# taz.de -- +++ Live-Kritik Olympia Tag 13 +++: Sylt schlägt Copacabana
       
       > Zuschauen – eine unterschätzte olympische Disziplin. Unser Autor Arno
       > Frank hat alles gesehen, was der Abend bot: 200 Meter, 800 Meter,
       > Zehnkampf, Beachvolleyball.
       
 (IMG) Bild: Alison Cerutti (Copacabana) im Duell mit Jonas Reckermann (Sylt)
       
       23.35 Uhr: Hier endet die Live-Kritik. Gute Nacht.
       
       23.34 Uhr: „Schließlich gibt es im Menschen verschiedene Kräfte, Konflikte,
       Freuden und Ängste. Der Sport verleiht ihnen Ausdruck, befreit sie, bringt
       sie zum Glühen, ohne sie jemals etwas zerstören zu lassen. Im Sport lebt
       der Mensch den fatalen Kampf des Lebens, aber diese Auseinandersetzung wird
       durch das Schauspiel entrückt, reduziert auf ihre Formen, wird ihrer
       Wirkungen, ihrer Gefahren und ihrer Schmach entledigt. Sie verliert ihre
       Schädlichkeit, nicht ihren Elan oder Sinn. Was ist Sport? Der Sport
       antwortet mit einer anderen Frage: Wer ist der Beste? Wer ist der Beste, um
       den Widerstand der Dinge zu übersteigen, die Unbeweglichkeit der Natur? Wer
       ist der Beste, um die Welt zu bearbeiten, sie den Menschen (…) allen
       Menschen (…) zu geben? Das ist es, was der Sport zu sagen hat. Manchmal
       möchte man ihn andere Dinge sagen lassen. Aber dafür ist der Sport nicht
       gemacht“. (Roland Barthes).
       
       23.27: Worum ging's nochmal? Etwa [1][hierum?] Oder doch eher [2][darum?]
       Manche Bilder werden sich für immer [3][einbrennen], [4][andere] [5][auch].
       Wahrscheinlich liegt wieder einmal Banksy nicht ganz [6][falsch],
       wenngleich die Wahrheit wohl [7][banaler] ist.
       
       23.02: Sylt gewinnt.
       
       22.54 Uhr: Irgendwie hat das ZDF das Interesse an der Leichtahtletik
       verloren. Während da sozusagen Sylt gegen die Copacabana spielt, hat
       nebenan auf Europort hat gerade Ashton Eaton Zehnkampf-„Geschichte
       geschrieben“. Wie hier überhaupt seitenweise Geschichte geschrieben wird.
       Die Tränen seiner Freundin, Siebenkämpferin, als sie ihren Sieger umarmt.
       Wie der Lette herumsteht mit ausgestreckter Gratulationshand, mit der er
       sich, weil er länger warten muss, jetzt linkisch durchs Haar fährt. Und
       dann das feine Bild, wie alle Atheleten sich zum Gruppenbild einfinden und
       jubeln, als hätten sie gerade gemeinsam einen Berg bezwungen.
       Wahrscheinlich haben sie das.
       
       22.38 Uhr: Gehört eigentlich die Baseballcap zum Beachvolleyball wie, sagen
       wir, die Schienbeinschoner zum Fußball gehören? Ist das Pflicht? Dann
       sollte es ein Regelverstoß sein, den Schirm in den Nacken zu schieben.
       Wieder haben die Schiedsrichter „etwas nicht richtig gesehen“, sagt der
       Moderator. Und, als die beiden Athleten in einer Pause auf der Bank
       beisammen sitzen: „Leider nicht ganz genau zu verstehen, was die beiden
       hier sprechen“. Stimmt. Eigentlich sollten wir doch schon so weit sein,
       dass automatisch getwittert wird, was die beiden hier denken.
       
       22.22 Uhr: Dieser Bolt ist mir immer um eine Nasenlänge voraus. Er läuft
       schneller, als man schreiben kann. Es ist ein einziges Hinterherhecheln.
       
       22.20 Uhr: Beachvolleyball! Was für ein schönes Wort! Wie das schon klingt!
       Und was es für packende Bilder evoziert. Wann denkt man sich eigentlich:
       Mensch, ich werde Beachvolleyballer! Wahrscheinlich bei Vollmond an einem
       Strand in Goa, es plätschert das arabische Meer und pluckert altmodischer
       Entspannungstechno, im Hintergrund tuckert eine Enfield durch die Felder.
       Es riecht nach Gras. Aber irgendwas stimmt hier nicht. Beachvolleyball, wo
       ist dein Zauber? Wir sind beim Strandflugball der Herren. Deutschland gegen
       Brasilien. Verschwitztes Fuchteln in der Luft. Versuch, sich das als
       Eröffnungssequenz eines Schwulenpornos vorzustellen. Gescheitert. Versuch,
       sich den Geruch zu vergegenwärtigen. Vielleicht wie in einer
       Stierkampf-Arena? Nur statt Schweiß und Blut eben Schweiß und Sonnenöl.
       
       22.03 Uhr: Vor dem großen 200-Meter-Lauf eine Totale ins Stadion, das
       Publikum wie pellettiert vom Blitzen der Knippser. Bei der Vorstellung der
       einzelnen Athleten macht jeder seine eigenen Faxen in die Fernsehkamera.
       Beschwichtigende Bewegungen. Dracula-Gesten. Angedeutete Kopfschüsse.
       Solche Sachen. War das schon immer so? Schuss, Abgang und Einlauf Bolt.
       Nach dem Sieg, verdammt, macht der junge Mann noch ein paar Liegestützen.
       Eigentlich eine Unverschämtheit. Jamaikaner auf den ersten drei Plätzen,
       die schnellste Insel der Welt. Mitten in die allgmeine Happiness über diese
       epochale Leistung hinein platzt plötzlich ein außerirdisches Monstrum. Es
       gibt vor, sich mitzufreuen. Vermutlich plant es aber nur die Entführung von
       Usain Bolt. Oder die Heimholung.
       
       21.49 Uhr: Teenagern beim Springen vom 10-Meter-Turm zuschauen. Junge
       Körper unter totaler Kontrolle. Erst trocken, dann nass. Kennt man ja aus
       dem Freibad, nur springen die Teenager dort nicht so gut. Halten sich dabei
       die Nase zu, solche Sachen; Arschbombe, auch nicht olympisch. Aber im Ernst
       – dieses Zuschauen. Hat das was? Womöglich etwas leicht Perverses? Im Auge
       des Betrachters kann’s nicht liegen. Der denkt an Eindas
       Raumzeit-Kontinuum, weil die Springer für ihre Verzwirbelungen nur 10 Meter
       Raum zur Verfügung haben und die Zeit bis zum Aufprall – besser: Eingleiten
       – ins Wasser. Trotzdem geil.
       
       21.41 Uhr: Zwischendurch immer mal wieder, während im Vordergrund die
       Trainer auf ihre Schützlinge einquasseln, ein Blick auf ganz normale Leute,
       die da im Publikum sitzen. Dicke, Dünne, Dösende, zerstreut an den
       Fingernägeln Kauende, über die Witze ihres Sitznachbarn Lachende. Zuschauen
       – eine unterschätzte olympische Disziplin.
       
       21.33 Uhr: Zur Abwechslung mal wieder ein Qualifikationsrennen: 400 Meter
       Staffellauf der Frauen. Angeblich geht es bei Olympia darum, dass nationale
       Kraftmaschinen vorgeführt werden. Danach sieht beispielsweise eine Leena
       Günther gar nicht aus. Großes Kino aber: Dieser vollkommen irre flirrende
       Blick der Verena Sailer vor dem Startschuss. Und wie beim Laufen die freie
       Hand fächelt, als wär’s eine luftrudernde Schwimmbewegung. Gerne wüsste man
       mal, wofür dieses Staffelholz ursprünglich eigentlich mal stehen sollte, so
       symbolisch. Gehecheltes Interview danach: „Aber sie haben gespürt, dass es
       ein bisschen knapp wird mit der Übergabe?“ – „Nö, eigentlich nicht.“
       
       21.24 Uhr: In der Antike waren die Sportstätten nach allen Seiten offen,
       wie ein Campus. In der Moderne sind die Stadien geschlossen, wie emotionale
       Druckkessel. Der Zuschauer sitzt mit dem Rücken zur Welt und folgt den
       sportlichen Ereignissen irgendwo unten vor ihm oder hinten rechts im weiten
       Rund. Bei seltsamen Sachen wie dem Dreisprung klappt das mit dem
       Druckkessel nicht so richtig. Es hat etwas Robotisches und kann nicht
       wirklich mitreißen, weil es – mit Verlaub – ins Lächerliche kippt.
       
       21.07 Uhr: 800 Meter der Herren. Das ZDF will von seinem Publikum wissen:
       „Ist David Rudisha unschlagbar?“ Rudisha beantwortet diese Frage selbst,
       indem er allen anderen davonrennt und mit Weltrekord gewinnt, als einziger
       Läufer in blutroten Schuhen. Fast alle anderen sind in Gelb unterwegs, in
       der Heraldik das Symbol für, naja, Gold. Immer wieder schön: Der
       martialische Massai-Schild auf der Fahne, in die Rudisha sich hüllt.
       
       20.55 Uhr: Ein kurzer, ganz kurzer Blick auf [8][Usain Bolt], ganz intim im
       Massage-Zelt. Da werden sie geknetet, die Goldfüße des Superstars. Er liegt
       auf dem Bauch, trägt eine Baseballmütze mit den Initialen U und B, dazu
       Kopfhörer. Was da wohl läuft? Wahrscheinlich Elephant Man, ein
       jamaikanischer Popstar. Vielleicht denkt er sich auch gerade etwas Neues
       für die Weltpresse aus. Charles Baudelaire schwärmte einst von der
       „emphatischen Wahrheit der Geste in den großen Momenten des Lebens“, so wie
       Bolts astrale Bogenschützen-Pose. Die Geste sitzt, aber die flinken Augen
       suchen dabei ständig die Fotografen, ob sie’s denn nun alle im Kasten
       haben. Baudelaire hätte das nicht gefallen.
       
       20.43 Uhr: Beim 800-Meter-Lauf startet auch eine Inderin. Es wird gerne
       vergessen, was für ein sympathisches Land dieses Indien doch ist, gerade im
       direkten Vergleich mit China. Runde 1,2 Milliarden Einwohner hat das Land –
       und in Peking gerade mal eine einzige Goldmedaille einfahren können. Oder
       wollen. Dem Hindu liegt das Kompetetive offenbar nicht so im Blut.
       Abgesehen davon, auch sehr schön: Die immer leicht verwischten Zielfotos an
       der Ziellinie beim Rennen, wie sie auf bezaubernde Weise den Darstellungen
       antiker Läufer auf attischen Vasen gleichen, nur farbenfroher.
       
       20.08 Uhr: Der Zehnkämpfer (also der Zehnkämpfer als solcher) rührt, weil
       er gewisse Disziplinen „nicht so gut“ kann wie andere, also sozusagen
       eingebaute Schwächen hat. Wenn der Speer noch wippend im Rasen steckt,
       laufen schon die Wurfrichter hin und sehen in ihren dunklen Anzügen aus wie
       Bankbeamte beim Grillfest. Die beiden deutschen Sportler dagegen wirken,
       wie sie so mit ihren strengen Haarschnitten nebeneinandersitzen und ohne
       ihnen zu nahe treten zu wollen, wie ein U-Boot-Kapitän aus dem Zweiten
       Weltkrieg und sein Erster Offizier. Ah! Zusammenschnitt Hockey nochmal, vom
       Halbfinale am späten Nachmittag. Wundervoll das Spielfeld, blau wie ein
       Stück Land-Art von Yves Klein.
       
       19.54 Uhr: „Schick schauen sie aus, die Tschechen. Blaue Gummistiefel! Nur
       auffallen durch die Kleidung, das wäre fatal. Aber wenn man dann noch eine
       Leistung in die Kleidung reinstecken kann, das wäre ideal“, bramarbasiert’s
       auf Eurosport zur Siegerehrung für [9][400-Meter-Hürden]. Während der Hymne
       Zoom auf das Gesicht der russischen Siegerin mit den aufgemalten
       Augenbrauen. Die ist gerührt, atmet schwer, kämpft gegen die Tränen und
       trägt auch da einen Sieg davon. Unterdessen schwärmt der Kommentator weiter
       von den Gummistiefeln der Tschechinnen. Seltsamer Fetisch.
       
       19.40 Uhr: Unser neuer Held: Damian Warner, Zehnkämpfer aus Kanada. Er ist
       der erste, wirklich allererste Sportler gleich welchen Geschlechts, der
       seine Achselhaare nicht rasiert hat. Hoffentlich wird er deswegen nicht
       disqualifiziert. Damian Warner. Merken, den Namen! Gerade sind die
       Zehnkämpfer bei Eurosport am Speerwerfen, noch so eine original
       griechische, naja, „Sportart“. Anstelle der markierten Linien auf dem Feld
       sollten dort eigentlich persische Soldaten stehen, dann wäre die antike
       Illusion perfekt. In der Zeitlupe kann man, wenn der Athlet loslässt, immer
       eine kleine Kreidewolke erkennen, wie der Qualm bei einer Schusswaffe.
       
       19.29 Uhr: Kinder, wie die Zeit vergeht. Zur Einstimmung auf den Zehnkampf
       stehen da plötzlich Jürgen Hingsen und Daley Thompson nebeneinander, Platz
       5 und Plkat 6 der „ewigen Weltrangliste“. Die meisten Menschen haben diese
       beiden Sportler zuletzt in den Achtzigerjahren gesehen, und auf einmal sind
       die Schnauzbärte grau oder sogar ganz abrasiert. Man ahnt: Auf das Alter
       will mit Sportlichkeit getragen werden.
       
       18.52 Uhr: Bei der Anmoderation der BMX-Viertelfinalläufe erklingt
       hochmoderner Dubstep. Das ist cool. Der Kurs dagegen, sanft gewellte
       Betondünen mit frisch verlegtem Rollrasen dazwischen, erinnert fatal an die
       Kulisse der „Teletubbies“. Das ist weniger cool. Der Deutsche Luis
       Brethauer sei „ein geschickter Mann, der hat Rennintelligenz, der hat ein
       Näschen“. Führend in diesem Sport sind übrigens, wie schon beim Surfen oder
       dem Skateboarden, die USA.
       
       18.40 Uhr: Und noch 'ne neue Disziplin: „Million Dollar Baby“
       beziehungsweise [10][Frauenboxen]. Irland gegen Russland. Die
       Teilnehmerinnen müssen „bestätigen, dass man nicht schwanger ist“. Schön,
       dass die Ringrichterin zum weißen Hemd eine Fliege trägt, das lässt die
       ganze Veranstaltung ins lasvegashafte lappen. Es gewinnt die Irin. „Und
       damit zurück nach Mainz“. Huch! Eine Aufzeichnung! So kann man sich
       täuschen, wenn man zwischendurch schnell in der Küche nach dem Spinat
       schauen muss.
       
       18.35 Uhr: Erstmal sitzen da bei Michael Steinbrecher auf dem
       auswurffarbenen ZDF-Sofa zwei siegreiche Kanutinnen (Kanutinen?
       Kanuteusen?) mit ihren Goldmedaillen und fragen sich, warum sie sich das
       antun („Es ist oft wirklich ekelhaft. Es regnet, es ist kalt …“). Sind
       eigentlich alle deutschen Sportlerinnen blond, jetzt mal abgesehen von
       dieser dieser Hochspringerin mit den [11][lila Haaren]?
       
       Trockener zu geht es übrigens bei Hula-Hoop. Bodenturnen, what have you
       become? Mädchen in glitzernden Ballettkleidchen kämpfen mit dem Reifen,
       dazu läuft dramatische Musik aus dem klassischen Bereich. Moment! Ist das
       Sibelius?
       
       18.15 Uhr: Was gibt’s denn heute Abend Leckeres? Mal sehen, hmm.
       Wasserball. Ein Sport, der weitgehend unter der Oberfläche stattfindet.
       Also das Gegenteil von Pop. Turmspringen, feine Sache. Beachvolleyball
       [12][(„Yeah“!)] der Männer („Och nööö…“). Dann doch lieber Halbfinale im
       Volleyball der Frauen zwischen Brasilien und Japan, gleichzeitig mit dem
       Endspiel im [13][Frauenfußball] zwischen den USA und Japan. Japan, Japan,
       Japan.
       
       Highlight: Das Finale im 200-Meter-Lauf mit [14][Usain Bolt,] dem
       schnellsten Extremjogger aller Zeiten. Und natürlich das Finale im
       Freistil-Ringen in den Gewichtsklassen 55 und 72 Kilogramm. Wirklich? Es
       gibt Leute, die wiegen nur 55 Kilogramm und versuchen, andere Magersüchtige
       auf die Matte zu legen? Immerhin – eine klassische olympische Disziplin, so
       richtig wie von 2000 Jahren.
       
       18.00 Uhr: Je länger man sich das olympische Logo von London anschaut, umso
       mehr sieht es so aus, als zeige es eine mit ihrem Bruder Bart Simpson
       Oralverkehr praktizierende Lisa. [15][Once you see it, it cannot be
       unseen].
       
       Was gibt es an einem normalen Abend bei den Spielen zu entdecken, wenn man
       sich unvoreingenommen und ohne den leisesten Anhauchs sportlichen
       Interesses vor den Fernseher setzt? Nach [16][Maik Söhler und Svenja
       Bednarczyk] in der vergangenen Woche folgt nun die zweite Livekritik auf
       taz.de.
       
       9 Aug 2012
       
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