# taz.de -- 50 Jahre Gropiusstadt: Unser Dorf soll schöner werden
       
       > Bis heute liegt auf der Gropiusstadt der Schatten von Christiane F. In
       > Wirklichkeit schaut die Hochhauslandschaft mit einigem Optimismus in die
       > Zukunft.
       
 (IMG) Bild: Hässlich? Finden nicht alle. Die Gropiusstadt.
       
       „Schau mal, Fanny, hier sind wir!“ Ein älterer Herr beugt sich über das
       Kunststoffmodell und greift nach einem Hochhausriegel. Der ist nicht ganz
       festgeklebt, also hat ihn der Herr in der Hand. Fanny nickt.
       Lipschitzallee. Ihr Zuhause in der Gropiusstadt. „Guck mal, Fanny“,
       erschrickt der Herr, „hier steht ’Berühren verboten‘.“ Fanny nickt noch
       einmal. Der Herr schaut auf den Studenten, der das Kunststoffmodell
       bewacht. Der nickt auch. Es wirkt wie ein Gruß. Einen losen Hochhausriegel
       kann man wieder ankleben. Ein ramponiertes Image nicht.
       
       Es ist Samstag auf dem Wildmeisterdamm. Feiersamstag. Das Modell der
       Gropiusstadt steht hier und die längste Kaffeetafel Berlins. Vierhundert
       Meter ist sie lang und eigentlich gar keine Kaffeetafel, sondern die Summe
       aneinandergereihter Bierbänke. Doch der Kaffee ist selbstgemacht, so wie
       auch das Architekturmodell und das ganze Programm zum 50-jährigen
       Geburtstag der Gropiusstadt. „Ein Stadtteil blickt in die Zukunft“ lautet
       das Motto. Der Edeka um die Ecke hat gerade zugemacht. Lidl läuft in der
       Gropiustadt, Edeka nicht.
       
       Wo der Edeka war, gibt es jetzt eine Akademie. „Akademie für eine neue
       Gropiusstadt“ heißt sie, die Akademiker sind Architekturstudenten und
       Dozenten von der TU. Vor dem Ex-Edeka sitzen sie, rauchen Selbstgedrehte,
       den Cappuccino to go gibt es im Café Happiness, die türkischen Besitzer
       haben in eine italienische Kaffeemaschine investiert. Drin stehen zwei
       Gropiusstädter mit tätowierten Oberarmen und mustern die Entwürfe der
       Studierenden. Neue Bilder der Gropiusstadt wollen sie schaffen. Denn noch
       immer kämpft der Neuköllner Ortsteil mit 36.000 Einwohnern mit dem Image
       einer gesichtslosen Schlafstadt, die Schicksale [1][wie das von Christiane
       F.], dem Kind vom Bahnhof Zoo, geradezu zwangsläufig hervorbringen musste.
       
       „Concordia domi foris pax“ – „Eintracht in den Häusern, den Plätzen
       Frieden“: So steht es in der Gründungsurkunde, die Berlins Regierender
       Bürgermeister Willy Brandt im Beisein von Walter Gropius, damals schon 79
       Jahre alt, am 7. November 1962 im märkischen Sand zwischen Grünem Weg und
       Johannisthaler Chaussee versenkte. Eintracht aber herrschte schon lange
       nicht mehr zwischen dem Senat und dem Baumeister, den man eigens für das
       Jahrhundertwerk verpflichtet hatte.
       
       Gropius, der seit seiner Emigration vor den Nazis in den USA lebte, war dem
       Ruf aus Berlin gerne gefolgt, er wollte im Quartier BBR (Britz Buckow
       Rudow), wie es zunächst hieß, an die Tradition Bruno Tauts und der
       Hufeisensiedlung anknüpfen. Möglichst wenig Hochhäuser, lautete sein Credo,
       die Mehrzahl der ursprünglich geplanten 14.500 Wohnungen sollte in
       Viergeschossern entstehen. Licht, Luft und Sonne also – in einer
       menschlichen Dimension.
       
       Doch dann ließ Ulbricht in Berlin die Mauer bauen, und der Senat wollte
       plötzlich 19.000 Wohnungen. Die Gropiusstadt wuchs in die Höhe, und ihr
       Planer sah sich um sein Werk betrogen. In einem Brief schrieb Gropius 1963
       an den Bausenator: „Einheit in der Vielfalt ist das erstrebenswerte Ziel,
       nicht langweilige Monotonie.“ Walter Gropius wehrte sich, ohne mit dem
       Projekt zu brechen. Er starb am 5. Juli 1969 in Boston. Gegen seine
       Vermarktung war er machtlos. Nicht nur die Großsiedlung wurde zehn Jahre
       nach der Grundsteinlegung nach ihm benannt, sondern auch eine Schule, ein
       halbrundes Gebäudeensemble und natürlich die Gropius-Passagen, eine der
       größten Shopping-Malls Berlins.
       
       Als Walter Gropius und Willy Brandt den Grundstein legten, war Marianne
       Gebhardt 21 Jahre alt. „1972 bin ich in die Lipschitzallee 84 gezogen“,
       sagt die heute 71-Jährige, „dreieinhalb Zimmer, achtzig Quadratmeter.“
       Zuvor hat sie in Kreuzberg am Oranienplatz gelebt. Gesichtslose
       Schlafstadt? Marianne Gebhardt lacht. Als sie in die Gropiusstadt zog, war
       Altbau out und Hochhaus schick. „Endlich musste ich keine Kohlen mehr
       schleppen.“ Zusammen mit ihrem Mann wollte sie eine größere Wohnung. Und
       eine moderne. „So kam ich in die Gropiusstadt.“
       
       ## Alte und neue Bewohner
       
       Bis heute ist die Gropiusstadt Gebhardts Heimat. „Natürlich hat sich vieles
       geändert“, erzählt die Frau mit den langen Haaren und lächelt. „Damals war
       die Gropiusstadt deutsch. Inzwischen ist es bunter geworden, aber auch
       dreckiger. Aber das ist wohl in anderen Stadtteilen auch so in Berlin.“
       Marianne Gebhardt gehört zu den 25 Prozent Gropiusstädtern, die älter sind
       als 65 Jahre. Zu den Altbewohnern also. Mit den neuen Gropiusstädtern –
       erst die Spätaussiedler aus Russland, dann die Türken und Araber aus
       Nordneukölln – gibt es keine Probleme.
       
       Alte und neue Gropiusstädter. „Da sind Sie richtig bei mir.“ Julia
       Pankratyeva breitet die Arme aus, dann stellt sie die Damen vor, die sich
       jeden Freitag im interkulturellen Treffpunkt zum Handarbeitskurs treffen.
       Auch Marianne Gebhardt ist dabei. „Eine richtige Familie ist das hier“,
       sagt Pankratyeva, die Leiterin des Treffpunkts, selbst kam sie 1997 aus der
       Ukraine in die Gropiusstadt. Aber Pankratyeva kennt auch die andere
       Gropiusstadt. Die, in der Familien auseinanderbrechen. Die unsichtbare
       Gropiusstadt, in der Frauen zuhause bleiben müssen, weil ihre Männer das so
       wollen.
       
       Türkische und arabische Frauen kommen selten in ihren Treffpunkt. „Dabei
       ist der Austausch so wichtig“, weiß sie. Geradezu empört war sie, als ihr
       ein Mitarbeiter eröffnete, zu Hause nur russisches Fernsehen zu schauen.
       „Du lebst in Deutschland, hab ich ihm gesagt. Du musst deutsches Fernsehen
       schauen, damit du Bescheid weißt, was hier passiert.“ Gemeinschaftshaus
       heißt das raumschiffähnliche Gebäude, in dem Julia Pankratyeva Platz für
       ihren interkulturellen Teeffpukt gefunden hat. „Es ist der einzige Ort“,
       sagt sie, „wo sich die alten und neuen Gropiusstädter treffen.“
       
       ## Senat geift ein
       
       Nicht weit vom Lipschitzplatz, neben den Gropius-Passagen das zweite
       Zentrum im Stadtteil, hat Heike Thöne ihr Büro. Thöne leitet das
       Quartiersmanagement in der Gropiusstadt, eine Art soziales Frühwarnsystem.
       „Der Senat hat in der Gropiusstadt interveniert, bevor sich die Probleme
       häuften“, sagt sie. Ende der neunziger Jahre drohte aus der Großsiedlung
       ein sozialer Brennpunkt zu werden, doch inzwischen ist der Abwärtstrend
       gestoppt. „Aber natürlich gibt es Probleme durch die Veränderung bei der
       Bewohnerzusammensetzung“, sagt Thöne. „Manche Altbewohner igeln sich immer
       noch ein, weil sie ihre Gropiusstadt von den Neubewohnern bedroht sehen.“
       Viele Migranten wiederum, hat Thöne beobachtet, „haben das Gefühl, sie
       können machen, was sie wollen: Immer ist es falsch.“
       
       Im Vorfeld des runden Geburtstags hat das Quartiersmanagement in der
       Stadtteilzeitung Walter noch einmal die Geschichte der Gropiusstadt Revue
       passieren lassen. Die ersten Einzüge in den Sechzigern, den Bau des
       Gemeinschaftshauses 1973, da lebte Marianne Gebhardt bereits ein Jahr in
       der Lipschitzallee. Die ersten Drogen im evangelischen Jugendzentrum „Haus
       der Mitte“, die nicht nur Christiane Felscherinow auf den Strich am Zoo
       zwangen, sondern auch der Gropiusstadt den Stempel vom sozialen Ghetto
       aufdrückten.
       
       Die Sanierungspläne in den Achtzigern, die sich aber in Luft auflösten,
       weil die Mauer fiel und das ganze Geld nach Marzahn und Hellersdorf floss.
       Wie der Senat den Wohnberechtigungsschein abschaffte und ein Großteil der
       Mieter plötzlich die sogenannte Fehlbelegungsabgabe zahlen musste. Wie die
       solventen Mieter die Siedlung in Scharen verließen und die Migration der
       neuen Gropiusstädter begann. Wie die Fehlbelegungsabgabe wieder abgeschafft
       wurde, das Image aber blieb. „Es gibt eine riesige Kluft zwischen der
       Außenwahrnehmung und der Selbstwahrnehmung“, weiß Heike Thöne. „Die einen
       verdammen die Gropiusstadt, die meisten Bewohner aber leben sehr gerne
       hier, die alten wie die neuen.“
       
       Wer vom U-Bahnhof Lipschitzallee zur längsten Kaffeetafel Berlins geht,
       kann die Stimme von Stefan hören. Stefan ist 1980 in die Gropiusstadt
       gezogen, da war er ein Jahr alt. „Ich bin sehr behütet aufgewachsen“,
       erzählt er. Genauer gesagt: Ein Sprecher erzählt Stefans Geschichte. Am
       Feiersamstag tönt sie aus einem Lautsprecher. Das Audiofile ist Teil des
       Kunstprojekts „Groß werden mit Gropius“ der Künstlerin Kerstin Gust. „Erst
       als ich auf eine Schule in Britz wechselte“, sagt Stefan, „kam ich mit
       Drogen und Gewalt in Berührung. Natürlich gab es auch in der Gropiusstadt
       Probleme, vor allem Alkohol. Für uns Jugendliche war das manchmal sogar
       vorteilhaft. Wenn die Eltern eines Freundes betrunken waren, haben sie
       nicht mitbekommen, wie viele sich in der Wohnung getroffen haben. Aber die
       Gropiusstadt lässt einen nicht fallen. Bis heute fühle ich mich sicher
       hier. Ganz anders als am Hermannplatz oder im Rollbergviertel in
       Nordneukölln.“
       
       Das Gropiusstädter Wir-Gefühl: Stefan hat es erlebt. Auch nach seiner Zeit
       bei der Bundeswehr ist er in der Gropiusstadt geblieben. „Hier wächst auch
       meine Tochter auf“, klingt seine Stimme über den Wildmeisterdamm. Sein
       Wunsch für die Zukunft: „Ich würde mich freuen, wenn die Gropiusstadt eine
       Kultureinrichtung bekäme. Am liebsten ein Christiane-F.-Museum.“
       
       ## Neues Wir-Gefühl
       
       Ein Christiane-F.-Museum wird die Gropiusstadt so schnell nicht bekommen,
       doch das Bild des Stadtteils ändert sich auch ohne die Musealisierung des
       Schmuddelimages. Dafür sorgen die Schulen mit ihrem Bildungsverbund – und
       die Architekten der Akademie für eine neue Gropiusstadt. „Wenn wir über
       Wohnen in Berlin reden, geht es bislang vor allem um die Innenstadt“, sagt
       Mathias Heyden, Architekt und Dozent an der TU Berlin. „Dabei sind die
       Voraussetzungen hier draußen viel besser. Arbeitslosigkeit, Kriminalität,
       alles ist niedriger als in Nordneukölln. Darauf kann man aufbauen.“
       
       Seit zwei Jahren arbeitet Heyden nun in der Gropiusstadt – und hat sie
       beinahe liebgewonnen, wie er sagt. „Hier kann man tatsächlich Stadt neu
       denken. Die Gropiusstadt ist ein Versprechen von einem ganz anderen
       sozialen Bauen und Wohnen. Auch weil sie nicht im Besitz der Privaten ist,
       sondern von Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften.“
       
       Am Ende des Wildmeisterdamms schraubt sich das Ideal-Haus in die Höhe, mit
       31 Stockwerken lange der größte Wohnturm Deutschlands. Am Feiersamstag wird
       es zur Bühne für eine Fassadenperformance. Ganz oben bietet eine von
       Künstlern ins Leben gerufene Sky-Lounge einen atemberaubenden Ausblick auf
       die Gropiusstadt und Berlin.
       
       Von der Sky-Lounge sieht man aber auch die Feiernden, die 91 Meter tiefer
       mit einem weißen T-Shirt über den Wildmeisterdamm schlendern. „Ideal-Mann“,
       „Ideal-Frau“ oder „Ideal-Kind“ steht auf den selbstbedruckten Shirts, die
       die Künstlerin Katrin Glanz entworfen hat. „Was ist das ideale Konzept fürs
       Wohnen und für eine Stadt?“, fragte sich Glanz und staunt über das neue
       Wir-Gefühl. „Die 270 T-Shirts, die ich zur Feier mitbrachte, waren nach
       wenigen Stunden weg.“
       
       15 Sep 2012
       
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