# taz.de -- Roman von Sibylle Berg: Gehasst von Herzen
       
       > Sibylle Berg, die böse Märchenerzählerin. In „Vielen Dank für das Leben“
       > schubst sie ihren hermaphroditischen Helden gekonnt über einen dornigen
       > Kreuzweg.
       
 (IMG) Bild: Mann oder Frau? Diese Unklarheit ist nicht die einzige Frage rund um die Protagonistin Toto.
       
       Kurz vor Totos Tod bemerkt ihr Mörder, der Investmentbanker Kasimir, dass
       sein Opfer „der perfekte Mensch“ ist: „Der Prototyp. So war das Universum
       geplant gewesen, und dann war irgendetwas schiefgelaufen.“ Nach
       herkömmlichen Maßstäben gescheitert ist auch im Leben des perfekten
       Menschen auf bis dahin 367 Seiten alles Denk- und Undenkbare.
       
       Sibylle Berg, die seit ihrem Debütroman „Ein paar Leute suchen das Glück
       und lachen sich tot“ (1997) mit beachtlicher Ausdauer ihr murphyeskes Thema
       „Was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen“ bearbeitet, hat auch mit
       „Vielen Dank für das Leben!“ keine nennenswerte Kurskorrektur vorgenommen.
       Allerdings treibt sie in ihrem neuen Roman die hellsichtige Kunst des
       Schwarzmalens formal und inhaltlich auf die Spitze.
       
       Das liegt zuallererst an Toto, der weder Mann noch Frau, sondern
       Hermaphrodit ist. Bei seiner Geburt durch eine alleinstehende Alkoholikerin
       in der DDR anno 1966 wird er kurzerhand dem männlichen Geschlecht
       zugeschlagen; Jahrzehnte später im Westen, bei einer Operation anlässlich
       einer Nierenspende, dem weiblichen.
       
       ## Menschliche Niedertracht
       
       Doch diese „Unklarheit“ ist nicht Totos einziger Defekt: Zeit seines Lebens
       wird er, sie oder es verraten, verletzt, missachtet, gequält, ausgegrenzt,
       gedemütigt – und doch bringt ihn all die menschliche Niedertracht, die ihm
       entgegenschlägt, nicht aus der Fassung, kümmert er sich unermüdlich um
       andere, bewahrt er seine Unschuld, seine Integrität, deren schönster
       Ausdruck seine Stimme ist. Und wird dafür von Herzen gehasst.
       
       So trägt Toto, von der allwissenden Autorin einen dornigen Kreuzweg
       entlanggeschubst, Züge einer Messiasgestalt, eines heiligen Idioten und
       auch des klagesingenden Riesenbabys Antony Hegarty.
       
       Sein Martyrium führt aus dem tiefsten Sozialismus und einer vom Alkohol
       schwer gezeichnete Diktatur des Proletariats über sektenhafte Ausläufer der
       68er-Bewegung mitten in die zynischen achtziger Jahre samt angrenzender
       Spaßgesellschaft in der Bundesrepublik. Von dort geht es weiter in die
       immer stärker vom Kapitalismus geprägte Zukunft, in der die alten Europäer
       sich mühsam als Servicekräfte für Touristen aus der ehemals Dritten Welt
       verdingen, bis eine weitere, vorläufig letzte Wende sich abzeichnet: Die
       Frauen haben endgültig das Ruder übernommen, „die Welt war so vernünftig
       geworden“.
       
       ## Dunkelster Punkt der Epoche
       
       Mit spitzen, treffenden Sätzen bringt Berg jedes Zeitalter auf seinen
       dunkelsten Punkt, die graue Tristesse der späten DDR genauso wie die
       saubere Zukunft, in der es nichts gibt, „was nicht reguliert,
       eingeschränkt, überwacht und gezügelt gewesen wäre“: „Humor nicht mehr
       vorhanden, wie alles Unnütze.“
       
       In jeder Epoche, an jedem neuem Ort trifft Toto auf Zeitgenossen, die es
       zuverlässig nicht gut mit ihm meinen. Geradezu zärtlich porträtiert Sibylle
       Berg jeden einzelnen in seinem traurigen So-geworden-Sein: die misogyne
       Hebamme, die gemeine Heimleiterin, den fiesen Pfarrer im Männerheim, den
       WG-Kumpel auf St. Pauli, die von Toto gepflegte Todkranke, die vegane
       Pariser Polizistin, um nur wenige zu nennen.
       
       So verschieden sie auch scheinen, ihr Hass auf Toto speist sich aus der
       Frustration über ein letztlich unerhebliches Leben, das weder durch Siege
       noch Niederlagen Bedeutung gewinnt. Das ist die Krux des Buches: dass es
       die immer gleiche Geschichte viele Dutzend Mal wiederholt. Und es ist
       zugleich ihre Überwindung. Ja, man kann die gleiche Geschichte in unendlich
       vielen Varianten erzählen.
       
       ## Böse Märchentante
       
       Das Ganze ist natürlich nur auszuhalten, weil Sibylle Berg in dem ihr
       eigenen Ton der bösen Märchentante schreibt, der über die Jahre flüssig,
       eleganter und mit der richtigen Dosis Wortwitz und Kalauer zwar nicht
       leicht, aber doch verdaulich geworden ist.
       
       Auszuhalten ist es auch, weil Toto dem Leser und vermutlich selbst der
       Autorin fremd bleibt. Die Gefahr übermäßiger Identifikation besteht nicht,
       und wenn sich doch einmal Aggression einstellt, dann gegen die
       unerbittliche Frau Berg, die sich immer neue Gemeinheiten für den
       teddybärigen Toto ausdenkt. Etwa den Einbau einer radioaktiven Sonde in
       seine Gebärmutter, die ihn geradezu genüsslich an einer lange dauernden
       Leukämie krepieren lässt.
       
       Auch das Glück, das die Erzählerin Toto kurz vor ihrem Tod – allein, im
       Heim und schwer auf Drogen – ob des Umstands gönnt, „dass sie kurz
       aufgetaucht ist aus der Großen Dunkelheit der Unendlichkeit“, hat nicht das
       letzte Wort in Sibylle Bergs gnadenloser Ausmerzung des Prinzips Hoffnung.
       
       Das letzte Wort ist noch einmal ein Schlag in die Magengrube. Allerdings
       einer, der Toto nicht mehr trifft.
       
       11 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva Behrendt
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Helge Schneider
 (DIR) Schwerpunkt Feministischer Kampftag
       
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