# taz.de -- Aus für Bildschirmdienst Minitel: Frankreich schaltet endgültig ab
       
       > Fin: Nach 30 Jahren wird das Netz des französischen Bildschirmdienstes
       > Minitel gekappt. Die Nutzer müssen sich auf etwas Neues einstellen: das
       > Internet.
       
 (IMG) Bild: Demnächst ohne Nutzen: Bildschirmdienstapparat.
       
       PARIS taz | Auf dem Trödelmarkt am Boulevard Edgar Quinet in Paris gleich
       beim Bahnhof Montparnasse, liegt neben einem Feldstecher und alten
       Fotoapparaten ein beigefarbener Plastikkubus. Er lässt sich aufklappen,
       eine Tastatur und ein Bildschirm werden sichtbar. „Mama, ist das ein
       Spielzeugcomputer?“, fragt ein Kind. Wer mit Internet, Smartphones und
       Tablets aufwächst, kann nicht wissen, dass es sich bei diesem simplen
       Terminal um einen Urahnen der heute gängigen Kommunikationsmittel handelt.
       Die Mutter des Kindes war ja selber noch ein Baby, als in Frankreich zu
       Beginn der Achtzigerjahre das sogenannte Minitel eingeführt wurde.
       
       Den meisten Franzosen ist wohl auch nicht bewusst, dass noch
       hunderttausende dieser äußerst robusten und einfach zu bedienenden Apparate
       im Einsatz sind. Vor allem ältere Leute, aber auch Kleinbetriebe haben aus
       Gewohnheit oder Abneigung gegen das Internet und die viel komplizierteren
       Computersysteme ihr Minitel weiter benutzt, obwohl ihnen das hohe
       Telefongebühren verursacht und die Möglichkeiten doch sehr begrenzt sind.
       Alle diese Minitel-Liebhaber müssen sich nun definitiv umgewöhnen. Am 30.
       Juni werden die erreichbaren Dienste von France Télécom definitiv
       eingestellt. Eine Ära geht zu Ende.
       
       Anders als technisch vergleichbare und längst eingestellte Onlinesysteme in
       anderen europäischen Ländern (wie das 2001 eingestellte BTX in Deutschland)
       wurde Minitel in Frankreich zum Renner, nachdem es 1982 für die Verbraucher
       zum Beispiel französischer Spitzentechnologie wurde.
       
       Der Grund des unvergleichbaren Erfolgs liegt in der kommerziellen Strategie
       der damaligen französischen PTT-Betriebe. Diese beschlossen, die Geräte,
       deren Fabrikation immerhin rund 1.000 Francs (etwa 150 Euro) kostete,
       gratis abzugeben, um die Verbreitung zu fördern. Der staatliche
       Telefonkonzern holte diese Investition sehr rasch aufgrund der Gebühren
       wieder herein, die beim Einsatz der neuen Kommuniktionsmöglichkeiten
       anfielen.
       
       ## Revolution des Online-Verzeichnis
       
       Eine Handvoll Telefonnummern konnten zu verschiedenen Tarifen angewählt
       werden. Schnell verstaubten in Haushalten und Büros die gedruckten
       Telefonbücher, weil alle nur per 3611 im „revolutionären“
       Online-Verzeichnis die Nummern suchten. Auch Fahrpläne standen zur
       Verfügung, und per Minitel ließen sich Reisen buchen, Hotels, Plätze in
       Restaurants oder Theater reservieren. Eine heftige Debatte – vergleichbar
       mit der Polemik um Gratiszeitungen – folgte, als auch aktuelle
       Informationen angeboten wurden.
       
       „Das Zeitalter der Papierzivilisation hat jetzt eine Auslauffrist“,
       prophezeit bereits 1979 PTT-Direktor Gérard Théry während der Vorbereitung
       für das Minitel. Mitte der 1970er wurde es entwickelt, ab 1980 gab es erste
       Versuche.
       
       Nun stirbt das Minitel, aber die gedruckten Zeitungen haben überlebt. Doch
       der Anfang war gemacht. Man gewöhnte sich daran, mit Tastatur und
       Bildschirm zu arbeiten, Börsenkurse oder aktuelle Nachrichten zu suchen. Zu
       Beginn der Neunzigerjahre benutzte rund die Hälfte der Bevölkerung das
       Minitel. Es wurde für sie fast unentbehrlich – wie heute der
       Internetzugang.
       
       Zum wirtschaftlichen Schutz der Presseunternehmen erhielten nur Herausgeber
       von Printmedien die Erlaubnis, per Minitel interaktive Informationsdienste
       anzubieten. PTT und Herausgeber teilten sich die Einnahmen aus den
       Gebühren. Dem Telefonunternehmen brachte das Minitel in seiner besten Zeit
       jährlich rund eine Milliarde ein, noch im letzten Jahr waren es immerhin 30
       Millionen Euro. Pierre Moulin-Roussel, ehemaliger Herausgeber der Zeitung
       Libération, ist überzeugt, dass sein Blatt sogar nur dank der unverhofften
       Einkünfte von mehreren Millionen Francs pro Jahr aus „3615 Libé“ überlebt
       habe.
       
       ## Diskutieren und flirten
       
       Die Presseunternehmen, die anfänglich mehrheitlich das Minitel aus Angst
       vor einer unlauteren Konkurrenz heftig bekämpft hatten, entdeckten, dass
       sich ihre Online-Einnahmen noch massiv steigern ließen. Offenbar war das
       Bedürfnis ihrer Leser, anonym mit gleichgesinnten Personen zu diskutieren
       oder zu flirten, enorm. Ohne Rücksicht auf die eigene Telefonrechnung
       verbrachten einige Benutzer Stunden oder ganze Nächte auf diesen neuen
       Minitel-Kontaktdiensten.
       
       Meistens ging es direkt um das Thema Sex. Dieses „Minitel rose“ war
       beispielsweise für den Nouvel Observateur mit „3615 Aline“ ein wahrer
       Jackpot. Nun bekämpften andere, nunmehr aus eher moralischen Gründen, das
       Minitel. Es leite der Pornografie oder Prostitution Vorschub, die
       staatliche Télécom, die dabei mitverdiene, mache sich zum Zuhälter,
       protestierten die Hüter der guten Sitten. Vergeblich.
       
       Der Erfolg brachte aber auch ein anderes Problem mit sich. Weil der
       Bildschirmdienst so gut funktionierte, hätte Frankreich um ein Haar den
       Anschluss ans Internetzeitalter verpasst. Im Ausland begann man bereits
       über die veraltete „Little French box“ zu spotten. Die Franzosen aber
       hatten ihr teures Minitel so lieb gewonnen, dass sie nicht mehr darauf
       verzichten wollten. Mehrfach wurde das definitive Ende hinausgeschoben.
       Jetzt drückt France Télécom Ende Juni auf die Taste „fin den connexion“.
       
       26 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolf Balmer
       
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