# taz.de -- Im Urwald von Bialowieza in Polen: Der König der Wälder
       
       > Im Wald von Bialowieza gingen die Zaren auf Jagd. Wisente, Luchse und
       > Elche gibt es noch heute. Und ein Bahnhofsrestaurant im Empire-Stil.
       > Polen entdeckt sein russisches Erbe.
       
 (IMG) Bild: Ein Wisent im Urwald von Bialowieza.
       
       BIALOWIEZA taz | Bialowieza ist ein verwunschenes Dorf weit im Osten
       Europas. Einst jagten in den umliegenden Wäldern Polens Könige und
       Russlands Zaren. Später wilderten hier die Nazis und manch ein KP-Chef.
       Heute gehen im letzten Urwald Europas vor allem Naturliebhaber und
       Wissenschaftler auf Kamerapirsch.
       
       Denn nirgends sonst ist die Chance so groß, einen Wisent in freier Wildbahn
       zu sehen. Und die Dorfbewohner von Bialowieza entdecken heute eine über
       Jahrzehnte verfemte Epoche neu, die Zarenzeit in Polen.
       
       „Es war Liebe auf den ersten Blick. Als ich den Bahnhof sah, lugte er aus
       einem Meer von Grün hervor. Bäume, Farn, Moos, so weit das Auge reichte,
       und mittendrin ein atemberaubend schönes Holzhaus“, erinnert sich Katarzyna
       Drynkowska. „Das war wie ein Ruf aus einer anderen Zeit.“
       
       Ihr Mann Michal Drynkowski lässt den Blick durch das ganz im russischen
       Empire-Stil gehaltene Restaurant schweifen: „Mir ging es genauso. Hinter
       dem Bahnhof befanden sich noch die Gleise mit einem vergessenen Waggon.
       Außerdem entdeckten wir einen Wasserturm, eine alte Pumpe, weitere
       Holzgebäude.“
       
       Er schwenkt sein Weinglas mit dem roten Burgunder, nimmt einen Schluck. „In
       einem der Häuschen wohnte noch der ehemalige Pumpenwärter. Der sah unsere
       kleine Gruppe, kam auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: „Kauf den
       Bahnhof, mach was draus!“
       
       ## Flucht aufs Land
       
       Die Drynkowskis – sie, 40 Jahre alt und Diplom-Betriebswirtin aus Posen,
       er, 55 und studierter Landwirt aus Warschau – wollten schön länger die
       hektische Hauptstadt verlassen, hatten aber zuvor immer in Nordpolen
       gesucht.
       
       Doch für das Ehepaar waren die attraktiven See-Grundstücke in Masuren
       unerschwinglich. „Ans Grenzgebiet zu Weißrussland hatten wir nie gedacht“,
       bekennt Katarzyna, die mit ihrem schwarzen Kurzhaarschnitt wie eine
       Französin wirkt.
       
       „Freunde hatten uns zur Feier der Sommersonnwende nach Bialowieza
       eingeladen“, erzählt Michal weiter. „Die Kupala-Nacht wird in Ostpolen mit
       einem sehr mystischen, aber auch ekstatischen Fest gefeiert. Zum einen
       gehen die Geister der Toten um, zum anderen explodiert in dieser Nacht die
       Liebe.“
       
       Die Entscheidung fiel dennoch schwer. Obwohl sie immer davon geträumt
       hatten, aufs Land zu ziehen, war die konkrete Aussicht auf ein Dorf an der
       Grenze zu Weißrussland gewöhnungsbedürftig. Aleksander, der zwölfjährige
       Sohn, war nicht begeistert.
       
       ## Ein Neuanfang
       
       Zudem musste das über Generationen erworbene Wohneigentum verkauft werden,
       um Geld für die Instandsetzung des alten Bahnhofs flüssig zu machen. Von
       Gastronomie und Tourismus hatten weder Michal noch Katarzyna eine Ahnung.
       
       Helena Gwaj legt den Finger auf den Mund. Die zwei Wanderer, denen die
       lizenzierte Waldführerin Teile des Bialowieza-Nationalparks zeigt, sollen
       sich auf die Geräusche konzentrieren. Irgendwo in den Wipfeln klackert
       fröhlich und ausdauernd ein Specht, ein Uhu lockt mit langgezogenem „Uuuuu“
       und auf einem Baumstumpf zirpt ein Zaunkönig sein Lied.
       
       Auch am Boden raschelt und fiept es leise: Eidechsen, Mäuse und andernorts
       schon ausgestorbene Käfer flitzen über Laub, Gras und knorrige Baumwurzeln.
       „Dieser Wald ist einzigartig in ganz Europa“, schwärmt die 70-jährige
       Tourführerin. „Die polnischen Könige und russischen Zaren nutzten ihn als
       Jagdgebiet, schonten und schützten den Wald aber auch. Ohne königliche
       Genehmigung durfte niemand hinein.“
       
       ## 50 Meter hohe Bäume
       
       So konnte sich über Jahrhunderte eine von Menschenhand weitgehend
       unberührte Fauna und Flora entwickeln mit bis zu 50 Meter hohen Fichten,
       Eichen, Weißbuchen, Linden und Ahornriesen. Neben Wisenten leben hier auch
       Wildpferde, Wölfe, Luchse, Elche, seltene Käfer und Schmetterlinge.1
       
       Zwar richteten die Deutschen im Ersten Weltkrieg großen Schaden an, als sie
       eine Schmalspurbahn in den Wald trieben, Sägewerke und Köhlereien anlegten,
       die Urwaldriesen fällten und in Holzkohle verwandelten. Hungersnöte machten
       dann auch dem Wildpferd und dem archaisch anmutenden Wisent oder Urrind den
       Garaus. Von der sorgsam gepflegten Wisent-Herde, die vor dem Krieg noch
       über 500 Tiere zählte, wurde der letzte Bulle 1919 erlegt.
       
       ## Rückkehr der Wisente
       
       1929 kaufte Polens Regierung vier der insgesamt zwölf Wisente zurück, die
       in europäischen Zoos den Krieg überstanden hatten. „Nicht weit von hier, in
       einem speziellen Naturreservat, begann damals die Nachzucht“, erzählt
       Helena. „Unsere Großeltern haben sich über jedes neue Kalb gefreut. Denn
       der Wisent ist doch der König der Wälder.“
       
       Sie lächelt und setzt die kleine Spinne, die sich auf ihre Schulter
       abgeseilt hat, vorsichtig an einem Baumstamm ab. Sie lacht verschmitzt.
       „Manchmal sieht man ihn im Morgengrauen. Da steht er dann auf einer
       Lichtung wie ein Wesen aus einer anderen Zeit. Majestätisch wie ein König.
       Und plötzlich ist er weg.“
       
       Als die Rentnerin sorgfältig das Holztor zu dem Teil des Urwalds schließt,
       der nur zu Fuß und mit lizenzierten Waldführern erkundet werden kann,
       deutet sie auf die alten Backsteingebäude neben dem Naturkundemuseum in der
       Ferne.
       
       ## Ein „Zaren-Restaurant“
       
       „Die Kommunisten konnten die Erinnerung an die Zarenzeit nicht vollständig
       auslöschen. Gott sei Dank haben sie nicht alles abgerissen.“ Vor einer
       alten prachtvollen Eiche bleibt sie stehen: „Aber als wir hörten, dass zwei
       Warschauer den stillgelegten Bahnhof in ein ’Zaren-Restaurant‘ verwandeln
       wollten, haben wir uns doch alle an die Stirn getippt.“
       
       All die Jahre hätten sich die Leute in Bialowieza immer ein bisschen
       geschämt, wenn die Rede auf Zar Alexander III. oder seinen Sohn Nikolaus
       II. kam. „Ganz Polen hatte in der Teilungszeit unter den Zaren gelitten.
       Nur uns hier ging es immer gut, wenn sie kamen.“
       
       Vor dem holzverkleideten Betonklotz, dem Museum des
       Bialowieza-Nationalparks, zieht sie ein vergilbtes Foto aus der Handtasche.
       „Früher stand an dieser Stelle das Zarenschloss mit über 120 Zimmern.
       Obwohl Zar Nikolaus nur alle drei Jahre mit der ganzen Familie zur Jagd und
       Sommerfrische nach Bialowieza kam, arbeiteten die ganze Zeit über
       Verwalter, Zimmermädchen und Stalljungen im Schloss und den
       Wirtschaftsgebäuden.“
       
       ## Erst die Nazis...
       
       Mit ihrer leicht zittrigen Hand streicht sie über das Foto und hält es so
       hoch, dass der Vergleich mit dem grauen Ungetüm aus realsozialistischer
       Zeit leichter fällt. „Die Nazis haben das Schloss abgefackelt, aber wir
       hätten es wiederaufbauen können. Ende der 50er Jahre rissen die Kommunisten
       es aber aus ideologischen Gründen ab.“
       
       Gut 200 Meter vom Museum entfernt steht Priester Walerij Piotrowski vor der
       russisch-orthodoxen St.-Nikolaus-Kirche und schwenkt einen großen alten
       Schlüssel über seinem Kopf. Als der 34-Jährige die schwere Holztür
       aufschließt, quietscht das Schloss leise.
       
       „In der Gemeinde haben wir 900 Gläubige, das sind rund 40 Prozent aller
       Einwohner“, beginnt er und setzt stolz hinzu: „Wir haben sogar einen
       gemischten Chor. Zwanzig junge Leute, fast alles Studenten, die jeden
       Sonntag während des Gottesdienstes singen.“
       
       ## Junge Dorfelite
       
       Das sei für ein Dorf an der polnisch-weißrussischen Grenze ungewöhnlich.
       Überall sonst würden die jungen Leute in die Stadt fliehen. Da Bialowieza
       aber den Ruf eines international anerkannten Forschungszentrums genieße,
       gebe es auch für die junge Elite des Dorfes genügend
       Entwicklungsmöglichkeiten.
       
       Mit ein paar Schritten und wehendem Rock stellt er sich vor der Ikonenwand
       in Positur: „Genau an dieser Stelle stand immer Zar Nikolaus II.“ Die
       Ikonostase selbst ist aus chinesischem Porzellan. Priester Walerij ist
       besonders stolz auf sie, stellt sie doch die einzige dieser Art in ganz
       Polen dar.
       
       ## Der Zaren-Bahnhof
       
       Am späten Nachmittag tauchen die langen Sonnenstrahlen des Tages den
       einstigen Zaren-Bahnhof in ein unwirkliches Licht. Katarzyna Drynkowska
       beaufsichtigt auf der Gleisanlage die letzten Arbeiten an den Salonwagen:
       Zieht sich das Fliegennetz an den Fenstern von alleine nach oben, wenn es
       aus der Halterung gelöst wird? Kommt aus den Wasserhähnen bereits warmes
       und kaltes Wasser?
       
       Sie steigt aus dem ersten Waggon, stutzt und ruft einen der Arbeiter
       herbei: „Piotr!“ Sie deutet auf die drei Buchstaben „NZD“ an der Außenwand
       des Waggons. „Fehlt hier nicht ein Häkchen unter dem N? Oder müsste dort
       statt des N ein H stehen?“
       
       Piotr runzelt die Stirn: „Tatsächlich. Entweder ’Die Eisenbahn des Zaren‘
       oder ’Die Volks-Eisenbahn‘. Das müssen wir noch mal prüfen.“ Er sieht die
       vier Salonwagen der Reihe nach an und meint: „Eine Volks-Eisenbahn hat so
       ja eher nicht ausgesehen. Andererseits: Bei den Russen weiß man nie!“
       
       ## Zu wenig Platz
       
       Im Restaurant dreht Michal an den Knöpfen eines uralten Radios. Als das
       Wort „Bialowieza“ fällt, stellt er die Frequenz des Warschauer Senders
       genauer ein: „Die Wisente haben zu wenig Platz“, stellt der Moderator fest
       und fragt: „Soll der Bialowieza-Urwald vergrößert werden?“
       
       Als die Diskussion zwischen Umweltschützern, Gemeindemitgliedern und
       Holzhändlern zu heiß wird, dreht Michal ab. „Da sind wir vor der Politik
       aus Warschau geflohen, und nun holt uns die Politik hier auf dem Dorf
       wieder ein.“
       
       Er lacht: „Aber wenn Warschau entscheidet, das Naturschutzgebiet zu
       vergrößern, die Bahngleise bis nach Bialowieza instand zu setzen und nach
       St. Petersburg zu verlängern, sind wir dabei. Sofort!“
       
       5 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Lesser
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