# taz.de -- Berichte von Zeitzeugen: Albtraum im Traumland
       
       > Ihre Eltern kamen in der Sowjetunion ins Lager, eine Erfahrung, die ihr
       > Leben prägte. Kinder ehemaliger Häftlinge legten nun in Berlin offen, wie
       > sie in die zerissenen Biografien passen.
       
 (IMG) Bild: Schweigen um die Lagereisenbahn. Was widerfuhr Menschen im Gulag?
       
       BERLIN taz | „Wir wussten etwas, über das man nicht spricht.“ Das sagt
       Andrej Reder, Sohn eines deutschen Kommunisten, der in der Sowjetunion in
       den Gulag gesperrt wurde. Und der auch nach seiner Entlassung Kommunist
       blieb.
       
       Diese Geschichte bewegt heute offenbar viele. Am Dienstag hatte das
       Berliner Literaturforum im Brecht-Haus Nachfahren zum Gespräch über das
       „Traum- oder Albtraumland Sowjetunion“ geladen. Der Raum war überfüllt.
       Neben den Gästen Maik Hamburger, Pawel Lochthofen und Andrej Reder
       erschienen weitere Kinder von Lagerhäftlingen. Die Moderation übernahm die
       Historikerin Annette Leo.
       
       Die Biografien der Betroffenen sind komplex. Maik Hamburger ist 1931 in
       Schanghai geboren. Seine Mutter, die Schriftstellerin Ruth Werner, lebte
       dort mit dem Architekten Rudolf Hamburger. 1943 wurde der Vater in ein
       Lager deportiert und 1952 freigelassen. Maik Hamburger wusste nur vage von
       einem Gefängnisaufenthalt. Erst durch die Memoiren von Werner, der wohl
       bekanntesten sowjetischen Agentin, erfuhr er vom Schicksal des Vaters.
       
       Auch der 1936 in Moskau geborene Andrej Reder wusste lange nichts von der
       Lagerhaft des Vaters. Als Gabriel Reder 1956 nach Thüringen kam, habe man
       ihm die Gefangenschaft zwar angesehen. „Doch hat er sein ganzes Leben lang
       keine Einzelheiten erzählt.“ Die überzeugten Kommunisten Hertha Lewin-Reder
       und Gabriel Reder waren 1935 in die Sowjetunion emigriert, um den
       Sozialismus aufzubauen. Schon in der ersten Welle der Stalin’schen
       Verfolgungen wurde der Vater 1938 verhaftet – als deutscher Spion.
       Zeitgleich suchte hierzulande die Gestapo nach ihm.
       
       ## Sowjetunion bleibt Land der Träume
       
       Pawel Lochthofen ist Jahrgang 1947. Sein Vater ging 1931 nach Moskau, war
       Chefredakteur der Deutschen Zentralzeitung. Ab 1937 war er im Lager, und
       auch Pawel Lochthofen wuchs in Workuta auf. „Ich bin 50 Meter vom
       Stacheldraht geboren“, erinnert er sich. Anders als für Hamburger und
       Reder, die sich die Lebensrealität der Väter mühsam aneignen mussten, sieht
       Lochthofen täglich Häftlingskolonnen. Auch sein Vater spricht über seine
       Haft. Nach der Rehabilitierung 1956 siedelt die Familie in die DDR über.
       Der Vater wurde ZK-Mitglied.
       
       Die Realität der DDR habe der Überzeugung seines Vaters mehr zugesetzt als
       die Zeit im Lager, erzählt Andrej Reder. Erst 2011 hatte Gabriel Reder in
       einer Art Eingeständnis niedergeschrieben, warum er schwieg: Aus Scham
       darüber, dass so etwas in einem sozialistischen Staat geschehen konnte. Für
       die kommunistischen Häftlinge stellte sich die Frage, ob der stalinistische
       Terror systemimmanent war, nicht. Die Sowjetunion blieb für sie ein Land
       der Träume.
       
       Dass er das Nähebedürfnis seines 1955 frei gekommenen traumatisierten
       Vaters nicht erkannte, weil er dessen Geschichte nicht kannte, nennt Reder
       eine „doppelte Tragödie“. Fast durchlebt die zweite Generation die Tragödie
       der ersten noch einmal. „Zu meiner Weltsicht gehört das Primärentsetzen
       über den Nationalsozialismus“, erklärt Hamburger. „Die Sowjetunion war die
       einzige Alternative.“ Auch Reder erschien der Umzug in „das Land der
       Faschisten, die mein Land überfallen hatten“, schlimmer als das grausame
       Leben in der Verbannung: „Das war für mich ein Albtraum.“
       
       Es wäre interessant gewesen zu hören, wie die Kinder der Lagerhäftlinge nun
       ihren Kindern die eigene Geschichte vermitteln. Denn tatsächlich ist die
       zweite Generation noch zu sehr mit der Geschichte der Eltern beschäftigt,
       um über die eigenen traumatischen Erfahrungen sprechen zu können.
       
       27 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sonja Vogel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Gulag
 (DIR) Russland
       
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