# taz.de -- Macht und Theater: Anders Breivik auf die Bühne bringen
       
       > Die wissenschaftlich-künstlerische Konferenz „Power and Dissent“
       > untersuchte Mechanismen der Inszenierung und ästhetischen Darstellung von
       > Staatsgewalt.
       
 (IMG) Bild: Schauspielerin Sascha Ö. Soydan mit Regisseur Mio Rau bei den Proben zu „Breiviks Erklärung“.
       
       Nach den vielen Vorträgen und Diskussionsrunden des Kongresses „Power and
       Dissent“, der vom 19. bis zum 21. Oktober im sommerlichen Weimar stattfand,
       ist man immer noch ein wenig verwirrt.
       
       Bei der vom Schweizer Theatermacher Milo Rau („Hate Radio“) und seinem
       International Institute of Political Murder veranstalteten
       „wissenschaftlich-künstlerischen Konferenz“ sollten „anhand aktueller und
       historischer machtpolitischer Dispositive sowie künstlerischer
       Interventionsstrategien Funktionsweise und ästhetische Darstellbarkeit von
       Staatsmacht untersucht“ werden.
       
       Russische, deutsche und amerikanische Wissenschaftler und Künstler – Stars
       wie Bazon Brock und der ehemalige CIA-Agent Glenn L. Carle, der wegen
       herrschender Folterpraktiken im Kampf gegen den Terror seinen Dienst
       quittierte und ein Buch darüber schrieb, waren auch dabei – diskutierten im
       Rahmen diverser Panels und einer Workshopreihe über historische und
       aktuelle Topologien staatlicher Macht – und die Zusammenhänge von Kunst und
       Dissidenz im heutigen Russland und Europa.
       
       Es ging um Mechanismen des Verhörs, um die theatralische Inszenierung
       staatlicher Macht von den Moskauer Prozessen 1937/38 bis zu den russischen
       Kunst-, Wirtschafts- und Terrorismusprozessen der Gegenwart, um die
       besorgniserregende Allianz von Staat und Kirche in Russland, immer wieder
       auch um den Prozess gegen Pussy Riot und andere Verfahren, die unter dem
       Vorwurf der Beleidigung religiöser Gefühle seit 1998 gegen missliebige
       Künstler, Ausstellungsmacher und Institutionen angestrengt werden.
       
       ## Ein szenischer Kongress
       
       Alle einzelnen Veranstaltungen hätten so auch auf einem wissenschaftlichen
       Kongress stattfinden können, veränderten aber ihren Charakter, da sie
       gleichsam in Anführungszeichen standen, handelte es sich doch um einen
       „szenischen Kongress“, der grundsätzliche Theaterthemen durchdeklinierte:
       die Inszenierung (der Moskauer Prozesse), Wiederholung und Differenz (im
       Reenactment der Rede des Massenmörders Breivik), das Heilige, die Ikone, in
       der Zeichen und Bezeichnetes ineinanderfallen, die sich dem Diskurs
       entzieht, und deshalb nicht verändert im Bereich moderner Kunst verwendet
       werden darf.
       
       (Wobei der Volkszorn, der Protest russisch-orthodoxer Menschen, die in
       ihren religiösen Gefühlen verletzt gegen angebliche Blasphemien
       protestieren, seinerseits auch wieder organisiert und instrumentalisiert
       ist von fundamentalistischen orthodoxen Splittergruppen, der Putin-Jugend
       und anderen Organisationen, die eigene Zwecke verfolgen, wie berichtet
       wurde.)
       
       Gleichzeitig, wie bei vielen Kongressen wohl, hatte man den Eindruck einer
       gewissen Ortlosigkeit und Raumschiffhaftigkeit: 25 kompetente Teilnehmer,
       20 Leipziger Theaterwissenschaftsstudenten, die bei Milo Rau eine
       Projektwoche machten, viele Journalisten und andere Fachbesucher aus allen
       möglichen Gegenden treffen sich drei Tage im und am e-werk, der
       industrieromantischen Nebenbühne des Weimarer Nationaltheaters.
       
       Das „normale“ Publikum war im Allgemeinen weniger als das der Beteiligten
       und Fachbesucher. Die meisten Veranstaltungen wurden dazu noch für einen
       Dokumentarfilm aufgezeichnet. Teile der Veranstaltung werden dann wieder
       woandershin wandern.
       
       Und alles wurde übertönt durch den erwartbaren Skandal um die Aufführung,
       das Reenactment der einstündigen Verteidigungsrede, die der rechtsradikale
       Massenmörder Anders Breivik am 17. 4. 2012 vor dem Osloer Gericht hielt.
       „Breiviks Erklärung ist kein Stück, keine Inszenierung, keine Kunst –
       sondern das Gegenteil.
       
       […] Uns interessiert nicht der Mensch, der Mörder, uns interessiert der
       Text, der durch ihn hindurch spricht […], der skandalös nur ist, weil er
       zum Skandal überhaupt nicht taugt“, weil die „banale (Un-)Logik der darin
       enthaltenen Argumente“ von großen Teilen der westeuropäischen Bevölkerung
       geteilt würde, so Milo Rau. Die vielen Verneinungen deuten schon darauf
       hin, dass dem Theatermacher klar ist, dass es sich um eine Inszenierung
       handelt.
       
       Zwei Tage vor der Aufführung und eine Woche nach einem längeren Artikel der
       Zeit, in dem nicht nur die Inszenierung Raus, sondern auch die von
       Christian Lollike, die seit dem 11. Oktober in einem Kellertheater in
       Kopenhagen läuft, aus prinzipiellen Gründen kritisiert wurden, hatte sich
       das Nationaltheater Weimar von diesem Teil des szenischen Kongresses
       distanziert.
       
       Man wollte „eine Grenze setzen, was man im Theater zeigen kann“, so Thomas
       Schmidt, der Geschäftsführer des Nationaltheaters Weimar. Außerdem sei die
       Verlesung eines Textes, „noch dazu eines Massenmörders und Rechtsextremen“,
       keine Kunst. Dass die Distanzierung erst jetzt kam, ist etwas seltsam,
       schließlich wusste das Theater seit August von der Aufführung.
       
       Die „lecture-performance breiviks erklärung“ wurde also von der Nebenbühne
       e-werk in ein nur wenige Meter weiter entferntes Kino verlegt. Die
       deutsch-türkische Schauspielerin Sascha Ö. Soydan sollte die Erklärung
       verlesen. Sascha Soydan kennt man aus dem „Tatort“ und aus der schönen
       Kinderserie „Die Pfefferkörner“.
       
       Breivik hatte die nicht durchgängig vorformulierte Rede – eine Art
       aktualisiertes Best-of seines mehr als tausendseitigen Kompendiums „2083“ –
       am 17. 4. 2012 im Osloer Gericht gehalten. Der Text war zwar für die
       Öffentlichkeit gesperrt worden, hatte aber dann doch seinen Weg ins
       Internet gefunden. In der Rede ging es Breivik noch darum, zu
       demonstrieren, dass er nicht verrückt sei.
       
       Es war seltsam, mit den anderen vielleicht hundert Interessierten vor und
       im Kino auf die skandalisierte Aufführung zu warten. Der junge Mann hinter
       dem Tresen sagte „Ich kann Optimismus verbreiten. Es gehen noch Leute
       rein“, dann ging man hinein. Zwischen der minimal ausgestatteten „Bühne“,
       auf der Sascha Soydan kaugummikauend vor einem Pult unter einer absurd
       großen Leselampe und dem Publikum stand, war kaum Platz. Sie trug ein
       Obama-T-Shirt unter ihrer roten Kapuzenjacke und schaute auf die Blätter,
       die sie gleich verlesen würde.
       
       Schon bei den ersten Sätzen wurde deutlich, dass Rau mit dem, was er über
       seine Inszenierung sagte, unrecht hat. Mag sein, dass sich Rau nicht für
       den Massenmörder interessiert, sondern nur für den Text, „der durch ihn
       hindurch spricht“ und der dem gedanklichen Mainstream der Bürger
       Westeuropas entspreche, er lässt diesen Text durch einen anderen Körper
       hindurch sprechen, durch den Körper einer attraktiven, supercoolen,
       streetwisen und unerreichbaren Tochter türkischer Migranten, die dem
       ausgesprochenen und unausgesprochenen Feind des Massenmörders entspricht.
       
       ## Der Text schmerzt
       
       Sascha Soydan liest den Text sehr langsam, sehr deutlich, mit vielen Pausen
       auf eine Weise emotionslos, die alles vermeidet, was an einer emotionslos
       vorgetragenen Rede affektiert wirken könnte. Die minimalen, fast
       versteckten Gesten, wenn sie Kaugummi kaut und irgendwann ihr Kaugummi
       unter das Pult klebt, sind Distanzierungsgesten, die gleichzeitig die
       Person Breivik evozieren.
       
       Der Text schmerzt, nicht so sehr im Einzelnen, in den Passagen, die
       tatsächlich anschlussfähig sein mögen, nicht nur an einen rechten Diskurs,
       Sarrazin, Islamophobiker und Islamisten, sondern auch an linke Zitate. Wenn
       Breivik sagt, das sei keine Demokratie, „ich wurde im Gefängnis geboren“,
       evoziert man ein bekanntes Lied von Ton, Steine, Scherben, in dem es es
       heißt: „Wir müssen hier raus, das ist die Hölle, wir leben im Zuchthaus“.
       
       Der Vortrag schmerzt, weil er eine Wunde wieder aufreißt. Die Kritik etwa
       des Spiegels, dass man in Sachen Breivik „von einem größeren Nachholbedarf
       ernsthaft nicht reden kann“, da in den Monaten nach den Morden doch so
       viele gute Texte in den Medien alles ausführlich untersucht haben, leuchtet
       vor allem Autoren und Journalisten ein, die sich damit ein paar Monate
       beschäftigt hatten. Und eigentlich auch nur, wenn man der Ansicht ist,
       „Breivik“ hätte nichts mit uns zu tun.
       
       Nach der Aufführung oder Ausstellung der Rede des Massenmörders dauerte es
       ein, zwei Minuten, bis vereinzelt geklatscht wurde. Man hatte das Gefühl,
       nicht nur bei, sondern auch Teil einer obszönen Veranstaltung gewesen zu
       sein, von der man sich in Wortmeldungen distanzieren zu müssen meinte, wenn
       etwa gesagt wurde, dies sei kein guter Text, oder es sei zwar rhetorisch
       ein guter Text, „aber nicht erste Liga“ gewesen.
       
       In ähnlicher Weise vielleicht, wie man den tätowierten, kräftigen Mann im
       Zug nach Haus registrierte, der ein T-Shirt trug mit der Aufschrift „Ruhm
       und Ehre der deutschen Wehrmacht“ und froh war, dass er sich dahin setzte,
       wo man ihn nicht mehr sehen musste. „Breiviks Erklärung“ wird noch mal am
       27. Oktober im Berliner Theaterdiscounter gezeigt.
       
       22 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Detlef Kuhlbrodt
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Milo Rau
       
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