# taz.de -- Europa in der Krise: Der verlorene Marktplatz
       
       > Die Finanzkrise, die Krise der Demokratie und der deutsche
       > Finanznationalismus sorgen für hässliche Vorurteile. Was hält Europa im
       > Kern zusammen?
       
 (IMG) Bild: Will man nach diesen Sternen wirklich noch greifen? Graffiti in Athen, wo die Demokratie begründet wurde.
       
       BERLIN taz | Auf jedem x-beliebigen Euroschein ist unten rechts eine Karte
       von Europa abgebildet. Es ist ein merkwürdiger Kontinent, der dort zu sehen
       ist. Die halbe Türkei gehört dazu, dafür fehlt Zypern, in dessen
       griechischem Teil man doch mit dem Euro zahlen kann. Im Osten endet dieses
       Euroschein-Europa mit einem vertikalen Strich willkürlich irgendwo vor dem
       Ural.
       
       Die Frage, wo Europa auf geografischen Karten aufhört, ist keine
       akademische Haarspalterei. Das Argument etwa, dass die Türkei geografisch
       großenteils zu Asien gehört und daher in der EU nichts verloren hat, ist
       eingängig. Überzeugend ist es nicht, jedenfalls wenn man sich die
       wechselvollen Grenzdefinitionen Europas in den letzten Jahrhunderten vor
       Augen führt.
       
       Europa war und ist, das zeigte ein beherzt ideologiekritischer Vortrag des
       Geografen Hans-Dietrich Schultz im Auswärtigen Amt in Berlin, ein äußerst
       dehnbarer Raum. Auf Karten im imperialistischen 19. Jahrhundert reichte es
       mal bis zum Äquator in Afrika oder nach Osten über den Ural hinaus. Während
       des Kalten Krieges schrumpfte es gen Osten und endet auf manchen Karten vor
       Riga.
       
       Der Versuch, geografisch verlässliche Grenzen zu markieren, ist zum
       Scheitern verurteilt. Oder genauer: Geografische Karten sind Texte, die
       keine objektiven Sachverhalte fixieren, sondern Selbstimaginationen der
       Autoren spiegeln. In den gängigen Atlanten firmiert Europa, eigentlich nur
       eine Halbinsel am Rande Asiens, noch immer als Mitte der Welt. Das ist
       unschwer als Echo des Kolonialismus zu begreifen.
       
       Die Frage, ob der Mont Blanc in den Alpen oder der Elbrus im Kaukasus der
       höchste Berg Europas ist, führt in ein Ungefähr, aus dem auch Wikipedia
       nicht heraushilft. Es kommt darauf an, wie man es sieht. Oder im
       wissenschaftliche Sound ausgedrückt: „Alle essenzialistischen
       Raumkonzepte“, so Schultz, sind überholt. Vielleicht könnte auch, nach
       einer Wende zur Demokratie, Nordkorea dazugehören. Alles eine Frage der
       Konstruktion.
       
       ## Diffuse Grenzen
       
       Die Tagung „Lost in Translation? Europabilder und ihre Übersetzungen“,
       veranstaltet vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, der
       Universität Kassel und dem Georg-Eckert-Institut für internationale
       Schulbuchforschung, war wohl als Ort für solche zurückgelehnten
       kulturwissenschaftlichen Reflexionen gedacht, bei denen Kartografie und
       Bilderinszenierungen diskursanalytisch zerpflückt werden sollten. Doch die
       aktuelle Krise kreuzte dieses Konzept. Obwohl nicht nur Europa, sondern
       auch das Reden darüber diffuse Grenzen hat, dreht es sich im Kern um drei
       Phänomene: die Finanzkrise, die Krise der Demokratie und den engherzigen
       deutschen Finanznationalismus, der die EU zu sprengen droht.
       
       Für Gesine Schwan ist Deutschland auf dem Weg in die „nationale
       Regression“. Die Verachtung der Südländer habe nichts mit ökonomischer
       Rationalität zu tun. Dass die Folgen der internationalen Bankenkrise nun
       als Match zwischen fleißigen Deutschen und faulen Griechen inszeniert wird,
       sei verquer. Schwan spielte den sympathischen, wenn auch nicht originellen
       Part der aufgeklärten Deutschen, Europa-affin, postnational und
       grundmisstrauisch gegen deutsche Überlegenheitsideen, die nie zu Gutem
       führen.
       
       In der Tat ist das deutsche Selbstbild, als ewiger Zahlmeister in der EU
       von Faulenzern ausgenutzt zu werden, eine Konstruktion, eine
       Selbstimagination, ähnlich wie die Karten französischer Geografen, die
       Europas Grenze an den Niger verlegten. Der Ökonom Albrecht Ritschl, der
       derzeit an der London School of Economics tätig ist, argumentierte, dass
       die Griechen 846 Stunden im Jahr arbeiten, die Deutschen im Schnitt keine
       700. Es ist erstaunlich, dass davon hierzulande niemand etwas wissen will.
       
       Der deutsche Krisendiskurs scheint hermetisch abgeriegelt zu sein. Jenseits
       der deutschen Grenzen, so Ritschl, ist es unter Ökonomen Common Sense, dass
       der deutsche Export ein zentraler Grund für die Krise ist – nur in
       Deutschland wollen Profession und Öffentlichkeit dies partout nicht
       wahrhaben.
       
       ## Deutsche Selbstbezüglichkeit
       
       Die Kritik an der gefährlichen deutschen Selbstbezüglichkeit ist
       einleuchtend und nötig. Allerdings kann man das Aufflackern nationaler
       Ressentiments, das es nicht nur in Deutschland gibt, auch anders lesen. Die
       EU war bis jetzt eine technokratische Veranstaltung, die die BürgerInnen
       meist achselzuckend hinnahmen. Das Ganze war undurchschaubar, schien aber
       eher nützlich. Nationale Souveränitätsrechte werden seit 20 Jahren nach
       Brüssel übertragen. Bis jetzt hat das die Massen nicht im Herzen bewegt –
       es war ihnen vielmehr meist egal. Vielleicht erleben wir derzeit die
       Entstehung jener europäischen Öffentlichkeit, deren Fehlen in ungezählten
       akademischen Runden und in aufrüttelnden Essays beklagt wurde.
       
       Diese Öffentlichkeit entsteht auf dem Marktplatz, dort wird gefeilscht,
       geflucht und auch verleumdet. Mit dem abgedichteten Raum, in dem die EU als
       Elitenprojekt und Nachtschattengewächs gedieh, ist es offenbar vorbei.
       Jetzt kommen Hässliches und stinkende Vorurteile zu Tage. Es riecht nicht
       gut. Das ist gefährlich, aber vielleicht unvermeidlich.
       
       Bei der Eurokrise geht es nicht nur um Geld und soziale Abstiegsängste. Die
       Demokratie, in Brüssel sowieso ein fragiles, undurchsichtiges Gebilde,
       gerät unter Beschuss. Die Exekutive, so der Historiker Dan Diner, reißt die
       Macht an sich, die Legislative hechelt hinterher. Unter dem Druck von
       permanenter Zeitnot und Beschleunigung droht so die Gewaltenteilung, das
       Fundament der Demokratie, unterspült zu werden. Finanz- und Demokratiekrise
       wirken wie sich brechende Wellen, die sich gegenseitig verstärken.
       
       Doch hinter diesen Krisenszenarien verbirgt sich eine andere, noch
       zentralere Frage: Was hält die EU, jenseits von ökonomischen
       Nützlichkeiten, im Kern zusammen? Ein Euro-Crash wäre mehr als ein
       politischer Unfall. Er wäre der schlagende Beweis, dass die Idee, dass es
       immer mehr Europa und immer weniger Nationalstaatlichkeit geben soll,
       gescheitert ist. Wie stark sind also jene Bindekräfte in Europa, die Märkte
       und Politik nie selbst hervorbringen können?
       
       ## Es fehlen Affekte
       
       Wer diese Sinnressourcen ausfindig machen will, bewegt sich auf
       unübersichtlichem Terrain. Gewiss ist, wie Jutta Limbach, Expräsidentin des
       Bundesverfassungsgerichts meinte, der Verfassungsstaat eine verbindende
       europäische Errungenschaft. In Athen wurde die Demokratie begründet, in
       England der Parlamentarismus, in Italien und Deutschland der Föderalismus
       entwickelt und in Frankreich wurden die Menschenrechte etabliert.
       
       Verfassungen muss man hoch schätzen – aber mit der affektiven Aufladung ist
       es schwierig. Der ehrwürdige Verfassungspatriotismus war und ist ein
       typisches Produkt der Bundesrepublik, dessen Exportchancen (leider)
       geringer als die des deutschen Maschinenbaus sind. Und die EU-Verfassungen
       sind Spezialistenwissen.
       
       Bei der Historie, die gern in Krisenzeiten als Sinnspeicher aufgerufen
       wird, sieht es auch nicht gut aus. Die totalitären Schrecken des 20.
       Jahrhunderts haben in Ost und Westeuropa geteilte Opfer- und
       Erinnerungsgemeinschaften hinterlassen. Daraus brauchbare positive
       Selbstbilder zu schöpfen, die stabilisierend wirken, ist wenig
       aussichtsreich.
       
       Ist also die Kulturgeschichte jenes unmerkliche, aber stabile Band, das die
       Bürger in Rom und Patras, Paderborn und Lissabon verbindet? Ist uns als
       Europäern eine gewisse Mentalität so selbstverständlich eingepflanzt, dass
       wir es, wie es mit Selbstverständlichem so geht, kaum bemerken? Der
       Kulturwissenschaftler Günther Lottes kam zu einem anderen Ergebnis. Im 18.
       Jahrhundert gab es im europäische Adel bei Habitus und Kleidung, bei Essen
       und Literatur, Codes, die Identität stifteten. Das ist vorbei, seit Europa
       zum Teil des Westens, zum kleineren Bruder der USA geschrumpft ist. Das
       Kulturelle ist damit zur Folklore heruntergedimmt.
       
       ## Auflösung in der Globalisierung
       
       Das christliche Europa ist in der Säkularisierung verblasst und das an
       Cicero und Plato geschulte Bildungsbürgertum in die globale Scientific
       Community diffundiert. Europa, so Lottes Resümee, hat sich in der
       Globalisierung aufgelöst. So mag es sein, wenn man es eng sieht. Allerdings
       erinnert dieser Befund arg an den Kulturpessimismus deutscher
       Oberstudienräte früherer Tage, die regelmäßig das Abendland untergehen
       sahen.
       
       Wahrscheinlich ist das europäische Selbstbewusstsein etwas Flüssiges, das
       man verfehlt, wenn man es mit nationalstaatlichen Begriffen zu fassen
       versucht. Gerade in diesem Flüchtigen mag der EU-Bürger in Barcelona,
       Passau oder Bratislava auf der Höhe der Zeit sein. Die Zeit starrer
       Identitäten ist vorbei.
       
       Das flexible, stets wandelbare Individuum ist gefragt, mit allen
       Zumutungen, die dazu gehören. Dieses Individuum bekennt sich nur situativ
       zu Kollektiven und switcht munter zwischen Europäischem, Regionalem,
       Nationalem. Mag sein, dass die Eurokrise der Test ist, ob mit dieser
       Mentalität Staat zu machen ist. Oder so etwas Ähnliches wie ein Staat.
       
       9 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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