# taz.de -- Debatte das Schlagloch: Feigheit, nicht Freiheit
       
       > Der Witz der Meinungsfreiheit geht im Internet baden – das Recht jedes
       > Einzelnen, seine Ansichten öffentlich ins Spiel zu bringen. Wie sollen
       > dann noch gute Diskussion entstehen?
       
       Vor ein paar Tagen kam eine Bekannte zu Besuch, wir unterhielten uns.
       Plötzlich fing sie an zu weinen. Eigentlich gehe es ihr gar nicht gut, denn
       eine Nachbarin verbreite Gerüchte über sie. Anonym im Internet. Da heiße
       es, sie schlafe mit sämtlichen Männern der Umgebung, ihr Mann sei ihr
       untreu und ihre Mutter eine Diebin. Verbreitet wurde das Ganze über ein
       soziales Netzwerk. Ihr Mann und ihre Mutter sagen, die Frau sei verrückt,
       man solle sie einfach ignorieren. Aber ignorieren ist gar nicht so einfach,
       hat meine Bekannte festgestellt.
       
       Ignorieren ist gar nicht so einfach, das wird auch jene Journalistin
       festgestellt haben, die kürzlich etwas zum Urheberrecht bloggte und zum
       Dank von irgendwelchen Hackern 45.000 E-Mails gesendet bekam. Server
       brachen zusammen, das Postfach der Frau war tagelang unbenutzbar, und es
       ist davon auszugehen, dass sie dadurch auch wichtige Nachrichten verlor.
       
       Ignorieren wäre nicht nur nicht einfach, sondern sogar falsch im
       Zusammenhang mit dem, was Mely Kiyak in den vergangenen Wochen widerfahren
       ist, nachdem sie sich in einer Kolumne über Thilo Sarrazins Gesichtslähmung
       lustig gemacht hatte. Obwohl sie sich kurz darauf entschuldigt hat,
       stürzten sich noch lange danach rechte Blogs auf sie und überschütteten sie
       mit rassistischen Beschimpfungen, die fast nach Aufrufen zum Mord
       schmeckten.
       
       Für die Kolumnistin Kiyak vermutlich leider nicht Neues, denn seit langem
       ist im Internet ein rechter Mob unterwegs und führt mit einem gruselig
       buchstabierten Hass-Kommentar nach dem andern die These von der angeblich
       überlegenen deutschen Intelligenz ad absurdum.
       
       ## Ist das Freiheit oder Feigheit?
       
       Allen drei Beispielen ist gemeinsam, dass in ihnen das Internet zu einem
       Tatort geworden ist, an dem eine Person von anonymer Seite angegriffen
       wird. Genau diese Anonymität und Ungeregeltheit des Internets, die das
       ermöglicht, gilt allerdings vielen als Heilige Kuh und wird oft als
       Inbegriff von Freiheit gepriesen. Aber – Freiheit wozu? Selbstverständlich
       muss es im digitalen wie im analogen Leben private Räume geben, in denen
       Menschen unbeobachtet tun dürfen, was sie wollen.
       
       Doch bereits in den eigenen vier Wänden gilt die Einschränkung, dass dieses
       Tun die Grundrechte anderer Menschen nicht verletzen darf. Auch dort ist es
       zum Beispiel nicht erlaubt, Andere zu schlagen, außer es geschieht im
       beiderseitigen Einverständnis. Ein solches Einverständnis fehlt in den
       genannten Fällen natürlich, und die viel gerühmte Anonymität ist
       asymmetrisch: Sich selbst gönnt der Angreifer deren Schutz, doch dem
       Angegriffenen ja gerade nicht. Diese Angreifer sind so gesehen
       Heckenschützen - welchen Sinn hat da eine Fetischisierung der Anonymität?
       
       Und wieso nennt man so etwas Freiheit und nicht einfach Feigheit? Um eine
       gemeinsame Öffentlichkeit aufzubauen, muss man sich einander zu erkennen
       geben. Darin besteht geradezu der Witz des Rechts auf freie
       Meinungsäußerung, die ja nicht etwa die Freiheit der Meinung auf ein
       anonymes Geäußertwerden bedeutet, sondern das Recht der Individuen, ihre
       Ansichten öffentlich ins Spiel zu bringen. Kommunikation findet zwischen
       Menschen statt, nicht zwischen Buchstaben, und Diskussionen sind nicht
       Aneinanderreihungen von Sätzen, sondern soziale Interaktionen mit Worten.
       
       Man äußert sich dabei als eine bestimmte Person, macht sich „angreifbar“ -
       aber idealerweise natürlich nur im übertragenen Sinne, nämlich den
       Argumenten einer antwortenden Person. Wer nicht den Mumm aufbringt, seine
       Meinung mit dem eigenen Namen zu versehen, der hat zwar irgendeine
       Wortkombination in die endlosen Weiten des Internets entlassen; aber seine
       Freiheit zur Äußerung seiner Meinung hat er nicht realisiert.
       
       ## Die Möglichkeiten des Internets werden verspielt
       
       Natürlich kommen diese Ideale nur da zum Tragen, wo es einen freien und
       gleichen Austausch von Meinung überhaupt gibt. In Diktaturen kann die
       Anonymität des Internets jenen zur Freiheit der Meinung verhelfen, die sie
       sonst nicht hätten; und auch in unseren durchschnittlich-demokratischen
       Gesellschaften gibt es oft Situationen, in denen die Meinungshoheit oder
       die ökonomische Herrschaft einer Institution oder eines Konzerns am besten
       mit anonymen Nadelstichen in Frage gestellt werden kann.
       
       Und so stimmt es zwar, dass das Internet mit der weitgehenden Anonymität
       und seinen technischen Mitteln zum Informationstransfer subversive
       Möglichkeiten bietet - doch genau diese Möglichkeiten werden durch jene
       verspielt, die die Mittel des Internets missbrauchen. So sehr es Spaß
       machen kann, kollektive Meinungslawinen durchs Internet rollen zu sehen und
       sich ihnen anzuschließen, sollte man sich doch stets um Unterscheidung
       bemühen: zwischen Gerüchten und Informationen, zwischen Argumenten und
       Schmähungen, Privatpersonen und politisch Verantwortlichen,
       verhältnismäßigen oder hysterischen Aktionen.
       
       Es ist eben ein Unterschied, ob man einer einzelnen Autorin eine
       Containerladung digitalen Mist vor den digitalen Briefkasten lädt oder ob
       man die fragwürdigen Unterlagen eines kriegsführenden Landes öffentlich
       macht. Es ist etwas anderes, ob man Facebook für einen Shitstorm gegen das
       rassistische Cover der Schweizer Weltwoche nutzt oder dazu, einen
       jugendlichen Verdächtigten in Emden beinah in den Selbstmord zu treiben.
       
       Gut, mit Nazis kann man über das Achten der Rechte und Grenzen Anderer wohl
       kaum argumentieren. Aber alle anderen, die meinen, in gleichsam
       anarchistischer Mission unterwegs zu sein, sollten bedenken: Die beste
       Alternative zur rigiden Reglementierung von außen besteht darin, dass sich
       die jeweilige Internetgemeinde selbst ethische Standards gibt und die
       Mitglieder einander in deren Einhaltung bestärken.
       
       Wer jedoch technische Möglichkeiten ausreizt, nur weil sie (noch) straffrei
       sind, provoziert die Verrechtlichung des Internets. Wer nicht einsieht,
       dass jede Macht mit Verantwortung einhergeht, sondern aus bloßem Jux mit
       seiner digitalen Macht spielt, der kann mit Freiheit gar nicht umgehen. Der
       ist einfach noch nicht reif für Anarchie.
       
       6 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hilal Sezgin
       
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