# taz.de -- Ende des Wachstums in Indien: „Die Demokratie hat versagt"
       
       > Der Linksintellektuelle Praful Bidwai über das Ende des indischen
       > Wachstumsbooms – dieser hat den Armen nichts gebracht. Und über das
       > Versagen der politischen Parteien.
       
 (IMG) Bild: Vor geschlossenen Läden kann man wenigstens spielen: Hyderabad.
       
       taz: Herr Bidwai, Indiens Wirtschaftsboom lässt nach. Wächst damit wieder
       das Sendungsbewusstsein der indischen Linksintellektuellen, die wie Sie
       seit 20 Jahren die Entwicklung kritisieren? 
       
       Praful Bidwai: Sie haben recht: Ich habe dieses Elitewachstum nie für
       nachhaltig gehalten. Seine wirtschaftlichen, politischen und ökologischen
       Grenzen waren stets erkennbar. Es fehlt nun an Nachfrage, weil die Massen
       im Boom der letzten 20 Jahre nichts dazugewonnen haben. Hinzu kommen
       temporäre Umstände wie die Eurokrise, die den Mut der Investoren
       untergräbt. Dann geht das Wachstum runter.
       
       Interessiert Sie das denn? Wenn das Wachstum den Leuten nichts nützt, ist
       es doch egal. 
       
       Es geht um die politischen Folgen. Die Wachstumsschwäche löst gerade eine
       starke Reaktion der indischen Rechten aus. Sie fordert jetzt eine zweite
       Reformphase: noch mehr Liberalisierung, Abschaffung der Arbeitsgesetze,
       Beschleunigung der Industriegenehmigungsverfahren entgegen allen
       Umweltgesetzen.
       
       Das klingt, als hätte vom indischen Sozialismus des 20. Jahrhunderts noch
       viel überlebt? 
       
       Viele Probleme sind unverändert. Unsere Umweltgesetze wurden nie verstärkt.
       Deshalb haben wir nun eine Umweltkrise. Die Wasserverschmutzung betrifft
       alle, die Verwüstung schreitet voran, die Flüsse sind vergiftet. Nach
       Schätzungen konservativer Wirtschaftsforscher verschlingen Umweltschäden
       heute 7 bis 10 Prozent unseres Sozialprodukts. Trotzdem lockern wir die
       Umweltgesetze.
       
       Das stimmt doch nicht. Das neue Waldgesetz von 2006 sichert den 100
       Millionen Ureinwohnern Rechte an ihren Lebensgebieten und verbietet so
       unzählige neue Industrieprojekte. Sogar Indiens größtes Stahlprojekt wurde
       gestoppt. 
       
       Aber das Gesetz wird nur in Ausnahmen umgesetzt. Nur 10 Prozent der
       betroffenen Ureinwohner sind heute in den neuen Gesetzesprozess einbezogen.
       
       Ist die seit 2005 regierende Kongresspartei nicht längst von der
       neoliberalen Reformpolitik früherer Jahre abgerückt? 
       
       Die Neoliberalen in Indien waren noch nie auf dem Durchmarsch, sie
       marschieren langsam. Die Kongresspartei regiert vorsichtig, aber hat die
       Grundrichtung nicht verändert: Es geht immer nur um die nächste
       Deregulierungsmaßnahme.
       
       Warum sind dann so viele Unternehmer frustriert? 
       
       Unternehmer bekommen nie genug. Die eigentlich Leidtragenden sind nicht
       sie. 75 Prozent der Inder haben immer noch nicht genug zu essen. 50 Prozent
       der Kinder sind unterernährt mit der Folge eine der weltweit höchsten
       Kindersterblichkeit. An dieser Katastrophe hat sich trotz der längsten und
       größten Wachstumsperiode in unserer Geschichte nichts geändert.
       
       Aber glaubt nicht doch eine Mehrheit der Inder an den Erfolg des eigenen
       Landes? 
       
       Die Mehrheit der Mittelklasse glaubt an eine goldene Zukunft, die arme
       Bevölkerungsmehrheit weiß davon nichts. Jeden Morgen sehe ich vor meiner
       Tür in Delhi, wie sich Tischler, Klempner und Maler anstellen, um Tagesjobs
       zu bekommen. Ihre Schlangen sind über die Jahre immer länger geworden. Das
       Wachstum des Arbeitsmarkts liegt unter 2 Prozent. Über 90 Prozent der
       Beschäftigten müssen mit dem informellen Sektor Vorlieb nehmen, in dem die
       Löhne nicht mal die Ernährung sichern. Die Landwirtschaft steckt in einer
       großen Krise. Viele Bauern müssen wegen hoher Bewirtschaftungskosten ihre
       Felder aufgeben.
       
       Wenn es stimmt, das alles so schrecklich ist, müsste dann nicht die Linke
       allgemein in Indien viel stärker sein? 
       
       Es gibt ja viel Kritik, vor allem zivilen Widerstand gegen lokale Projekte.
       Überall in Indien wehren sich Leute gegen ihre Umsiedlung und die
       Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Aber der Widerstand findet keine
       politische Umsetzung. Die politischen Parteien hören ihm nicht zu.
       
       Mit guten Grund: weil der Widerstand keine Gesamtperspektive für das Land
       bietet. 
       
       Meist doch. An jedem neuen Standort für Atomkraftwerke gibt es heute
       hartnäckigen lokalen Widerstand. Doch keine nationale Partei traut sich auf
       Antiatomkurs zu gehen, der auch wirtschaftlich sinnvoll wäre.
       
       Ist Ihr Glauben an die indische Demokratie heute erschüttert? 
       
       Was freie Wahlen und demokratische Procedere betrifft, ist alles okay. Was
       den Respekt der Menschenrechte und die Teilnahme der Menschen am
       politischen Entscheidungsprozess betrifft, versagt Indiens Demokratie.
       
       14 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Blume
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
       
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