# taz.de -- Tunesiens Präsident im Interview: „Man muss helfen, nicht beten“
       
       > Für den sozialen Frieden müsse man mit den Islamisten zusammenarbeiten,
       > sagt Präsident Marzouki, obwohl ein Teil von ihnen die Demokratie
       > ablehne.
       
 (IMG) Bild: Konfliktbeladene Identität: Frauen protestieren gegen Gewalt. Salafisten wollen von der Moderne nichts wissen.
       
       taz: Herr Präsident, Tunesien hat gerade international Schlagzeilen
       gemacht: Eine junge Frau wurde von zwei Polizisten vergewaltigt und dann
       des Verstoßes gegen die „guten Sitte“ angeklagt. Wie stehen Sie dazu? 
       
       Moncef Marzouki: Ich habe sie in meinem Regierungssitz zusammen mit ihrem
       Freund empfangen. Das ist meine Antwort.
       
       Befindet sich Ihr Land in einer Konfrontation zweier Gesellschaftsmodelle:
       einer modernen aufgeklärten Gesellschaft und einem
       paternalistisch-islamischen Modell? 
       
       Das war schon immer so. Ein Teil der Gesellschaft ist sehr stark in der
       arabisch-muslimischen Kultur verwurzelt, ein anderer Teil ist sehr offen
       und westlich. Wir leben in einem ständigen Identitätskonflikt zwischen
       Tradition und Moderne, den jeder Tunesier in sich trägt. Und wir können
       diese beiden Seiten nicht gegeneinander ausspielen.
       
       Passiert das momentan? 
       
       Es gibt zwei Gruppen von Extremisten: die Salafisten, die sich als
       muslimische traditionelle Araber sehen und nichts von der Moderne wissen
       wollen, und auf der anderen Seite die Modernen, die alles Religiöse und
       Traditionelle von sich weisen und nichts damit zu tun haben wollen. Meine
       Arbeit ist es, zusammen mit der Troika (drei Parteien, bilden die
       Übergangsregierung: die säkularen CPR und Ettakatol sowie die islamische
       Ennahda) die Tunesier mit sich zu versöhnen.
       
       Bei Ihrem Besuch in den USA vor ein paar Tagen sagten Sie: Sie seien
       überrascht über die große Zahl von Salafisten in Tunesien, die dem
       Wahabismus angehören. Das überrascht uns, wo doch bekannt ist, dass
       mindestens 400 von 2.000 Moscheen in Salafisten-Hand sind? 
       
       Überrascht hat uns nicht die Anzahl, überrascht hat uns das Ausmaß an
       Gewalt, zu der diese Menschen fähig sind. Ein Teil der
       konservativ-religiösen Gesellschaft Tunesiens wurde lange Zeit von der
       Politik komplett ausgeschlossen. Heute müssen wir im Interesse der
       Demokratisierung unseres Landes und für den sozialen Frieden mit den
       Islamisten zusammenarbeiten. Dabei haben wir vergessen, dass ein Teil der
       Islamisten die Demokratie ganz ablehnt und die Gewalt sucht. Sie sind der
       Meinung, Demokratie sei Blasphemie.
       
       Die Regierung reagiert sehr verhalten auf die salafistische Gewalt, auch
       nach dem Angriff auf die US- Botschaft. Warum? 
       
       Wir haben uns Zeit gelassen zu reagieren, wir wollten verhandeln mit diesen
       Leuten. Da wir Verfechter der Menschenrechte sind und die meisten
       Mitglieder der heutigen Regierung selbst in Gefangenschaft gewesen sind und
       gefoltert wurden, tun wir uns schwer damit, brutal gegen diese
       Gruppierungen vorzugehen. Nur mussten wir feststellen, dass sie nicht zu
       Verhandlungen bereit sind. Und nun müssen wir Entscheidungen treffen.
       
       Denken Mitglieder der islamischen Ennahda wie Sie? 
       
       Ja. Nach dem Vorfall in der amerikanischen Botschaft mussten auch sie
       einsehen, dass es so nicht weitergehen kann und dass die Salafisten unserem
       Land und dessen Ansehen großen Schaden zufügen. Und Ennahda ist in einer
       viel größeren Zwickmühle, denn ihr rechter Flügel hat nahezu die gleichen
       Vorstellungen wie die Extremisten. Der einzige Unterschied ist, dass sie
       versuchen, gewaltfrei ihre rückwärtsgewandten Interessen durchzusetzen. Es
       gibt eine Krise, eine Spaltung in der islamischen Bewegung, die von den
       säkularen Kräften oft übersehen wird: die entscheidende Konfrontation
       findet heute nicht zwischen säkularen Kräften und den Islamisten statt,
       sondern zwischen gemäßigten Islamisten, die die große Mehrheit sind, und
       den islamistischen Extremisten.
       
       Was werden Sie gegen die Extremisten tun? 
       
       Das Gesetz muss diese Leute bestrafen. Ich habe immer schon gesagt, dass
       diese Leute behandelt werden müssen wie in Europa die Rechtsextremen: man
       muss ihnen klare Grenzen setzen und das Gesetz gegen sie anwenden. Man darf
       nur nicht den Fehler wie der Diktator Ben Ali machen und sie der Folter und
       der Inhaftierung aussetzen.
       
       Eine Frau wird wegen „unsittlichem Verhalten“ angeklagt, zwei Künstler
       wegen Vergehens gegen die öffentliche Ordnung, und Journalisten wurden bei
       ihrer Arbeit behindert. Versucht die regierende Ennahda über solche
       Aktionen im Namen des Islams eine Kontrolle über das private und soziale
       Leben der Menschen aufzubauen? 
       
       Ja, es gibt diesen Versuch und ich bekämpfe das. Ich bin der Meinung, dass
       man seine Ansichten im Rahmen des Dialogs und des Gesetzes durchsetzen
       muss. Sobald man aus diesem Rahmen heraustritt, tritt man aus dem
       nationalen Konsens aus.
       
       Was halten Sie von dem Versuch, die Stellung der Frau als komplementär zum
       Mann in der Verfassung zu verankern? 
       
       Das ist idiotisch. Das macht absolut keinen Sinn. Ich bin für die
       Gleichstellung beider Geschlechter, für die Gleichberechtigung. Punkt aus.
       
       Also ist das vom Tisch? 
       
       Ja. Dieses Wort wird in unserer Verfassung nicht existieren.
       
       Stimmt es Sie nicht traurig, dass viele Menschen, vor allem Frauen sagen,
       die Angst sei wieder da? 
       
       Ich glaube, das ist übertrieben. Es sind kleine Gruppen und nicht die
       Regierung, die die Frauen bedrohen. Aber diese Gruppen schreien laut und es
       wird viel über sie geschrieben.
       
       Im Vorwort eines Programms zu einer Kunstaktion in der Medina von Tunis
       stand: „Welches Paradox, dass es heute für Künstler in Tunesien schwieriger
       ist als zuvor.“ Teilen Sie diese Meinung? 
       
       Nein. Ich als Verfechter der Menschenrechte bin für die freie
       Meinungsäußerung, für die künstlerische Freiheit, auch wenn diese manchmal
       wehtut. Ich habe sehr unter der Diktatur und der Zensur gelitten. Das
       Problem ist nicht die Regierung, sondern eine kleine Minderheit, welche
       auch ein Problem für die Regierung darstellt.
       
       Wer ist das? 
       
       Die Salafisten.
       
       Die Journalisten der Zeitungsgruppe Dar Assabah sind im Hungerstreik, weil
       ihnen ein ihrer Meinung nach fachfremder, von Ennahda unterstützter
       Generaldirektor vorgesetzt wurde. Was sagen Sie dazu? 
       
       Alle unsere Institutionen werden gerade neu aufgebaut. In so einer Phase
       wollen jede Partei, viele politische Kräfte, aber auch die Regierung die
       Situation dominieren. In dieser Phase des Wiederaufbaus, der
       Umstrukturierung übt jeder Druck aus.
       
       Viele Tunesier beklagen eine Verrohung und Zunahme der Gewalt im Land. 
       
       Leider sind alle menschlichen Gesellschaften gewalttätig und in
       Übergangsphasen nimmt die Gewalt zu. Doch ich versichere Ihnen, unter der
       Diktatur war Tunesien ein sehr gewalttätiges Land. Es gab viele
       Selbstmorde, die vertuscht wurden, alles wurde vertuscht und die
       Gesellschaft wirkte nach außen hin stabil. Ich bin Professor für
       öffentliche Gesundheit und wollte eine Studie über die Selbstmordrate in
       Tunesien machen. Das wurde mir verboten. Denn es gab zu viel davon und
       viele vertuschte Vergewaltigungen. Jetzt, wo alles offenliegt, kommt der
       ganze Schmutz zum Vorschein.
       
       Was können Sie in Ihrer Rolle als Präsident zum Aufbau eines neuen
       Tunesiens beitragen? 
       
       Ich bin der Moderator des Übergangs. Der Palast von Karthago steht heute
       allen offen. Jeden Freitag lade ich zum Beispiel Oppositionelle und
       Intellektuelle zu einem informellen Meinungsaustausch in den Palast ein.
       
       Es gibt viele TunesierInnen, die sagen, der demokratische Prozess sei
       paralysiert. 
       
       Das Land ist nicht paralysiert, sondern konfus. Es gibt viele
       unterschiedliche Kräfte, und jede versucht die Kontrolle zu gewinnen. Wir
       sind im Prozess des Übergangs, des Gerangels. Übergangszeiten ohne klare
       Strukturen sind stets schwierig. Ich will deshalb so schnell wie möglich
       eine neue Verfassung ausarbeiten und eine neu gewählte Regierung
       konstituieren. Damit endlich die großen ökonomischen Probleme angegangen
       werden können. Die nächsten Monate werden die schwierigsten sein.
       
       Wann wird die neue Verfassung stehen? 
       
       Ich hoffe, es wird das Geschenk der Verfassunggebenden Versammlung zum
       zweiten Jahrestag der Revolution am 14. Januar 2013 sein.
       
       Die Revolution war vor allem auch eine soziale. Welche Ansätze zur
       Armutsbekämpfung gibt es? 
       
       In dieser Übergangsphase zögern die ausländischen Investoren. Aber ich
       glaube, Tunesien hat gute Chancen und erhält viel Unterstützung. Die
       brauchen wir auch und wir brauchen neue ökonomische Ansätze. Ich habe mir
       die Programme zur Armutsbekämpfung in Brasilien angeschaut. Aber so lange
       keine langfristige Regierung etabliert ist, passiert hier nur wenig
       
       Für die arme Bevölkerung ist das zu lang. 
       
       Das ist ein 50-jähriges Erbe. Und wir sind gerade mal acht Monate an der
       Regierung. Wir unterstützen von der Regierung Assoziationen der
       Zivilgesellschaft in allen Regionen, um mit ihnen ökonomische Hilfsprojekte
       in Gang zu setzen. Wir planen Projekte zur Energiegewinnung, zur
       Landwirtschaft und zur Industrialisierung des Hinterlandes. Aber wir werden
       die Armut nicht von heute auf morgen besiegen.
       
       Herr Präsident, Sie waren in den USA, in Peru und Brasilien. Wie
       präsentieren Sie Ihr Land? 
       
       Ein Land mit Problemen und Schwierigkeiten, aber ein Land, das einen
       demokratischen Aufbau nach 50 Jahren Diktatur versucht in einer schwierigen
       ökonomischen Situation und einer schwierigen Umgebung: Libyen, Syrien, die
       europäische Krise. Ein Land mit einer mutigen Zivilgesellschaft. Ich glaube
       fest daran, dass Tunesien in zwei oder drei Jahren ein stabiles
       demokratisches System sein wird. Man muss uns helfen, nicht für uns beten.
       
       15 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) E. Kresta
 (DIR) R. Fisseler-Skandrani
       
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