# taz.de -- Debatte um Beschneidung: „Es ist ein genitales Trauma“
       
       > Angstattacken und gestörte Orgasmen können aus einer Beschneidung
       > resultieren, sagt Psychotherapeut Matthias Franz. Er fordert eine breite,
       > sensible und politische Diskussion.
       
 (IMG) Bild: Beschneiden oder nicht beschneiden?
       
       taz: Herr Franz, Sie sagen, dass die Beschneidung von Jungen immer ein
       Trauma ist. Woraus schließen Sie das? 
       
       Matthias Franz: Die Beschneidung ist ein medizinisch grundloser,
       irreversibler Eingriff, die schmerzhafte Entfernung eines Körperteils. Die
       kollektive Empathieverweigerung, die hinter dieser Frage steckt, übersieht
       völlig, dass ein biologisch funktionales, wichtiges Stück Gewebe entfernt
       wird. Jede verletzende Intervention im Bereich des kindlichen Genitals ist
       ein Trauma.
       
       Ist dabei relevant, wann die Beschneidung stattfindet? 
       
       Bei einem Neugeborenen rast das Herz, es schreit kläglich, zeigt eine
       schmerzverzerrte Mimik, Stresshormone werden ausgeschüttet. Es sind auch
       anhaltende Stressfolgen nachweisbar. Wenn man den Säugling ein halbes Jahr
       später impft, dann reagiert er mit einer sehr viel heftigeren
       Schmerzreaktion. Außerdem fällt die Beschneidung des Neugeborenen in eine
       hochsensible Phase, in der sich die Mutter-Kind-Bindung entwickelt. Dieser
       komplexe Vorgang kann empfindlich gestört werden.
       
       Nun heißt es ja, dass eine fachgerecht durchgeführte Beschneidung nicht zu
       so großen Schmerzen führt. 
       
       Das ist ein Irrtum. Auch im Falle einer Betäubung bleibt der postoperative
       Wundschmerz. Der Säugling muss tage-, und wenn es Komplikationen gibt,
       sogar wochenlang starke Schmerzen erleiden.
       
       Ist das bei Älteren anders? 
       
       Wenn Jungen mit fünf oder sechs Jahren beschnitten werden, befinden sie
       sich in der Konsolidierungsphase ihrer sexuellen Identität. Das Genital ist
       narzisstisch und libidinös hoch besetzt. Genau in diese Phase fällt die
       rituelle Kastrationsandrohung der Beschneidung. Kulturgeschichtlich
       unterstellt dieses Ritual Sexualität dem Primat des Patriarchats. Die
       Drohung heißt im Erleben vieler Jungen: Wenn du nicht tust, was Gott und
       deinem Vater gefällt, könntest du wieder beschnitten werden. Der Junge kann
       seine Eltern dafür nicht offen kritisieren. Er wird sich wahrscheinlich
       loyal an der Sexualmoral der Bezugsgruppe orientieren und diese später
       vielleicht mit durch Strenge verdeckter Angst von anderen einfordern.
       
       Rigides Festhalten an traditionellen Ehrbegriffen ist eine Folge der
       Beschneidung? 
       
       So einfach ist das sicher nicht. Aber konkret erlittener patriarchaler
       Zwang kann schon einen enormen Sozialisationsdruck ausüben.
       
       Die Beschneidung hält also das Patriarchat aufrecht? 
       
       So weit würde ich nicht gehen. Aber eine starke Kontrolle weiblicher
       Sexualität könnte ihre Energie auch aus dieser Angsterfahrung beziehen: Die
       Frauen, die ich – wie früher meine Mutter – liebe, könnten mich auch wieder
       enttäuschen und zulassen, dass mir etwas Böses angetan wird, wenn ich sie
       begehre. Ihre Reize sind deshalb gefährlich und müssen kontrolliert werden.
       
       Würden Sie sagen, alle beschnittenen Männer sind grundsätzlich
       traumatisiert? 
       
       Sie haben alle ein genitales Trauma erlitten. Es ist sicher nicht so, dass
       das bei allen auch zu einer seelischen Beeinträchtigung führt. Es kommt
       darauf an, ob man dieses Trauma in einer empathischen Umgebung verarbeiten
       konnte oder ob man mit Schmerz und Ängsten allein blieb. Bei der weiblichen
       Beschneidung gibt es dagegen eine hohe Sensibilität. Da ist zu Recht jede
       Verstümmelung, aber auch jede noch so kleine rituelle Verletzung verboten.
       
       Die jüdische Gemeinde will die Beschneidung keinesfalls infrage stellen.
       Verstehen Sie das? 
       
       Ja, das finde ich verständlich. In Genesis 17, worauf sich religiöse Juden
       beziehen, steht kodiert: Du darfst Kinder – also Sex – haben, aber nur zu
       meinen Bedingungen, und damit du dir das gut merkst, musst du mir deine
       Vorhaut geben. Gott wird hier als „El Shaddai“ bezeichnet, eine
       interessante Ausnahme. Normalerweise heißt er „Elohim“ oder „Jahwe“. „El
       Shaddai“, so vermutet man, war ein ugaritisch-syrischer Berggott mit
       phallisch-kastrierendem Zerstörungspotenzial, also eine uralte Deifizierung
       eines patriarchalen Machtanspruchs. Dieser Gott droht Abraham: Wenn du dich
       nicht an meine Regeln hältst, rotte ich dich aus. So kann man verstehen,
       warum gläubige Juden, gerade auch angesichts der Schoah, bis heute massive
       Angst haben, nicht beschnitten zu sein.
       
       Wie kann sich das Beschneidungstrauma physisch äußern?
       
       Gewebe etwa an der Eichel kann absterben, wenn die Heilung schlecht
       verläuft, narbige Verwachsungen können eine Erektion und den
       Geschlechtsverkehr schmerzhaft machen. Es gibt eine neue dänische Studie,
       die belegt, dass beschnittene Männer dreimal häufiger über
       Sensibilitätsstörungen mit einem gestörten Orgasmuserleben berichten als
       unbeschnittene.
       
       Nun sollen solche Komplikationen nicht oft vorkommen. 
       
       Tja, was heißt nicht so oft? Opfer müssen erbracht werden? Der Betroffene
       verzweifelt jedenfalls. Die Komplikationsraten schwanken zwischen 0 und 16
       Prozent. In der Einverständniserklärung, die Eltern vorher unterschreiben,
       wird vor all diesen Komplikationen gewarnt. Diese Risiken würde man
       freiwillig vielleicht nicht eingehen.
       
       Und welche psychischen Folgen beobachtet man? 
       
       Die Beschneidungserfahrung wird individuell und über die Zeugenschaft im
       unbewussten Stressgedächtnis des Gehirns gespeichert. Wenn sie dann in
       einer ganz anderen Situation, etwa durch Infragestellung der Männlichkeit,
       wieder assoziativ angesprochen wird, kann ein Mann an Angstattacken oder
       sexuellen Funktionsstörungen leiden, die er sich nicht erklären kann.
       
       Warum hört man von diesen Leiden so wenig? 
       
       Die Betroffenen schämen sich. Sie fühlen sich nicht nur in ihrer
       Männlichkeit beschädigt, sondern sie müssten sich auch eingestehen, dass
       ihre Eltern das zugelassen haben. Das ist sehr schwierig. Vielleicht ändert
       sich etwas, wenn sich die Betroffenen outen und es zu hohen
       Schadenersatzforderungen kommt.
       
       Spielt auch das Rollenbild mit bei dieser Verheimlichung? 
       
       Selbstverständlich. Der Rollenkäfig funktioniert immer noch. Zu selten
       fordern Männer Hilfe ein.
       
       Ein Thema für Männerministerin Kristina Schröder? 
       
       Ja, bitte! Sie sollte das Thema unbedingt aufgreifen. Stattdessen heißt es,
       die Beschneidung bei Jungen müsse erlaubt sein. Das ist schade für dieses
       junge Politikfeld. Wir müssen mit dem Thema der Jungenbeschneidung raus aus
       der Fachdiskussion und rein in die Politik.
       
       Doch in der Politik wird so schnell wie möglich eine Regelung gesucht, die
       Beschneidungen bei Jungen erlaubt. 
       
       Die PolitikerInnen wissen genau, dass diese Debatte an schmerzhafte
       interkulturelle Sollbruchstellen rührt. Das macht auch ihnen Angst, und sie
       argumentieren widersprüchlich. Soll jüdisches Leben in Deutschland wieder
       verhindert werden?, hört man. Darum geht es überhaupt nicht. Im Gegenteil!
       Es soll jüdisches und islamisches Leben im Rahmen der geltenden
       Rechtsordnung geschützt werden.
       
       Können Sie das politische Problem nachvollziehen, Juden und Muslimen ihre
       Religionsausübung nicht verbieten zu wollen? 
       
       Ja, absolut. Wir brauchen einen behutsamen Dialog, in dem die Befürchtungen
       und Unsicherheiten aller Beteiligten mit einfließen. Es ist verständlich,
       dass im Judentum und Islam starke Ängste bestehen, auf die Beschneidung zu
       verzichten. Man muss alle Beteiligten mitnehmen, aber bitte auch die
       kleinen Jungen. Das Recht auf freie Religionsausübung ist kein Freibrief
       für Gewalt. Das muss auch Kanzlerin Merkel sehen: Es ist nicht „komisch“,
       wie sie sagt, sich für die sexuelle Unversehrtheit kleiner Jungen
       einzusetzen. Warum gibt es noch keine Expertenhearings zu diesem Thema?
       
       Wie könnten Kompromisse aussehen? 
       
       Das wird man sehen. Vielleicht wartet man, bis die Jungen selbst
       entscheidungsfähig sind – der Islam erlaubt die spätere Beschneidung –, und
       führt zuvor eine symbolische Beschneidung durch. Man kann übrigens im
       Judentum wie im Islam auch unbeschnitten der Gemeinschaft angehören.
       
       Die Politik aber will nicht ruhig nachdenken, sondern möglichst schnell
       eine gesetzliche Erlaubnis der Beschneidung. 
       
       Viele Experten fürchten, dass ein solcher Schnellschuss am Ende vor dem
       Verfassungsgericht landen wird. Ich hoffe, dass spätestens dann endlich
       auch die Belange der Kinder gehört werden. Man soll Kindern nicht wehtun.
       
       25 Jul 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heide Oestreich
       
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