# taz.de -- Wenn Biomarker und Gentests entscheiden: Die Gesundheitsdiktatur
       
       > Die Pharmabranche verspricht: Jeder bekommt seine individualisierte
       > Medizin. Aber die „Gesundheitsdiktatur“ ist sehr teuer und birgt Gefahren
       > für den Patienten.
       
 (IMG) Bild: Züchtung von Zellkulturen im Labor.
       
       BERLIN taz | Es ist ein Zauberwort, das Hoffnungen weckt. Und völlig
       falsche Vorstellungen aufruft. Individualisierte Medizin – auch als
       personalisierte Medizin in Umlauf –, das klingt nach dem guten alten Doc
       von der Praxis am Bülowbogen, der seinen Patienten tief in die Augen schaut
       und sofort weiß, wo der Schuh drückt.
       
       Würde man einen dritten, nicht so verbreiteten Begriff benutzen, nämlich
       stratifizierte Medizin, käme man der Sache deutlich näher, aber kein Mensch
       würde das verstehen. Und vor allem ließe sich das kaum verkaufen.
       
       Mit intensiver ärztlicher Zuwendung hat diese neue Richtung der
       medizinischen Forschung nichts zu tun, eher im Gegenteil. Vielmehr geht es
       darum, auf Grundlage von biologischen Messdaten und Biomarkern
       Patientengruppen zu identifizieren und passgenaue Medikamente und Therapien
       für sie zu entwickeln.
       
       Die genetischen Tests wiederum versprechen Auskunft über gegenwärtige und
       erwartbare Krankheiten. Es handelt sich also um eine Mischung aus
       Risikovorhersage und gezielter Intervention, die zwei Geschäftsfelder
       verbindet: die Gentest-Anbieter und die Pharmaindustrie.
       
       Unter dem Stichwort Gesundheitsforschung kündigte der schwarz-gelbe
       Koalitionsvertrag an, den Weg für die individualisierte Medizin zu ebnen.
       5,5 Milliarden Euro hat die Bundesregierung dafür bereitgestellt; die
       britischen Nachbarn wuchern in diesem Segment sogar mit 50 Milliarden
       Pfund.
       
       ## Patienten mit bestimmten genetischen Dispositionen
       
       Ein prominentes Beispiel ist die Krebsforschung. Am Deutschen
       Krebsforschungszentrum in Heidelberg lagert die bundesweit größte Sammlung
       von Gewebeproben von Krebspatienten. Die Masse des Datenmaterials erlaubt
       es, Patientengruppen zu identifizieren mit bestimmten genetischen
       Dispositionen, die sie ansprechbar machen für eine bestimmte Therapie.
       
       Ein vom Zentrum angebotener Gentest etwa soll zeigen, ob ein bestimmtes
       Chemotherapeutikum bei einem Patienten angewandt werden sollte oder nicht.
       Ähnliches gibt es in anderen Bereichen, insbesondere in der
       Arzneimittelforschung: Weil jeder Mensch einen anderen Stoffwechsel hat und
       Wirkstoffe unterschiedlich aufnimmt, schlagen Medikamente oft nicht in der
       erwünschten Weise oder gar nicht an; man geht von einer Wirkungseffizienz
       zwischen 30 und 80 Prozent aus.
       
       Statt im Trial-and-Error-Verfahren also möglichst viele Patienten mit einem
       Blockbuster-Präparat zu beglücken, scheint es vernünftiger, nur diejenigen
       zu bedienen, die von einer Pille auch etwas haben. Das spart Zeit,
       vermeidet Nebenwirkungen und ist billiger.
       
       In der Theorie klingt das überzeugend, was von der Pharmakogenetik einmal
       angestoßen wurde und durch das immer kostengünstiger werdende
       Hochdurchsatz-Screening – also die Möglichkeit, Millionen von
       biochemischen, genetischen und pharmakologischen Tests in kurzer Zeit
       durchzuführen – ermöglicht wird. Wer will sich schon einer Therapie
       unterziehen, die nichts nützt, oder Pillen nehmen, die einem gar schaden?
       
       ## Hochsensible Bioinformationen
       
       Aber so leicht, wie die individualisierte Medizin am Horizont aufscheint,
       ist das neue Gesundheitsparadies denn doch nicht. Zunächst setzt eine
       genombasierte gruppenorientierte Medizin eine riesige Datenflut voraus,
       denn nur gut charakterisierte Gruppen, die gegenüber dem, was „normal“ ist,
       abgegrenzt werden können, erlauben es, Genomtypen und Risikoprofile
       herauszufiltern. Bioinformationen sind jedoch hochsensibel: Wo werden sie
       gelagert, wer darf über sie verfügen, und was wollen Patienten überhaupt
       wissen?
       
       Darüber hinaus liefert die personalisierte Medizin den Vorwand, große Teile
       der Bevölkerung unter die Lupe zu nehmen. Mit 200.000 Probanden baut die
       Universität Greifswald nach dem Vorbild Islands derzeit gerade die erste
       „Nationale Kohorte“ auf, andere werden wohl folgen.
       
       Datenschutz- und Informationsschutzbedenken sind auch nicht dadurch zu
       entkräften, dass man, wie die Sozialwissenschaftlerin Barbara Prainsack,
       von der Brunel University in London, auf der Jahrestagung des Deutschen
       Ethikrats im Mai diesen Jahres, auf den „entspannteren Umgang“ der
       Bevölkerung mit Gesundheitsdaten verweist.
       
       Die „partizipatorische Wende“ in der Medizin wird im Gegenteil geradezu auf
       den Kopf gestellt, wenn sich Patienten plötzlich einer Praxis ausgeliefert
       sehen, die nur noch auf dem Aussagewert biologischer Daten basiert. Welche
       Rolle spielt in einem solchen Szenario überhaupt der Arzt, wird er nur noch
       als technischer Dienstleister befragt, der den Patienten aufgrund von
       Laborproben und Tests behandelt? Und handelt es sich bei der
       personalisierten Medizin nicht um eine Rückkehr zu einem längst überwunden
       geglaubten biologischen Determinismus?
       
       ## Soziomarker zur Risikobeschreibung
       
       Er sei ja schon zufrieden, gab der Sozialmediziner Heiner Raspe von der Uni
       Lübeck auf der Tagung sarkastisch zu Protokoll, wenn bei der
       Risikobeschreibung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen vielleicht auch
       Soziomarker wie der Wohnort einbezogen würden.
       
       Das größte Problem der individualisierten Medizin ist indessen der Zugang.
       Einmal davon abgesehen, dass die Hochleistungsmedizin ohnehin immer nur in
       der westlichen Welt zum Einsatz kommt, stößt der Stratifizierungsansatz
       generell auf Bedenken.
       
       Kritiker halten es nämlich kaum für vertretbar, Patienten aufgrund einer
       frühen molekularen Identifizierung von einer Therapie auszuschließen.
       Außerdem könne niemand dafür garantieren, dass eine falsche
       Risikoklassifikation Patienten eine Therapie vorenthält, von der sie
       profitieren könnten.
       
       Jürgen Windeler vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
       Gesundheitswesen (IQWIG) gehört zu den engagierten Gegnern dieses
       sogenannten Enrichment Design, das nur für die markerdefinierte
       Patientengruppe den medizinischen Zusatznutzen misst.
       
       ## Duch den Rost gefallen
       
       Je nachdem nämlich, in welcher Gruppe ein Patient landet, wird er gar nicht
       weiter berücksichtigt und fällt am Ende ganz durch den Rost. Das sagt aber
       überhaupt nichts darüber aus, ob das Medikament ihm vielleicht nicht doch
       helfen würde.
       
       Dem halten die Vertreter der individualisierten Medizin allerdings
       entgegen, dass langwierige evidenzbasierte Studien umgekehrt manchen
       Patienten zum Tode verurteilten, wenn ihnen ein eigentlich verfügbares
       Medikament vorenthalten würde.
       
       Die Erhebung von Risikopopulationen und therapeutischem Gruppennutzen
       fordert aber auch das auf Solidarität gründende deutsche Gesundheitssystem
       heraus. Denn die personalisierte Medizin, geben unter anderem
       Sozialmediziner und Kassenvertreter zu bedenken, zieht nicht nur Mittel aus
       der öffentlichen Gesundheitsversorgung ab, sondern sprengt das gesamte
       System.
       
       150 Milliarden Euro, schätzt Hardy Müller von der Technikerkrankenkasse,
       würde es kosten, wenn alle Patientengruppen nach diesem Prinzip behandelt
       würden; völlig unfinanzierbar bei einem Gesamtvolumen der Gesetzlichen
       Krankenversicherung von 180 Milliarden.
       
       ## „Kostentreiber par excellence“
       
       Dass die individualisierte Medizin Kosten sparen hilft, glauben selbst ihre
       Verfechter nicht. Bärbel Hüsing, Wissenschaftlerin am Fraunhofer-Institut
       für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe und Hauptautorin
       eines vom Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB) des Bundestags bestellten
       Forschungsberichts, geht sogar davon aus, dass sie uneingedämmt „zum
       Kostentreiber par excellence“ werden könnte. Und viele Tests sind bislang
       nicht einmal aussagekräftig. Deshalb ist die stratifizierte Medizin auch
       nur für solche Firmen wirklich interessant, die wie der Roche-Konzern
       Diagnostika und Pharmazeutika unter einem Dach entwickeln.
       
       Völlig unterbelichtet bleibt bei der Diskussion über die individualisierte
       Medizin – diesem „unter falscher Flagge segelnde Schiff“, wie Heiner Raspe
       provozierend behauptet – die Frage, was die Verschiebung von der
       Akutmedizin auf eine vorausschauende und vorbeugende Intervention für unser
       Gesundheitsverständnis bedeutet. Denn betrachtet man den Menschen nur noch
       als ein Bündel aus Risikofaktoren, über das er prinzipiell Bescheid wissen
       könnte, wäre er künftig ganz anders in die Gesundheitspflicht zu nehmen.
       
       Aber jeder Mensch weiß auch ohne aufwändige Differenzialdiagnostik, dass
       beispielsweise Rauchen schädlich ist und mit Herz-Kreislauf-Risiken
       einhergeht. Die Tatsache, dass jemand um sein Krankheitsschicksal weiß,
       bewegt ihn nicht unbedingt auch zu vernünftigerer Lebensweise.
       
       „Wir haben die Methode entwickelt“, heißt es in Juli Zehs berühmtem Science
       Fiction Corpus Delicti, „jedem Einzelnen ein möglichst langes,
       störungsfreies, das heißt gesundes und glückliches Leben zu garantieren.
       Frei von Schmerz und Leid.“ Die individualisierte Medizin könnte ein
       Baustein werden auf dem Weg in eine solche Gesundheitsdiktatur.
       
       20 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Baureithel
       
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