# taz.de -- Führung der Linkspartei: Das Risiko der Demokratie
       
       > Die Linke auf Kollisionskurs: Beim Parteitag in Göttingen kommt es zum
       > Showdown zwischen den beiden verfeindeten Flügeln. Es geht um West gegen
       > Ost.
       
 (IMG) Bild: Damals herrschte noch Aufbruchstimmung: Die Linke auf ihrem Europa-Parteitag 2009.
       
       BERLIN taz | Als der Ostpragmatiker Dietmar Bartsch vor einer Woche bei der
       Kandidatenvorstellung in Frankfurt am Main sprach, applaudierten die
       Westgenossen nur ein einziges Mal – als Parteichef Klaus Ernst den Saal
       betrat. Ansonsten nur kühle Distanz auf beiden Seiten.
       
       Es gibt in allen Parteien Neid und Missgunst. Aber nur in der Linkspartei
       verachtet man sich in fest formatierten Blöcken: West gegen Ost, linker
       Flügel gegen rechten Flügel. Die gegenseitige Missachtung hat Züge einer
       neurotischen Fixierung angenommen.
       
       Es gibt in der Linkspartei in der Tat große Erfahrungsunterschiede –
       zwischen dem Bürgermeister in Brandenburg und dem linken
       Gewerkschaftsfunktionär in NRW etwa. Aber der Streit hat sich längst von
       den realen Erfahrungsdifferenzen abgelöst. Der interne Kampf ist wie eine
       Maschine, bei der niemand mehr den Ausknopf findet.
       
       Es sieht nicht so aus, als könnte der Parteitag in Göttingen daran etwas
       ändern. Wenn Dietmar Bartsch, der Repräsentant der Ostpragmatiker, nicht
       Parteichef wird, werden sich im Osten viele resigniert zurückziehen. Vor
       allem wenn die Westlinke ihren eilends aufgestellten Kandidaten, den
       Stuttgarter Ver.di-Gewerkschafter Bernd Riexinger, durchboxt.
       
       Ein Ostpragmatiker fürchtet: „Wenn Bartsch nicht gewählt wird, kann es bei
       uns zu irrationalen Handlungen kommen.“ Will sagen: spontane Austritte,
       Übertritte zur SPD, Überlegungen für eine Rückkehr zur PDS. Im Westen
       wiederum sind viele nach Oskar Lafontaines Rückzug deprimiert. Und Sahra
       Wagenknecht, die Einzige, die im Westen eine ähnlich magnetische Wirkung
       entfaltet wie Lafontaine, will bis jetzt nicht kandidieren.
       
       ## Die dritte Möglichkeit
       
       Angesichts des Kollisionskurses der beiden Flügel hat sich eine dritte
       Möglichkeit herauskristallisiert: eine Doppelspitze mit Katja Kipping und
       Katharina Schwabedissen. Kipping kommt aus dem pragmatischen Landesverband
       Sachsen, Schwabedissen aus dem linken NRW. Ost und West, eher links, eher
       Reformerin – das wäre eine Alternative zu dem Showdown zwischen den sich
       feindlich gegenüberstehenden Blöcken.
       
       Es wäre die Wahl des berühmten „dritten Weges“. Damit verbindet sich im
       besten Fall die Chance, die Partei aus der doppelten Fixierung auf die SPD
       lösen: Wo das Lafontaine-Lager auf starre Abgrenzung besteht, kommt die
       Linkspartei im Osten der SPD oft nahe, zu nahe.
       
       Kipping hat im von linken Grünen, Sozialdemokraten und offenen
       Linksparteipolitikern betriebenen „Institut Solidarische Moderne“ gezeigt,
       dass Selbstbehauptung und Bündnisoffenheit vereinbar sind. Und
       Schwabedissen hat in Düsseldorf eine für die Linkspartei erfolgreiche
       Tolerierung der rot-grünen Minderheitsregierung orchestriert. In Zeiten
       wachsender Ablehnung männerdominierter Apparatepolitik stehen die
       sächsische Bundestagsabgeordnete und die nordrhein-westfälische
       Landeschefin für etwas Neues, Anderes.
       
       ## Antiautoritäres Experiment
       
       Allerdings wäre das Frauenduo schon logistisch fast überfordert. Kipping
       hat ein Baby, um das sie sich kümmern muss und will, Schwabedissen wohnt
       ganz im Westen in Bochum. Die Gefahr, dass diese Halbtagsparteispitze von
       den Blöcken einfach zerrieben wird, ist groß, sehr groß. Und eine Hausmacht
       haben die beiden auch nicht.
       
       Das Duo Kipping/Schwabedissen ist zwar eine schillernde Idee – aber es
       fragt sich, ob die Linkspartei nicht zu zerrüttetet für dieses sympathische
       antiautoritäre Experiment ist.
       
       Allerdings werden die Fliehkräfte noch größer, falls sich in Göttingen
       eines der von den Lagern bevorzugten Teams durchsetzt. Das Dreamteam der
       Ostler ist die Ex-SPD-Frau Dora Heyenn und Dietmar Bartsch. Das
       Lafontaine-Lager setzt auf Katja Kipping und Bernd Riexinger. Doch Kipping
       will sich auf keinen Fall von einem Lager instrumentalisieren lassen.
       
       „Katharina Schwabedissen und ich werden beide in Göttingen klar machen,
       dass wir zusammen antreten“ sagte Kipping zur taz. Will sagen: Bei der
       Wunschlösung der Westlinken mit dem Gewerkschafter Riexinger ist sie nicht
       dabei sein. Bernd Riexingers Kandidatur, erst seit Mittwoch bekannt, ist
       zudem eine Wiederholung der Tragikomödie, die Klaus Ernst derzeit aufführt.
       Eine Spielfigur ohne eigenes Gewicht, ohne Autorität, his masters voice. 
       
       ## Die beste und unwahrscheinlichste Lösung
       
       Die Lage ist unübersichtlich. Auch die Beteiligten selbst wissen nicht, ob
       sie am Samstag siegen werden oder bloß Zählkandidaten sind. Die üblichen
       Absprachen zwischen den Flügeln gibt es nicht. Göttingen wird für die
       Linkspartei eine neue Erfahrung: das Risiko der Demokratie.
       
       Die einzige Führung, die die Partei befrieden könnte, ist zugleich die
       unwahrscheinlichste: das Team Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht. Nur
       dieses Team wäre wohl einflussreich genug, um einen Waffenstillstand der
       Flügel zu garantieren. Nur dieses Team stellt, abgesehen von
       Kipping/Schwabedissen, sicher, dass in Göttingen kein Lager als
       gedemütigter Verlierer vom Platz geht.
       
       Doch Wagenknecht möchte nicht Parteichefin werden, schon gar nicht mit
       Dietmar Bartsch. Dabei wäre dies die einzige Führung, die glaubwürdig
       demonstrieren könnte, was die Partei am nötigsten braucht: dass ihr innerer
       Zusammenhalt stärker ist als die Lust am Kleinkrieg.
       
       1 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) S. Reinecke
 (DIR) T. Strohschneider
       
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