# taz.de -- Kriminalitätsstatistiken: Nutzlose und irreführende Zahlen
       
       > Die Erhebungen über die Entwicklung von Straftaten in Deutschland sind
       > nur Schein. Denn tatsächlich sammelt jede Dienststelle die Daten nach
       > anderen Kriterien.
       
 (IMG) Bild: Autodiebstähle sind zwischen 1999 und 2009 um 57 Prozent zurückgegangen, während sie in der Einschätzung der Bevölkerung zeitgleich um 34 Prozent gestiegen sind.
       
       Regelmäßig im Frühjahr lädt das Bundesinnenministerium zu einer
       Pressekonferenz, um die aktuelle Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS)
       vorzustellen. Je nach politischer Couleur und Eigeninteressen werden dabei
       die vom Bundeskriminalamt (BKA) zusammengestellten Zahlen polizeilicher
       Tätigkeitsdaten ausgeschlachtet.
       
       Mitte Mai war es wieder so weit, und prompt machten Schlagzeilen wie
       „Deutschland ist ein Paradies für Einbrecher“, „Rekord an politisch
       motivierten Straftaten“ oder „Mehr Fälle von Kindesmissbrauch als im
       Vorjahr“ die Runde. Für Politiker immer der Moment zu öffentlichen
       Warnrufen und neuen Gesetzesinitiativen im Sicherheitsbereich.
       
       Für Polizeigewerkschaften stets Anlass, wieder einmal gegen Sparmaßnahmen
       der Regierung zu wettern. Doch was sagen die PKS-Zahlen wirklich aus? Für
       den Kriminologieprofessor Wolfgang Heinz von der Universität Konstanz nicht
       allzu viel. „Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir nichts
       wissen“, erklärte Heinz kürzlich auf einer Tagung der
       Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin vor Politikern und Kriminalisten.
       
       „Medienkriminalität“ nennt er das, was auf der Grundlage polizeilicher
       Statistiken in regelmäßigem Turnus veröffentlicht wird. In der Bevölkerung
       werde die Kriminalitätsentwicklung, insbesondere deren schwere Formen,
       hierdurch dramatisch überschätzt.
       
       ## Deutsche Kriminologie
       
       Seit 1981 ist Wolfgang Heinz in Konstanz als Professor für Kriminologie und
       Strafrecht tätig. Wörtlich übersetzt bedeutet Kriminologie die Lehre vom
       Verbrechen. Anders als in angloamerikanischen und skandinavischen Ländern,
       wo sie sich überwiegend sozialwissenschaftlich orientiert, ist die
       universitäre Kriminologie in Deutschland weitgehend den
       rechtswissenschaftlichen Fakultäten zugeordnet.
       
       Für den „Blindflug“ in der Kriminalpolitik haben Heinz und weitere
       renommierte Kollegen gleich mehrere Faktoren ausgemacht. So werden bei der
       Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung gleich mehrere Statistiken mit
       unterschiedlichen Kriterien und an verschiedenen Stellen geführt.
       
       Während das BKA die bundesweiten polizeilichen Ermittlungen in der PKS
       zusammenführt, werden die Entscheidungen der Staatsanwaltschaften über
       deren weiteren Verlauf vom Statistischen Bundesamt in einer
       Staatsanwaltschaftsstatistik erfasst.
       
       Was davon schließlich an die Gerichte weitergegeben wird, erscheint in
       einer Justizgeschäftsstatistik der Strafgerichte. Die wiederum sagt nichts
       über die Prozessergebnisse aus, dafür gibt es extra eine
       Strafverfolgungsstatistik. Und natürlich gibt es auch für den späteren
       Strafvollzug drei eigene Statistiken.
       
       ## Nur bedingt kompatibel
       
       Sie alle werden ebenfalls vom Statistischen Bundesamt geführt; aber
       letztlich kompatibel sind all diese Statistiken – wenn überhaupt – nur
       bedingt. Dies hat Gründe: So fehlen in der PKS zum Beispiel die
       Verkehrsdelikte, eine bundesweite Strafverfolgungsstatistik gibt es erst
       seit 2007.
       
       In gleich vier der neuen Bundesländer wird keine Maßregelvollzugsstatistik
       geführt und in Schleswig-Holstein wurde zwischen 1998 und 2003 kurzerhand
       die Staatsanwaltschaftsstatistik ausgesetzt, da es hierfür keine
       Rechtsgrundlage, sondern lediglich eine Verwaltungsvorschrift gibt.
       
       Soweit bei dem Wirrwarr eine langfristige Aussage zur
       Kriminalitätsentwicklung in Deutschland überhaupt möglich ist, so sieht das
       Ergebnis nach Heinz Untersuchungen dann folgendermaßen aus:
       
       Zunächst wird der mutmaßliche Anstieg der registrierten Kriminalität (laut
       aktueller PKS im Jahre 2011 um 1 Prozent auf 5,99 Millionen Straftaten)
       durch die folgenden staatsanwaltschaftlichen Verfahren wieder
       entkriminalisiert – zum Beispiel durch Verfahrenseinstellung oder
       Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit.
       
       ## Alarmismus der Sicherheitspolitiker
       
       Welche Tat- und Tätergruppen dies jedoch betrifft oder was eventuell auf
       einer Änderung der Beurteilungsmaßstäbe beruht, lässt sich dabei nicht
       feststellen. So wurden etwa 2010 von rund 3,3 Millionen polizeilich
       aufgeklärten Verbrechenstatbeständen nur in 60.200 Fällen die Täter auch zu
       Gefängnisstrafen verurteilt, während sie in den übrigen mit anderen
       Sanktionen belegt wurden. Worauf diese Diskrepanz beruht, vermag Professor
       Heinz nicht zu sagen.
       
       Während durch den alljährlichen Alarmismus der Sicherheitspolitiker so die
       öffentliche Kriminalitätswahrnehmung mit fast 30 Prozent deutlich über der
       tatsächlichen Entwicklung liegt, geht sie in Wahrheit zurück. So ist etwa
       der stets publikumswirksame Autodiebstahl („Kaum gestohlen, schon in
       Polen“) in den Jahren 1999 bis 2009 um 57 Prozent zurückgegangen, während
       er in der Einschätzung der Bevölkerung im gleichen Zeitraum 34 Prozent
       gestiegen ist.
       
       Noch deutlicher beim Wohnungseinbruch (Wahrnehmung plus 43 Prozent,
       Rückgang minus 24 Prozent) oder bei Mord (Wahrnehmung plus 19 Prozent,
       Rückgang minus 38 Prozent). In etwa ähnlich verhält es sich bei
       Betrugsstraftaten, „Handtaschenraub oder Jugendstraftaten. Nirgendwo
       allerdings liegen Wahrnehmung und Wahrheit soweit auseinander wie bei den
       immer wieder erneut medienträchtigen Sexualmorden.
       
       Während hier die Wahrnehmung um 56 Prozent gestiegen ist, liegt der
       tatsächliche Rückgang ebenfalls bei 56 Prozent. Besonders eindrucksvoll ist
       auch sein Forschungsergebnis zur Wirtschaftskriminalität, die im Jahr 2010
       einen registrierten Gesamtschaden von 8,4 Milliarden Euro verursachte.
       
       ## „Arbeitsnachweis ohne inhaltliche Bewertung“
       
       Für 55 Prozent dieser gewaltigen Summe allerdings sind lediglich 3 Prozent
       der Täter verantwortlich. Es ist also nicht der Ladendieb, der hier die
       großen Schäden verursacht. Die weitgehende Nutzlosigkeit und Irreführung
       der PKS hat unterdessen offenbar auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter
       (BDK) erkannt.
       
       „Für uns Kriminalisten ist sie lediglich eine Strichliste, ein
       Arbeitsnachweis ohne inhaltliche Bewertung“, sagt etwa André Schulz, der
       BDK-Bundesvorsitzende, und bezeichnet sie als „jährliches Schaulaufen“ der
       Innenminister. Damit nicht genug, liegt das deutsche kriminalistische
       Erfassungssystem laut Heinz im Vergleich mit anderen EU-Staaten ohnehin
       weit hinter dem Stand zurück, den einige benachbarte Staaten aufweisen.
       
       Unterstützung erhält er bei dieser Einschätzung von Professor Jörg-Martin
       Jehle von der Universität Göttingen. Zudem, fügt er an, seien die
       derzeitigen europäischen Statistiken insgesamt nicht vergleichbar, da
       Straftaten in den Rechtssystemen der verschiedenen Länder unterschiedlich
       gewertet würden.
       
       Gegenwärtig arbeitet Jehle in einer europäischen Kommission mit, die diesem
       Mangel auf längere Sicht abhelfen soll. Ein Mammutunternehmen. Beide
       fordern, ebenso wie andere Kollegen, denn auch Optimierungen für das
       deutsche System. Notwendig seien neben weiteren Erfassungsdateien etwa eine
       bundesgesetzliche Grundlage für die gesamten Strafrechtsstatistiken, damit
       diese in den Länderhaushalten abgesichert werden und flächendeckend
       verfügbar werden.
       
       ## Periodischer Sicherheitsbericht
       
       Ebenso müsse eine fortlaufende Berichterstattung zur sogenannten inneren
       Sicherheit durch ein unabhängiges Wissenschaftlergremium geschaffen werden,
       deren Ergebnisse in einem periodischen Sicherheitsbericht festgehalten
       werden müssten. „80 Prozent aller notwendigen Daten sind bereits in
       diversen System vorhanden“, meint Professor Heinz.
       
       Neben allen mit einer solchen Forderung zusammenhängenden und noch zu
       klärenden Datenschutzproblemen wäre dies ein Albtraum für die
       Sicherheits-politiker in Bund und Ländern: Dem „jährlichen Schaulaufen“
       drohte ein Ende.
       
       1 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Otto Diederichs
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kriminalität
       
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