# taz.de -- 20 Jahre Pogrom in Lichtenhagen: In Feindesland
       
       > Applaudierende Bürger und prügelnde Nazis: Sie waren die Mehrheit, aber
       > nicht die einzigen. Auch Antifaschisten versuchten nach Lichtenhagen zu
       > kommen. Vergeblich.
       
 (IMG) Bild: The day after: Der 25. August 1992 vor dem am 24. August angezündeten Sonnenblumenhaus.
       
       Die Erinnerung an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ist geprägt von den
       Bildern des wütenden Mobs, der fliehenden vietnamesischen Gastarbeiter und
       den applaudierenden Anwohnern. Doch waren sie nicht die einzigen, die in
       jenen Tagen vor dem Sonnenblumenhaus standen.
       
       Aus Rostock selbst, aber auch aus Berlin und Hamburg angereist, versuchten
       diverse – vor allem dem aktiven Antifa-Spektrum zuzuordnende – Gruppen und
       Einzelpersonen in das Geschehen einzugreifen. Die Kommunikation lief dabei
       vornehmlich über das im Rostocker Stadtzentrum gelegene
       Jugendalternativzentrum, das JAZ.
       
       Wie viele Menschen in den Tagen der Ausschreitungen versucht haben, sich
       dem Mob entgegenzsutellen und den Vietnamesen irgendwie zu Hilfe zu kommen,
       ist kaum mehr festzustellen. Die unvollständigen, fliehenden Erinnerungen
       einzelner Beteiligter liefern dennoch ein Bild von dem Eindruck, den die
       Pogrome und die eigene Hilflosigkeit gegenüber dem wütenden Mob
       hinterlassen haben.
       
       ## Allein im rassistischen Alltag
       
       Bereits Anfang August 1992 war Cornelia Kerth das erste Mal in
       Lichtenhagen. Damals für das Hamburger Antirassistische Telefon in Hamburg
       tätig, begleitete die heutige Bundesvorsitzende des VVN-BdA einen
       Asylbewerber zur Zentralen Aufnahmestelle (ZAST) im Sonnenblumenhaus.
       
       Das größte Problem der Flüchtlingsarbeit war die damals „kaum vorhandene
       Anschlussstruktur in den neuen Bundesländern“, erinnert sich Kerth. Die
       nach Quoten aus Westdeutschland in den Osten verteilten Asylbewerber waren
       völlig alleine gelassen den Behörden und dem rassistischem Alltag
       ausgesetzt.
       
       Die bis heute bekannten Bilder, der auf der Wiese vor der ZAST kampierenden
       Asylbewerber machten nachhaltigen Eindruck auf Cornelia Kerth. Ohne weitere
       Umstände nahm sie den Asylbewerber wieder mit zurück nach Hamburg. „Es wird
       ja oft gesagt wie haltlos die Zustände für die Anwohner waren, aber es war
       doch in allererster Linie eine Zumutung für die Menschen, die dort – nunja,
       leben kann man ja kaum sagen – die dort unterkommen mussten“, stellt sie
       heute fest.
       
       ## Telefonketten und Konvois
       
       Als Markus* und Matthias in Lichtenhagen eintrafen, beherrschte der Mob
       bereits die Wiese vor dem Sonnenblumenhaus. Beide kamen aus politisch
       aktiven Zusammenhängen in Berlin, Markus aus dem autonomen Umfeld, Matthias
       aus der Ostberliner Hausbesetzerszene.
       
       Die in der linke Szene organisierten Berliner waren durch das Rostocker JAZ
       schon relativ früh auf die sich verschärfende Situation aufmerksam gemacht
       worden. Am Sonntag, den 23. August, dem zweiten Tag des Pogroms, fuhren
       Markus und drei Freunde direkt nach Lichtenhagen. Die im Sinne der damals
       üblichen Telefonketten für Notrufe bei Naziüberfällen erwarteten sie, vor
       Ort auf andere Menschen zu treffen, denen sie sich anschließen könnten, um
       das Haus zu schützen. Wie ernst die Lage wirklich war, erfassten sie dann
       erst in Rostock.
       
       Dass die Situation in Lichtenhagen jegliches Eingreifen unmöglich machte,
       bestätigt Matthias. Er war in einem Konvoi von einem guten Dutzend
       Fahrzeugen nach Rostock aufgebrochen und erinnert sich, schon im JAZ,
       seinem ersten Anlaufpunkt, ein Bild von Angst und Überforderung vorgefunden
       zu haben.
       
       Kurze Fahrten nach Lichtenhagen wurden schnell wieder abgebrochen und man
       entschied sich, für den Rest der Woche, im JAZ Solidarität zu zeigen und
       diesen zentralen Anlaufpunkt linker Jugendlicher durch starke Präsenz vor
       Überfällen zu schützen. Markus hingegen reiste bereits nach einem Tag
       frustriert wieder ab.
       
       ## Freundschaftliche Loyalität
       
       Viel weniger berührten die beginnenden Ausschreitungen Henning*, der damals
       Auszubildender in Rostock war und politisch nicht organisiert, den Sommer
       mit Surfen zubrachte. Dass er trotzdem aktiv wurde, sei mehr
       „freundschaftlicher Loyalität, als politischem Bewusstsein“ geschuldet
       gewesen, erinnert er sich.
       
       Im JAZ nicht wirklich willkommen, da nicht links genug, nicht „linientreu“
       wie er sagt, ließ er sich trotzdem von zwei Freunden noch während der
       Krawalle überreden, beim Plakatieren in Lichtenhagen gegen die Nazis zu
       helfen. „Ja, ich war plakatieren – im Herz der Finsternis“, sagt er heute
       lachend. Im Wesentlichen sei das „Abenteuerlust“ gewesen, meint er
       rückblickend.
       
       In den Diskussionen dieser Tage und mit der zunehmende Eskalation vor der
       Haustür sei für ihn dann aber deutlich geworden, dass es nicht nur Spaß,
       sondern eben wichtig sei, irgendetwas gegen „diesen ganzen Blödsinn“ zu
       tun. So war es für ihn dann selbstverständlich, am Samstag, den 29. August
       1992 an der bundesweiten Demo gegen die Nazigewalt teilzunehmen.
       
       „Es war schockierend, wie viel Polizei dort war, und wie wenig in den Tagen
       davor. Da war ja niemand von denen zu sehen, als ich am ersten Tag dort
       gewesen war “, erinnert sich Henning. „Das war schon ein auffälliger
       Gegensatz“, sagt auch Cornelia Kerth, die zum Hamburger Konvoi aus Bussen
       und Privatwagen gehörte, die zur Demo anreisen wollten. Stundenlang wurden
       die Hamburger Aktivisten auf einem Parkplatz in Bad Doberan festgehalten,
       umgeben von einer Unzahl an gut ausgerüsteten Einsatzkräften.
       
       ## Auf Schleichwegen zur Demo
       
       Markus’ stärkste Erinnerung an die Demo, zu der er erneut aus Berlin
       angereist war, ist die an endlos lange Ketten von Mannschaftswagen auf der
       Stadtautobahn. Matthias erinnert sich ebenfalls daran, wie sie in
       Kleingruppen von den Ortskundigen aus dem JAZ auf Schleichwegen an den
       schweren polizeilichen Vorkontrollen vorbei zur Demo geschleust wurden.
       
       Bleibender Eindruck ist für Matthias auch die völlig andere Situation vor
       und nach dem Porgrom in Lichtenhagen selbst: „Das war vorher ja wie ein
       offenes Stadtviertel. Alle Leute waren auf der Straße, es herrschte ein
       Volksfest, keine Polizei und ein Imbiss, der ja später abgefackelt wurde.
       Und am Samstag war dann alles wie ausgestorben“. Cornelia Kerth fasst die
       gespenstische Atmosphäre so zusammen: „Wir hatten den Eindruck, wir würden
       uns durch Feindesland bewegen.“
       
       Am kommenden Samstag werden einige der Aktiven von damals wieder in
       Lichtenhagen zusammenkommen, ob immer noch im Feindesland, ist eine Frage
       der Perspektive. Markus, der noch nicht sicher ist, ob er zur
       20-Jahre-danach-Demo fahren wird, resümiert: „Der Rassismus ist doch immer
       noch der gleiche, auch wenn er sich heute meistens anders äußert.“, und
       fügt an: „Im Osten und im Westen.“
       
       * Namen von der Redaktion geändert
       
       23 Aug 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniél Kretschmar
       
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