# taz.de -- Debatte Occupy: Versuchte Spontaneität
       
       > Gemischte Bilanzen ein Jahr nach den Protesten vom Zuccotti-Park: Andere
       > Bewegungen wurden angestoßen, aber keine Bündnisse eingegangen.
       
 (IMG) Bild: Eine von den 99 Prozent: Occupy-Aktivistin in New York.
       
       Einen Steinwurf von Wall Street entfernt besetzten Menschen am 17.
       September 2011 den New Yorker Zuccotti-Park: „Occupy Wall Street“ wurde zu
       ihrer Losung – und dann zur Bewegung.
       
       Obwohl sie politisch anfangs eher diffus war, bildete sich bald eine von
       den meisten Protestierenden geteilte Kritik heraus: In der autoritären und
       undemokratischen Krisenpolitik bleiben die wirtschaftlich Mächtigen am
       Ruder, sie machen den Staat zu ihrem Verbündeten. Gleichzeitig verlieren
       viele Menschen Arbeit und Wohnraum und damit Lebenschancen.
       
       Die Proteste wurden durch den globalen politischen Rückenwind der ersten
       Jahreshälfte ermöglicht. Die Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi im
       Dezember 2010 in Tunesien wirkte wie ein Katalysator für Massenproteste
       gegen autoritäre Regime in Nordafrika. Ab Mitte Mai 2011 folgten Proteste
       in Spanien, auch in anderen europäischen Ländern gab es Aktionen. In den
       USA verbreitete sich Occupy Wall Street anschließend in über einhundert
       Städten.
       
       ## Keine klaren Forderungen
       
       Den Protestierenden in den USA und Europa war gemeinsam, dass sie nicht
       damit begannen, klar umrissene Forderungen zu stellen. Es wurden zunächst
       Räume geschaffen, um sich überhaupt wieder über die eigenen Probleme und
       grundlegende Alternativen zu verständigen. Der gemeinsame Nenner war eher
       vage: Gerechtigkeit und Demokratie.
       
       Die herrschende Politik wurde nicht zum Hauptadressaten. Diese Form der
       Spontaneität verwirrte die Medien enorm: Wo waren die Gesichter, wo die
       Forderungen? Es ging Occupy aber nicht um RepräsentantInnen, gute Argumente
       und Expertise wie bei vielen Nichtregierungsorganisationen oder Attac.
       
       Die New York Times berichtete Mitte Oktober letzten Jahres, dass in einer
       Umfrage sieben von zehn New YorkerInnen die Einstellung der Protestierenden
       verstanden hätten. Immer mehr Organisationen bis hin zu relevanten Teilen
       der Demokratischen Partei bezogen sich positiv auf Occupy.
       
       Den Protesten in Europa und den USA ist aber auch gemeinsam, dass sie nicht
       wirklich in der Lage waren, die politische und ökonomische Macht
       herauszufordern. In den mittel- und nordeuropäischen Ländern schlossen sich
       letztlich zu wenig Menschen an.
       
       Auch in den USA verebbte Occupy. Dennoch ist wahrscheinlich, dass die
       Proteste im Zuccotti-Park eine ermunternde Wirkung auf andere
       Auseinandersetzungen in den USA hatten: auf die Streiks der
       HafenarbeiterInnen in Oakland oder die Belagerung des Parlaments von
       Wisconsin, um gegen die drastische Beschneidung von Gewerkschaftsrechten
       vorzugehen.
       
       ## Der Hype in den Medien
       
       In Deutschland entwickelte sich Occupy deutlich verhaltener. In den
       öffentlichen Äußerungen der Occupy-AktivistInnen kam eher Distanz zu
       Gewerkschaften und Attac zum Ausdruck. Die beginnende Bewegung machte sich
       unfähig für Bündnisse. Es gab einen kurzen und kräftigen Medien-Hype, der
       im Spätherbst vorbei war. Seit Frühjahr 2012 stand die Frage im Raum, ob
       die Proteste wiederbelebt würden. Das ist nicht geschehen.
       
       Wie sind die Erfahrungen des vergangenen Jahres einzuschätzen? Wie können
       sie in einen größeren Kontext gestellt werden? Eine politisch fahrlässige
       Kritik hat Andrea Hanna Hünniger im Freitag vom 23. August unter dem Titel
       „Außer Gesten nichts gewesen“ veröffentlicht. Proteste, die etwas erreichen
       wollten, bedürften der Eskalation, glaubt sie.
       
       In spezifischen Fällen greifen Bewegungen durchaus erfolgreich auf dieses
       Mittel zurück. In Deutschland sind die Anti-Atom-Proteste ein Beispiel.
       Doch Eskalation als einzig wirkungsvoll zu stilisieren, ist politisch
       gefährlich. Was hätte eine solche denn vor der Europäischen Zentralbank
       oder im Zuccotti-Park bewirkt? Eine 2-Minuten-Meldung im Fernsehen und
       ansonsten staatliche Repression. Schon die Platzbesetzung selbst, eine Art
       dauerhafte Sitzblockade, wurde ja von vielen als Provokation empfunden.
       
       Analysen wie die von Hünniger tragen nicht dazu bei, komplexe Strategien
       gesellschaftlicher Transformation zu entwickeln. Diese müssten nämlich
       nicht nur Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit, worauf Protest
       zuallererst zielt, berücksichtigen. Es bedarf auch der Ermutigung
       kritischer Kräfte in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften und Unternehmen.
       Notwendig sind politische Organisierung und so etwas wie politischer
       Führung.
       
       ## Ein Problem für Attac
       
       Mittelfristig muss der Alltagsverstand der Menschen erreicht und die
       Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen nicht nur sichtbar gemacht
       werden, sondern auch Handlungsoptionen aufgezeigt werden: solche, die auf
       eine veränderte Produktions- und Lebensweise zielen, Politik zur Sache der
       Menschen machen, sich kritisch gegen Eliten und ihre Macht wenden. Erst
       dann gewinnt der Occupy-Spruch „Wir sind die 99 Prozent“ an Eingriffsmacht
       in bestehende Verhältnisse.
       
       Bewegungen wie Occupy können solche Prozesse anstoßen, Neues ausprobieren,
       bestehende Formen der Kritik hinterfragen. Die politische Intuition von
       Occupy sollte, bei allem Scheitern, nicht unterschätzt werden. Angesichts
       des kompletten Politikversagens in der aktuellen Krise muss Politik anders
       gedacht und gemacht werden. Die Bewegung war am Ende des dritten
       Krisenjahres der Versuch, nicht nur die Inhalte der herrschenden Politik zu
       kritisieren, sondern auch die Formen, wie Gesellschaft demokratisch
       gestaltet wird.
       
       Attac und andere Akteure sitzen in gewisser Weise einem eher traditionellen
       Politikverständnis auf, demzufolge sich bei entsprechendem Druck und
       alternativen Argumenten die Politik schon bewegen werde. Um aber die Formen
       der Politik viel grundlegender zu verändern, bedarf es spontaner Aufbrüche
       als Ermunterung normaler und bislang machtloser Menschen, sich
       einzumischen. Hier bot die Occupy-Bewegung etwas Neues. Das verebbte zwar
       rasch, aber die Herausforderung, Politik anders zu denken und zu machen,
       bleibt bestehen.
       
       Übrigens: Dass scheinbar alle Veränderungshoffnung auf Versuchen wie Occupy
       abgelagert wird, zeigt uns erst, wie starr die Verhältnisse sind und welche
       Probleme politischer Wirkungsmacht in der Krise Bewegungen wie Attac haben.
       
       17 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Brand
       
       ## TAGS
       
 (DIR) New York
 (DIR) Schwerpunkt Occupy-Bewegung
 (DIR) Schwerpunkt Occupy-Bewegung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Prozess gegen US-Occupy-Aktivistin: Drei Monate Gefängnisinsel
       
       Cecily McMillan soll einen Polizisten mit dem Ellenbogen verletzt haben. Am
       Montag wurde sie zu drei Monaten Haft verurteilt. Sie will das Urteil
       anfechten.
       
 (DIR) Demo zum Occupy-Jahrestag: 200 Festnahmen in New York
       
       Zum Jahrestag der Occupy-Bewegung verhaftete die New Yorker Polizei eine
       Vielzahl von Demonstranten. Das Börsenviertel war weitgehend abgeriegelt.
       
 (DIR) Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?
       
       Campen gegen Bankentürme, diese Wulffs, der Deutsche Fernsehpreis und die
       Frühverhelmutschmidtung.
       
 (DIR) Ein Jahr danach in Kanada: „Occupy ist nicht tot“
       
       Mit seinem Magazin „Adbusters“ schob Kalle Lasn die Proteste einst an. Er
       und seine Mitstreiter riefen zur Wall Street-Besetzung auf. Er glaubt noch
       an einen Erfolg.
       
 (DIR) Streit um Occupy-Tweets: Twitter liefert Daten aus
       
       Erst hatte sich Twitter geweigert, Tweets eines Occupy-Aktivisten an ein
       US-Gericht herauszugeben. Nun knickte es ein, um einer Geldstrafe zu
       entgehen.
       
 (DIR) Gericht in New York: Twitter soll Occupy verraten
       
       Ein New Yorker Richter will Twitter zwingen, Tweets und Daten eines
       Occupy-Aktivisten preiszugeben. Das Unternehmen weigert sich. Nun droht
       eine Geldstrafe.
       
 (DIR) Blockupy plant weitere Aktionen: Ein neues Zelt für Frankfurt
       
       Das kapitalismuskritische Bündnis Blockupy plant ein Treffen in Frankfurt.
       Im Frühjahr soll es wieder Protest geben: Die Maifestspiele, Teil zwei.