht fragwürdiger Vorschlag
       überwinden. Stattdessen ermöglichte es das System der Parteibasis, sich
       schnell in der Debatte zu positionieren: Eine dort vorgeschlagene
       „Erklärung“, die „Rassismus und die Verharmlosung der historischen und
       aktuellen faschistischen Gewalt für unvereinbar mit einer Mitgliedschaft“
       erklärt, fand sofort breite Unterstützung.
       
       Dass die Grenze zwischen PolitikerInnen und BürgerInnen verschwimmt,
       befeuert auch die hitzige Diskussion um die Frage, ob Parteimitglieder im
       System für alle anderen identifizierbar sein sollen. Als die Piraten in das
       Berliner Abgeordnetenhaus einzogen, verpflichteten sich einige der neuen
       Abgeordneten, sich künftig nach LiquidFeedback zu richten.
       
       Ein dort positiv abgestimmter Vorschlag zum EU-Datenschutz schaffte es bis
       in den Bundesrat. So gewinnen die digitalen Abstimmungen massiv an
       Bedeutung. Damit ihre Ergebnisse belastbar sind, müssen sie nachvollziehbar
       zustande kommen.
       
       ## Das Verfahren ist nicht überprüfbar
       
       Doch während alle wissen, was in einer Wahlurne geschieht (nämlich nichts),
       garantieren für die Korrektheit der komplexen Prozesse in LiquidFeedback
       derzeit nur die Systemadministratoren. Für das normale Parteimitglied ist
       ein Abstimmungsergebnis im Moment nicht überprüfbar. Dafür müssten die
       Mitglieder identifizierbar sein. Die derzeitigen Pseudonyme leisten das
       nicht.
       
       Ein entsprechender Vorschlag erhielt auf dem Berliner Parteitag zwar eine
       einfache, nicht aber die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Zu groß sind
       noch Datenschutzbedenken und die Angst, dass vor allem Mitglieder
       marginalisierter Gruppen ohne den Schutz der Anonymität nicht mehr wirklich
       frei abstimmen.
       
       Wenn wir den Weg der Identifizierbarkeit gehen, müssen wir dabei sensibel
       für Machtverhältnisse und soziale Auswirkungen sein. Und solange ein Graben
       die „Digital Natives“ von denen trennt, die technikferner sozialisiert
       wurden, können auch nicht alle gleichermaßen leicht an der digital
       vermittelten Demokratie teilhaben. Das wird zu bedenken sein, wenn wir für
       Alice ein Demokratiewunderland schaffen wollen.
       
       24 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lena Rohrbach
       
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       In Friesland wird „Liquid Feedback“ eingeführt und auch die CDU in NRW hat
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 (DIR) Entscheidungsstrukturen der Piraten: Wie "flüssige Demokratie" funktioniert
       
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       Die Piratenpartei hat die Einführung ihrer Software zur internen
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       bis zwei Wochen" verschoben.