# taz.de -- Montagsinterview Geldloser Raphael Fellmer: "Geld ist nur auf den ersten Blick eine Vereinfachung"
       
       > Raphael Fellmer lebt seit zwei Jahren im Geldstreik - und ist überzeugt:
       > Mit ein bisschen Vertrauen könnte jeder von uns so leben.
       
 (IMG) Bild: Raphael Fellmer im Garten des Niemöller-Haus in Dahlem.
       
       taz: Herr Fellmer, unser Aufnahmegerät hängt jetzt an Ihrer Steckdose. Sie
       leben ohne Geld. Wer bezahlt dann den Strom? 
       
       Raphael Fellmer: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Meine Familie und ich
       sind froh, hier im Martin-Niemöller-Haus in Dahlem zu leben und uns
       einbringen zu können. Dass ich mit Rechnungen nichts mehr zu tun habe, ist
       ein Vorteil des Geldstreiks. Mein Kopf ist frei für das Wesentliche.
       
       Sie leben komplett ohne Geld. Was ist denn so schlecht an diesem
       praktischen Tauschmittel? 
       
       Alle Gedanken, die mit Geld verbunden sind, lähmen. Es macht die Beziehung
       zu Mitmenschen und zu sich selbst kaputt. Wir sind konditioniert, Leistung
       zu bringen, um Rechnungen bezahlen zu können. So kann niemand wahrhafte
       Begeisterung für einen Bereich im Leben ausleben.
       
       Welche Begeisterung haben Sie denn heute schon ausgelebt? 
       
       Ich bin früh aufgestanden, wie immer. Bevor meine kleine Tochter aufgewacht
       ist, habe ich Artikel für mein Blog geschrieben. Dann haben wir
       gefrühstückt und sind spazieren gegangen. Dabei haben wir Plakate für einen
       Vortrag über mein Leben ohne Geld geklebt.
       
       Und die Erde an Ihren Fingern? 
       
       Ich war gerade noch im Garten und habe Unkraut gejätet. Wir beteiligen uns
       hier im Haus, wo wir können, machen sauber, helfen beim Renovieren und bei
       der Koordination der Seminargruppen, die hierherkommen.
       
       Sie bezahlen Ihre Miete also nicht in Geld, sondern in Arbeit. 
       
       Nein, das haben Sie falsch verstanden. Es geht nicht um Austausch. Ich gebe
       einem anderen kostenlos etwas, weil wir in einer Gemeinschaft leben, in der
       jeder von dem gibt, was ihm am meisten Freude bereitet.
       
       Für viele ist das eine Spinnerei. 
       
       Man muss ein wenig Vertrauen haben, dass die Gesellschaft ohne die
       Vereinfachung durch Geld funktionieren kann. Es ist ja nur auf den ersten
       Blick eine Vereinfachung. Viele Menschen sagen: Ich würde so gern dieses
       oder jenes tun, aber ich habe kein Geld dafür. Es fehlt von Anfang an der
       Gedanke, dass sich der Wunsch vielleicht anders erfüllen ließe.
       
       Wenn Sie sich nun wünschen, von Dahlem nach Hohenschönhausen zu fahren: Wie
       machen Sie das ohne Geld für ein Ticket? 
       
       Mit dem Fahrrad.
       
       Und wenn das geklaut wird? 
       
       Dann ist das eben so. Ich schließe mein Rad eigentlich nie ab. Es gibt in
       Deutschland mehr Fahrräder als Menschen, da werde ich schon ein anderes
       finden, das mir ein Mensch mit Liebe gibt.
       
       Aber mit der U-Bahn fahren Sie schon ab und an? 
       
       Einmal, vor zwei Jahren, bin ich mit einer Freundin mitgefahren. Sie ist
       behindert und hat deshalb ein Ticket, mit der sie einen Begleiter mitnehmen
       kann.
       
       Gut, Sie sind kein Schwarzfahrer. Aber sie begehen Diebstahl: Sie
       containern Lebensmittel. 
       
       Ich nenne das nicht Containern, das klingt ein bisschen schmuddelig. Ich
       sage: Lebensmittel retten. Es ist eine ehrenvolle Aufgabe, unnütz
       weggeworfene Lebensmittel aus der Supermarkt-Tonne zu holen. Ich muss
       nichts Neues kaufen, und mein ökologischer Fußabdruck wird kleiner.
       Außerdem hole ich längst nicht mehr alles aus der Tonne.
       
       Sondern? 
       
       Ich habe irgendwann gemerkt, dass es so nichts bringt. Denn es geht beim
       Geldstreik darum, wie wir als Gesellschaft insgesamt Umweltschäden
       minimieren. Ich habe Biosupermärkte angeschrieben, der Chef der Bio Company
       hat als Einziger geantwortet. Seitdem stellen die Mitarbeiter alle
       Lebensmittel für mich bereit, die sie nicht verkaufen oder selbst
       mitnehmen. Ich hole sie ab, verwende sie selbst und verteile sie an Freunde
       und Hilfsbedürftige. Und ich berate das Unternehmen, wie es seine
       Müllproduktion weiter senken kann.
       
       Halten Sie Vorträge in Filialen? 
       
       Nein, ich führe viele direkte Gespräche mit Mitarbeitern, etwa hier in der
       Zehlendorfer Filiale und auch mit dem Chef des Gesamtunternehmens.
       
       Was hat der Berater Raphael Fellmer denn schon erreicht? 
       
       Es fängt klein an. Bei der Bio Company wird der Müll inzwischen
       konsequenter getrennt. Ich will aber ein Bewusstsein dafür schaffen, dass
       wir eigentlich überhaupt gar keinen Müll mehr produzieren dürften. Und noch
       einen Schritt weiter: dass nicht jeder von uns sein eigenes Fahrrad, sein
       eigenes Auto und sein eigenes Aufnahmegerät braucht.
       
       Haben Sie als Kind eigentlich Taschengeld bekommen? 
       
       Nein.
       
       Warum nicht? 
       
       Meine Eltern hatten nicht viel Geld und noch dazu Schulden. Mein Vater war
       zwar Architekt, und es gab Zeiten, in denen es gut lief. Aber manchmal
       wusste meine Mutter nicht, ob sie klauen muss, um an Essen zu kommen.
       
       Das klingt hart. 
       
       Nein, es war schon in Ordnung. Letztlich haben wir nie gehungert, sondern
       dreimal am Tag zusammen gegessen. Geld ist nicht so wichtig, solange Eltern
       für ihre Kinder da sind.
       
       Wo sind Sie groß geworden? 
       
       Zunächst in Charlottenburg, am Ku’damm.
       
       Wo das Geld zu Hause ist. 
       
       Nein, nur in der Nähe davon. Als ich 13 war, sind wir in die
       Onkel-Tom-Siedlung in Zehlendorf gezogen. Direkt am Wald, mit vielen
       Kindern in der Nachbarschaft. Das war sehr schön. Ich hatte sehr viel
       Glück, dass ich in einer Familie groß geworden bin, die als Einheit
       funktioniert hat, und in der es gegenseitige Aufmerksamkeit und Liebe gab.
       
       Trotzdem ärgert sich ein Kind doch, wenn es kein Taschengeld bekommt wie
       seine Freunde. 
       
       Ich habe mit zwölf angefangen, mein eigenes Geld zu verdienen, habe
       geputzt, Gartenarbeit gemacht, Internetseiten entworfen und Computerkurse
       für ältere Leute gegeben. Ich habe sogar einmal mit einigen Freunden bei
       einem Projekt der Gemeinde mitgemacht und eine Junioren-GmbH gegründet, wir
       haben Softwarereparaturen angeboten und Ähnliches. Aber das ist schnell im
       Sande verlaufen.
       
       Wofür haben Sie damals Ihr Geld ausgegeben? 
       
       Das meiste habe ich gespart. Es gab aber auch eine Phase, in der ich ein-,
       zweimal die Woche zu McDonald’s gegangen bin, mit meiner Get-two-Karte: Ich
       musste ein Menü bezahlen und bekam zwei Menüs. Mit 18 habe ich das Reisen
       für mich entdeckt. Da hatte ich dann eine große Leidenschaft, für die ich
       mein Geld ausgeben konnte.
       
       Heute machen Sie ohne Geld Urlaub. 
       
       Vor acht Jahren habe ich mit zwei Freunden eine ökologische Reise versucht.
       Wir sind zunächst nach Marokko getrampt. Dann haben wir im Segelboot den
       Atlantik überquert und sind …
       
       Moment. Woher hatten Sie denn das Boot? 
       
       Wir haben zwei reiche Männer mit einem Boot kennengelernt. Eigentlich haben
       die zwei Mädels als Crew gesucht. Für ihre Überfahrt nach Brasilien. Obwohl
       wir auf die wie drei ziemlich straffe Hippies gewirkt haben müssen, haben
       sie uns mitgenommen.
       
       Hat Ihnen das leichte Leben eines reichen Mannes mit eigener Jacht nicht
       gefallen? 
       
       Na ja. Es ist schon interessant, wie Menschen ticken, die eine Glocke
       läuten, und einer bringt das Essen. Und bei uns entwickelte sich ja gerade
       erst der Plan, nicht nur ökologisch, sondern ganz ohne Geld zu reisen. Nach
       der Überfahrt stand bei einem meiner Freunde und mir der Entschluss fest:
       Wir reisen nicht nur, wir leben künftig ohne Geld.
       
       Und der Dritte im Bunde? 
       
       Er wollte noch Geld benutzen, wenn auch wenig. Deshalb war ihm unser
       Entschluss ein bisschen zu viel. Wir waren ja erst nach fünf Monaten in
       Brasilien, bis zu unserem Ziel Mexiko war es noch ein weiter Weg. Auf den
       haben wir uns dann zu zweit gemacht, unser Freund ist wieder nach Europa
       gegangen.
       
       Sind Sie noch befreundet? 
       
       Natürlich. Es wäre ja schade, wenn wir es nicht mehr wären – wegen des
       Geldes. Der andere ist übrigens gerade auf dem Rückweg von Mexiko – ohne
       Geld.
       
       Und Sie haben wieder einen reichen Segler begleitet? 
       
       Nein, ich kam in Kontakt mit einem Piloten, der mir einen Notsitz in einem
       Flugzeug für umsonst besorgen konnte.
       
       Was sagen eigentlich Ihre Eltern zu Ihrer heutigen Lebensweise? 
       
       Auf die hat vieles von dem, was ich tue, eine positive Wirkung. Zum
       Beispiel meine vegane Ernährung: Meine Mutter ist diesen Weg auch in
       Schritten gegangen und ernährt sich jetzt schon zu 90 Prozent vegan. Meinem
       Vater fällt es noch ein bisschen schwer.
       
       Was? 
       
       Ein Zugeständnis zu machen. Zu sagen: Hey, mein Sohn hat etwas gemacht, und
       ich konnte davon lernen. Aber das fällt ja überhaupt vielen Menschen
       schwer.
       
       Streikt Ihre Freundin mit? 
       
       Ja, aber sie ist da flexibler. Sie hat vorher gearbeitet und Geld gespart
       und kann sich jetzt auch mal einen Labello kaufen, wenn sie den braucht.
       Das ist völlig in Ordnung für mich, sie muss das nicht so extrem leben wie
       ich.
       
       Sie haben eine kleine Tochter. Sind Sie krankenversichert? 
       
       Ja, wir bezahlen vom Kindergeld die Familienversicherung für uns drei. Ich
       habe nächste Woche sogar einen Zahnarzttermin.
       
       Dort zücken Sie die Krankenkassenkarte, um zu bezahlen. 
       
       Ach, wir haben neulich auch der Frauenärztin meiner Freundin beim Malern
       und der Gartenarbeit geholfen. Viele Menschen sind wahnsinnig interessiert,
       wenn sie von unserer Lebensweise erfahren. Darum lernen wir auch so viele
       unterschiedliche Leute kennen.
       
       Ihnen begegnet aber bestimmt auch Misstrauen. 
       
       Sehr selten. Manchmal treffe ich Menschen, die 30 Jahre für eine Welt ohne
       Waffen gekämpft haben. Und dann kommt so ein Waldorf-Schüler, der ihnen
       etwas von der heilen Welt erzählt, in der sie vegan leben sollen.
       
       Das kommt denen dann sehr bekannt vor. 
       
       Ja, und natürlich sagen dann einige: Glaub bloß nicht, dass deine Vision
       jemals Wirklichkeit wird. Bei mir hat es nicht geklappt, bei dir wird es
       auch nicht klappen. Aber meist reagieren die Leute völlig positiv.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Neulich waren wir im Kino. Wir haben dem Chef erklärt, dass wir ohne Geld
       leben, und dann gefragt, ob wir nicht in einen Film gehen können, wo eh
       noch Plätze frei sind. Cooles Projekt, hat er gesagt und uns freundlich in
       einen Saal geschickt.
       
       Was tun Sie noch, um zu einer Welt ohne Geld zu gelangen? 
       
       Wir wollen eine Internet-Plattform schaffen, die alle Netzwerke vereint:
       Foodsharing, Carsharing, Couchsurfing, Skillsharing, Landsharing, und was
       es noch so alles gibt. Wir brauchen nicht Tausende Tauschnetzwerke, sondern
       etwas Einheitliches.
       
       Das klingt aber wieder nach einem Tauschnetzwerk, einem allumfassenden
       eben. 
       
       Nein, es soll nicht auf Tauschebene funktionieren, sondern ohne
       Gegenleistung. Einfach ein freies Geben und Nehmen.
       
       Wie soll das ohne Geld gehen? 
       
       Wir brauchen kein Geld beschaffen, um damit die Menschen zu bezahlen. Wir
       gehen direkt auf Programmierer, Übersetzer und Koordinatoren zu. Ohne den
       Umweg übers Geld. Die Leute machen mit, weil sie etwas Gutes für sich, die
       Gemeinschaft und die Umwelt tun wollen.
       
       Bis jetzt nutzen Sie doch aber nur die Verschwendung derjenigen aus, die
       vom Geld leben. 
       
       Ja, wir nutzen das System aus, das die Erde ausnutzt. Aber der folgende
       Schritt ist dann natürlich die Community. Wir wollen nächstes Jahr nach
       Italien auf einen Hof oder in ein verlassenes Dorf ziehen. Wir brauchen
       einfach nur ein Grundstück und machen dann alles selber. Holen uns
       Spezialisten, die Ahnung haben von Permakultur, Lehmbau, Solarkollektoren,
       Biogasanlagen.
       
       Die Zahl verlassener italienischer Dörfer ist begrenzt. Ist das nicht doch
       ein sehr individueller Aussteigertraum? 
       
       Nein, für mich ist das eine kollektive Vision. Ich glaube, die
       Urbanisierung erreicht bald ihren Höhepunkt. Ich kenne viele Leute, die es
       schön in Berlin finden, aber jetzt wieder aufs Land wollen. So wie wir
       heute leben, bräuchten wir drei oder vier Planeten. Unser aktuelles System
       ist auf keinen Fall länger tragbar.
       
       Wie wäre es mit einem bedingungslosen Grundeinkommen? 
       
       Ich war mal ein ganz starker Befürworter davon. Denn der Ansatz ist ganz
       wichtig: Wir haben Vertrauen, dass jeder ein sinnvoller Teil der
       Gesellschaft ist und eine Aufgabe hat. Das geht dann auch ohne die Krücke
       Geld. Das bedingungslose Grundeinkommen ist nur eine Etappe zu einer Welt,
       wo jeder ohne Erwartung seine Qualitäten hineingibt und seine Berufung
       lebt. Wer etwa aus Leidenschaft Bier braut, der gibt das Bier aus.
       
       Und wenn wir Sie jetzt auf ein Bier einladen würden? 
       
       Das würde ich nicht annehmen. Ich trinke keinen Alkohol.
       
       Und wenn der Wirt Ihnen sein Bier aus vollster Leidenschaft und ohne
       Erwartung einer Gegenleistung hinstellen würde? 
       
       Also, manchmal gibt es gar keine andere Möglichkeit, weil der Anlass so
       besonders ist oder die Leute nicht verstehen, dass ich eine Einladung
       ausschlagen will. Ich würde fragen, ob ich Leitungswasser haben kann. Etwa
       einmal im Jahr mache ich aber auch eine Ausnahme: Dann trinke ich ein
       alkoholfreies Bier.
       
       12 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sebastian Puschner
 (DIR) Johannes Wendt
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Ökologie
       
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