# taz.de -- Lilienthal beendet HAU-Intendanz: Der Übersetzer ist live zugeschaltet
       
       > Theater als Belastungsprobe: Mit dem 24-Stunden-Projekt „Unendlicher
       > Spaß“ beendet Matthias Lilienthal seine Intendanz am Berliner HAU.
       
 (IMG) Bild: Expo-Ironie: „Die große Weltausstellung“ vom HAU im Juni auf dem Tempelhof Feld.
       
       ## Letzte Runde I:
       
       Was hatte man uns nicht alles versprochen! Fliegende Autos sollte es geben,
       Zeitmaschinen, teleportierte Körper! Stattdessen sitzen ein paar von uns
       immer noch in Altbauwohnungen mit Kohleofen, um nur das zu nennen. Immerhin
       haben unsere Datenträger enorme Kapazitäten erreicht – es gibt Sticks, auf
       die das halbe Gesamtwerk von Woody Allen passt. Oder sogar das ganze.
       
       Das konnte auch David Foster Wallace nicht voraussehen, als er Mitte der
       neunziger Jahre sein opulentes Überwerk „Infinite Jest“, zu Deutsch
       „Unendlicher Spaß“, geschrieben hat. Das Buch sollte in der nah liegenden
       Zukunft spielen, also so ungefähr jetzt, in einer Zeit allerdings, in der
       es keine Teleportationen gibt, aber dafür nach Sponsoren benannte
       Jahreszahlen – „Das Jahr des Whoppers“, „Das Jahr der
       Inkontinenz-Unterwäsche“. Was es auch geben sollte: Patronen mit Filmen,
       was heute einer DVD entspricht. Auf einer dieser Patronen soll sich der
       tödliche Film „Unendlicher Spaß“ befinden – wer ihn anmacht, kommt nicht
       mehr davon los, vernachlässigt alle körperlichen Bedürfnisse und verendet
       schließlich elendig vor dem Fernseher.
       
       Die totale Unterhaltung also. Eine andere Art Wahnsinn hat jetzt das Hebbel
       am Ufer unter der künstlerischen Leitung von Matthias Lilienthal (der damit
       seinen Ausstand aus der Verantwortung in Berlin beging – und was für einen)
       probiert: die 1.600 Seiten irgendwie zurechtdramatisiert auf die Bühne zu
       bringen. Der Trick: Es ist nicht nur eine Bühne, es sind mehrere, und im
       wörtlichen Sinn kann man gar nicht von Bühnen sprechen. Und es ist nicht
       eine Aufführung, sondern es sind mehr als zwölf, ein Stück also in mehr als
       zwölf Teilen, jeweils getragen und produziert von befreundeten
       Theatermachenden; also von Menschen, die dem HAU und Chef Lilienthal in den
       letzten neun Jahren verbunden waren.
       
       ## Weiterarbeiten am Stoff
       
       Vierundzwanzig Stunden Theater an acht Spielorten, ein wahnsinniges
       Projekt, das nach allem, was nach der halben Runde (man kann zwischen
       voller und halber Tour wählen) gesagt werden kann, vollauf gelungen ist.
       Die Frage nach dem Sinn der Dramatisierung bekannter Romane war in den
       Hintergrund gerückt. Der „Unendliche Spaß“ entpuppte sich mit seiner
       buchstäblichen Vielseitigkeit als geeinigter Stoff – nicht allein zur
       Reproduktion, im Gegenteil, sondern zur Weiterarbeit.
       
       Das normal Theatralische von heutzutage gab es natürlich auch. Peter
       Kastenmüller führt die Hauptfiguren in der Tennisakademie ETA (hier: am
       Steffi-Graf-Stadion in Grunewald beim LTTC Rot-Weiß) in den
       Sportstudiokatakomben mit einer Menge Text, einer Menge Show, einer Menge
       (Post-)Dramatik auf. Überspanntes Schauspielertheater, immerhin
       unterhaltsam, manchmal zu viel. Anders die bekannte Gruppe Gob Squad. Sie
       ließ sich von einer Textstelle aus dem Buch über den existenzialistischen
       Charakter des Tennissports zu einem Schlagabtausch auf dem Court ohne
       Schläger inspirieren: englisch, trocken, inspiriert, klagend.
       
       Noch mehr Einzelkritik? Der wandernde Bildschirmrahmen von Mariano Pensotti
       war ebenso wohltuend unterdramatisch wie Richard Maxwells Dialogspiel
       (Brian Mendes, Joseph Silovsky) unter einem dieser abgerissenen
       Abhörstationszelte auf dem Teufelsberg. Und was für eine Location! Der Wind
       rauschte in die Textpausen wie bestellt, die ganze Kargheit, dabei
       Erhabenheit der Szenerie passte kongenial zur Aufführung. Leider etwas zu
       kurz, das, aber es sollte noch einen zweiten Teil in der zweiten Hälfte
       geben.
       
       Nicht minder geil war das, was sich in einem nicht mehr genutzten
       Bettenhaus des Vivantes Klinikums in Britz abspielte. Auch hier war der Ort
       der Star – eine spukhafte Atmosphäre, gut möbliert mit Installations- und
       Videokunst von Hans Löw und Felix Knopp, die den einzigartigen Text über
       den nach Dope jiepernden Kiffer Ken Erdedy in etwas brillant Lustiges samt
       Cronenberg-/Burroughs’schem Drogeninsekt umsetzten (Idee und Inszenierung:
       Chris Kondek). Gut erschlagend auch das, was Anna Viebrock aus dem Ennet
       House, der Drogenentzugsklinik aus dem Roman, machte (obwohl ich mir
       persönlich das „SchMaZ“, also die Figur der tödlich schönen Joelle anders
       vorgestellt hatte – trotzdem eine zentrale Stelle im Roman wie auch in der
       Gesamtaufführung), ebenso wie das Neue-Musik- respektive
       Neuer-Tanz-beeinflusste Stück von Constanza Macras und Oscar Bianchi in der
       alten Klinikküche mit dieser offen liegenden Verkleidungsinnenarchitektur,
       mit der man gleich apokalyptische Szenarien (3. Weltkrieg!) verbindet.
       
       Natürlich hatte das Ganze auch etwas Kaffeefahrtartiges. Im positiven Sinn.
       Man wurde mit dem Bus durch diese vielschichtige Stadt gebracht, von
       Spielort zu Spielort, an obskurer Architektur vorbei, und erhielt
       Erklärungen (wie zum ICC) oder durfte sich zwischen Buckow und Marienfelde
       einen Monolog aus dem Buch aus der Konserve anhören (und hier wie überall
       wurde wieder einmal überdeutlich, wie stark der Originaltext von D. F.
       Wallace tatsächlich ist).
       
       Zum Schluss für die einen (zu Beginn für die anderen, in der Mitte für die
       Dritten) gab es dann in einem „David Foster Wallace Center“, so war das
       Institut für Mikrobiologie, ein weiterer Betonirrsinn aus den unglaublichen
       siebziger Jahren irgendwo in Steglitz, für die Zeit der Performance
       umbenannt worden, eine Liveschalte zu Ulrich Blumenbach, dem Übersetzer des
       Monstrums. Ein sympathischer und schlauer Mann, der nichts vom Geniebegriff
       wissen wollte und das Buch selbst „wohl so acht-, neunmal“ gelesen hat.
       Wesentlich weniger oft als Foster Wallace selbst. Die Idee des HAU fand er
       gut. David Foster Wallace hat er leider nicht mehr persönlich kennenlernen
       können. Der Autor von „Unendlicher Spaß“ hat sich 2008 in seiner
       Arbeitsgarage erhängt. Wegen einer mächtigen, lähmenden Schreibblockade
       hatte er seine Antidepressiva abgesetzt.
       
       Wir schauen uns dann noch einmal die zweite Hälfte an, bei Gelegenheit.
       RENÉ HAMANN 
       
       ## Letzte Runde II: Wach bleiben!
       
       Das sieht jetzt ziemlich verrückt aus. Sonntagmorgen, so gegen 5.30 Uhr,
       eine kleine Terrasse im fünften Stock des Finanzamts Berlin-Reinickendorf:
       Die Fläche ist vollgestellt mit Rollstühlen, auf jedem sitzt ein Teilnehmer
       der 24-Stunden-Reise „Unendlicher Spaß“, hat eine Tuchmaske umgebunden und
       hört die pathetische Ansprache eines Führers der Untergrundgruppe der
       „Assassins des Fauteuils Roulants“. Das heißt, einige hören zu, andere
       machen gerade ein Nickerchen, obwohl das Gebrüll des Anarchistenführers in
       den umliegenden Wohnhäusern erschrockene Schläfer ans Fenster holt.
       
       Jetzt könnte man erklären, warum die Anarchisten alle im Rollstuhl sitzen
       und kanadische Separatisten sind, und hätte sich bald in einer
       Nacherzählung des Romans „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace
       verheddert. Nein, interessanter ist an diesem Moment, wie wir selbst, die
       treue Gefolgschaft der Theaterprojekte von Matthias Lilienthal am HAU, uns
       hier wie Aliens durch Berlin bewegen, stets hoffnungsfroh, mitten im
       Alltäglichen und Normalen das Bizarre und Überraschende entdecken zu
       können. Und ganz allmählich selbst zu ziemlich bizarren Figuren werden.
       
       Da macht es auch nicht mehr viel, dass die Kräfte kaum noch reichen, um der
       letzten Lesung, die als einzige tatsächlich im Theater, im HAU 1,
       stattfindet, zu folgen, einer Konversation zwischen Komatösen und schon
       Geister Gewordenen. Jetzt gilt es, nur noch durchzuhalten bis zum
       abschließenden Frühstück.
       
       Durch die Dämmerung, die sich auf das Hirn senkt, stoßen nach kurzer Zeit
       die heißesten Szenen der zurückliegenden Nacht: Wie Madame Psychosis (Anne
       Ratte-Polle), ehemals Mitwirkende an der tödlichen Filmpatrone „Unendlicher
       Spaß“, in ihrer Mitternachtsshow zurückgeht zu jenem Moment fast
       unfassbarer Klarheit vor dem Selbstmordversuch. Sie steht dabei in
       Tonkabine im Berliner Haus des Rundfunks, ihr Gesicht verborgen hinter
       einem Schleier, die Stimme technisch verzerrt, eine raue Männerstimme in
       einem exaltierten weiblichen Körper. Und obwohl die Empfänger ihrer
       Botschaft ja direkt vor ihr sitzen, spürt man zwischen sich und ihr auch
       die endlos sich ausdehnende Nacht über einem ganzen Kontinent.
       
       Oder man denkt an Poor Tony Krause (Damien Rebgetz) zurück, der fast eine
       Stunde lang von den Leiden eines kalten Entzugs erzählt und so
       sprachmächtig die Verfallserscheinungen seines zarten Körpers schildert,
       dass man ihm bereitwillig in jede neue Windung des Schmerzes folgt. Das
       alles performt er in einem unglaublichen Saloon, in dem Pferdesättel,
       Büstenhalter und Hühner von der Decke hängen, eingerichtet im Keller eines
       Kulturhauses im Märkischen Viertel - ein Ambiente, das eh schon eine Show
       für sich ist. Beide Solos waren von Anna-Sophie Mahler inszeniert.
       
       ## Der doppelte Blick
       
       Was die Bustour „Unendlicher Spaß“ ebenso kultiviert wie „Die große
       Weltausstellung“, die das HAU im Juni auf dem Tempelhof Feld zeigt, ist der
       doppelte Blick, die Erkundung des Nahen und seine Überschreibung mit
       Fantastischem. Die fünfzehn Ausstellungsorte der Weltausstellung liegen so
       verstreut in der weiten Wiesenlandschaft zwischen den ehemaligen
       Landebahnen, dass die Wege dazwischen das Hauptereignis werden, das Zeigen
       von Welt also ständig zu einem Punkt zusammenschrumpft, während die
       Erfahrung der eigenen Gegenwart, das Gehen oder Fahrradfahren, die anderen
       sehen, Jogger, Skater und Menschen mit Flugdrachen, sich ausdehnt. So sehr
       sogar, dass man in drei, vier Stunden auf dem Gelände nur einen kleinen
       Teil der Pavillons schafft.
       
       Innen gibt es dann teilweise gar nicht viel zu sehen, mehr zu denken. Warum
       Utopien so oft auf Inseln stattfinden, ob die vielen nach Berlin gezogenen
       Künstler im Alter eine eigene Kolonie brauchen, ob die Tricks der
       Computeranimation nicht inzwischen schon die Wahrnehmung der Wirklichkeit
       präfigurieren - solche Sachen. Und wieder lässt die Kunst - und das gehörte
       eben zu den Tugenden vieler Projekte, die Matthias Lilienthal am HAU
       initiiert hat - neben sich viel Raum für das Eindringen weiterer
       Wahrnehmungen. 2014, so kann man jetzt melden, wird er wieder Theater
       machen, und das Festival Theater der Welt in Mannheim mitleiten. Katrin
       Bettina Müller 
       
       ## „Unendlicher Spaß“: HAU, Termine: 6., 9., 13., 16., 20., 23. und 27.
       Juni; „Die große Weltausstellung“, Tempelhofer Park, bis 24. Juni
       
       4 Jun 2012
       
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