# taz.de -- Verbrechen am Alexanderplatz: Ein gewaltiger Ort
       
       > Vor einem Monat wurde Jonny K. am Alexanderplatz totgeschlagen. Was hat
       > sich seitdem verändert? Eine Spurensuche am Tatort.
       
 (IMG) Bild: Kerzen und ein Bild des getöteten Jonny K. am Tatort auf dem Alexanderplatz.
       
       Eine Frau im roten Mantel kniet vor rund hundert Grabkerzen, sie betet. Die
       roten Lichter unter einem Sonnenschirm erinnern an Jonny K., drum herum
       liegen schon etwas welke Blumensträuße und jede Menge persönliche
       Nachrichten. „Irgendwann sehen wir uns wieder“ steht auf einem Blatt.
       
       Ein kalter Windstoß weht Sebnem Yasaroglu, der Frau im roten Mantel, eine
       Haarsträhne ins Gesicht. Sie wischt sie zur Seite, schnieft und zieht ein
       Foto des getöteten 20-Jährigen aus einem Strauß roter Rosen. „Wie er
       aussieht, richtig lieb“, sagt sie und streicht mit Daumen über das Foto,
       auf dem sie Jonny K. anlächelt. „Wie ein Engel“, sagt Yasaroglu, und ihre
       Augen glänzen. Nach einer kurzen Pause fährt sie fort: „Das, was hier
       passiert ist, darf einfach nicht in Vergessenheit geraten.“
       
       Es ist Montagabend, sechs Uhr. Die Kerzen stehen mitten auf dem
       Bürgersteig, vor einem grell erleuchteten Schaufenster der Ladenzeile der
       Rathauspassagen. Auf der einen Seite führt der Bürgersteig vorbei, auf der
       anderen der Radweg. Drei Männer mit Aktenkoffern kommen aus Richtung der
       S-Bahn und laufen an den Kerzen vorbei, gefolgt von einer Frau mit
       abgelaufenen Turnschuhen, eine Bierflasche in der Hand. Aus einem
       Restaurant ein paar Meter weiter stolpern drei Mädchen mit hochhackigen
       Schuhen und Röhrenjeans. Sie haken die Arme unter und passieren den
       Gedenkort, dabei kichern sie und scherzen auf Englisch. Von der S-Bahn her
       klingt das Quietschen eines Zuges.
       
       ## Sie wollten nur feiern
       
       Ein Monat ist vergangen, seit der 20-jährige Jonny K. von sieben
       Jugendlichen totgeprügelt wurde. In jener Nacht zum 14. Oktober feierten
       das Opfer und die mutmaßlichen Täter nur wenige hundert Meter voneinander
       entfernt. Der Freundeskreis um das Opfer feierte im „Mio“, einem schicken
       Club unter dem Fernsehturm. Zeugenaussagen zufolge tanzten die Gruppe der
       mutmaßlichen Täter zu Türk-Pop in der Bar Cancun, 50 Meter vom späteren
       Tatort entfernt in Richtung Rotes Rathaus.
       
       Es ist kurz vor vier Uhr morgens. Einem Begleiter von Jonny K. wird
       schlecht, er muss sich übergeben. Ein anderer nimmt ihn huckepack und trägt
       ihn in Richtung S-Bahnhof. Jonny, der an diesem Abend eine Basecap mit der
       Aufschrift „Last Kings“ trägt, will helfen: Er begleitet seine Freunde, sie
       wollen den Betrunkenen in ein Taxi setzen und weiterfeiern. Vor dem Cancun
       holt Jonny einen Stuhl, auf den sie den Betrunkenen setzen wollen. Hier
       kommt es zur Auseinandersetzung mit einer Gruppe von Jugendlichen: Einer
       reißt dem Betrunkenen den Stuhl weg, Jonny will schlichten, und wird
       daraufhin zusammengetreten. An den Verletzungen stirbt er zwei Tage später.
       
       Bisher ist der Tathergang nicht ganz aufgeklärt. Die Polizei nimmt wenige
       Tage später einen Verdächtigen fest, kurz darauf stellen sich zwei weitere.
       Der mutmaßliche Haupttäter jedoch befindet sich laut Polizei in der Türkei
       und kann nicht befragt werden. Zwei seiner Begleiter haben sich laut
       Medienberichten nach Griechenland abgesetzt.
       
       Das Entsetzen über die Tat ist groß. Innensenator Frank Henkel (CDU)
       erklärt: „Wer zu solchen Taten fähig ist, spreche ich jedes Ehrgefühl ab“.
       Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit sagt den Schlägern den Kampf
       an: „Niemand darf wegschauen, wenn sie Zeugen solcher Taten werden.“ –
       „Berlin weint um Jonny“, titelt die BZ am 28. Oktober, der Tag der
       öffentlichen Trauerfeier. 600 Menschen kommen.
       
       Für Sebnem Yasaroglu nicht genug. „Wenn man bedenkt, dass zur Demo für die
       Asylbewerber mehr als 3.000 Menschen zusammenkamen“, sagt sie und schüttelt
       den Kopf. „Derweil betrifft willkürliche Gewalt jeden. Jeder kann Opfer
       werden“, fährt die Mutter von drei Kindern fort.
       
       Sie selbst kannte weder Opfer noch Täter. Allein die Willkür der Tat macht
       sie wütend. Und treibt sie an. Fast jeden Tag kommt sie hierher, um
       Grablichter wieder zu entflammen, die der Wind ausgeblasen hat. Sie eine
       Facebook-Seite mitgegründet, auf der Menschen aufgerufen werden, Teelichter
       zu spenden. 700 so genannte Likes hat die Gruppe inzwischen. Jetzt hat
       Yasaroglu ein Zelt organisiert, das die Lichter im Winter vor Sturm und
       Regen schützen soll. „Ich will diesen Gedenkort dauerhaft pflegen“, sagt
       Yasaroglu.
       
       ## Eine Bierflasche fliegt
       
       Es klirrt. Gut 20 Meter weiter zerplatzt eine Bierflasche auf dem Pflaster.
       „Heeey, seid ihr verrückt?“ Ein Punk streckt die Faust nach oben zu der
       Fensterreihe über den Schaufenstern, in die Richtung, aus der die Flasche
       geflogen kam. Offenbar hat ein Anwohner sie auf die Gruppe von Punks
       geworfen, die rund um eine Laterne stehen und selbst Bier trinken. Der Alex
       ist kein charmanter Platz: Er ist das Zuhause für viele Straßenkinder,
       Umsteigeort für hunderttausende Pendler täglich, beliebte Shoppingmeile, zu
       allerlei Anlässen wie Ostern, Oktoberfest und Weihnachten mit Marktbuden
       vollgestellt, Bühne für Musiker. Und Dauerbaustelle: Derzeit sind Flächen
       wegen des Baus der U-Bahn-Linie 55 gesperrt.
       
       Kein Wunder, dass manche Menschen lieber so schnell wie möglich den zugigen
       Platz wieder verlassen. „Sie haben recht“, sagt Dino, ein 30-jähriger
       Hotelangestellter. Er steht am Tresen der „Besenkammer“, einer schummrigen
       Schwulen- und Lesben-Kneipe unter der S-Bahn-Trasse, und beschwert sich
       über den Alex. „Ich wohne seit sechs Jahren zwei Minuten von hier, und es
       wird immer schlimmer: Ständig werde ich angepöbelt“, fährt er fort. Seine
       Tresennachbarn nicken betreten.
       
       „Ich verlasse meine Wohnung nicht mehr ohne Waffe.“ Dino zieht einen
       Schlagring aus der Manteltasche. „Der ist noch von der SS, hab ich von dem
       Vater eines Freundes geerbt“, flüstert er und schiebt ihn auf seine Finger.
       „Man kann ja nie wissen.“ Nachdem Jonny K. grundlos auf „seinem Alex“ zu
       Tode getreten wurde, sei er auf alles gefasst. „Mich überkommt immer ein
       mulmiges Gefühl, wenn ich an den Kerzen vorbeilaufe.“
       
       Es ist spät geworden, vor der Tür der „Besenkammer“ sind Gitarrenakkorde
       hören. Sie kommen von der Stelle, an der Jonny K. totgeprügelt wurde. Ein
       junger Mann, etwa 20 Jahre alt, spielt neben den Blumensträußen Gitarre. Um
       ihn herum stehen fünf junge Leute mit Feuerzeugen und Teelichtern in der
       Hand. Eine ist Tina K., Jonnys große Schwester. Sie kommt jeden Tag an
       diesen Ort, um die Kerzen wieder anzuzünden oder aufzufüllen. K. wirkt
       ruhig, fast souverän. „Ich bin überrascht und glücklich, wie viele Menschen
       uns helfen wollen“, sagt sie. Mit guten Worten, mit Blumen, mit Geld. Sie
       überlege nun, eine Stiftung zu gründen für die Opfer von Straßengewalt.
       
       Die anderen Vier sind Freunde der Familie, sie versuchen gemeinsam, das
       Unvorstellbare zu verstehen, zu verarbeiten. „Sag mir warum nur die besten
       sterben jung“, singt der Gitarrist. Tina K. umarmt eine Freundin, sie
       blickt in das Lichtermeer. Ihre Augen leuchten.
       
       14 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Maria Amberger
 (DIR) Julia Amberger
       
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