# taz.de -- Zum 1100. Geburtstag von Otto I.: Der Kaiser und das Dorf
       
       > Wallhausen in Sachsen-Anhalt beansprucht, Geburtsort von Otto dem Großen
       > zu sein. Ein zugewanderter Schweizer Bildhauer unterstützt es dabei.
       
 (IMG) Bild: Ein Kind dieser Stadt? Der Kaiser als goldener Reiter bei der Otto-Ausstellung in Wallhausen.
       
       WALLHAUSEN/MAGEDBURG taz | Am Morgen ziehen Kraniche übers Schloss. Die
       Vögel kommen vom Kyffhäuser-Massiv, trompeten, als wollten sie Wallhausen
       grüßen, und fliegen unter grauen Wolken weiter. Meinrad Betschart bemerkt
       sie nicht. Er trägt einen struppigen Pullover, schiebt eine Karre mit Holz
       über den Kiesboden und steigt in den Kaiser-Otto-Saal hinab. Im Gewölbe
       füttert er mit den Scheiten einen mächtigen Bullerjan. Die Tische sind
       schon hergerichtet, Deckchen, Kerzen, alles bereit. Für den 1.100.
       Geburtstag des Imperators? Nein, am Nachmittag treffen sich Schachspieler
       zum Turnier.
       
       Doch hier, im Umkreis von hundert, vielleicht zweihundert Metern erstreckte
       sich die Königspfalz Wallhausen, in der am 23. November 912 Otto geboren
       wurde. Jener Otto, der in Aachen den deutschen Königsthron bestieg und der
       in Rom zum ersten römisch-deutschen Kaiser erhoben wurde. Kurzum – Otto der
       Große, der die Fundamente für das Gebilde schuf, das heute Deutschland
       heißt, hat hier in Wallhausen, einem 2.500-Einwohner-Dorf, das Licht der
       Welt erblickt. Vermutlich zumindest. Doch was heißt vermutlich? Meinrad
       Betschart würde seine Hand als Beweis sofort ins frisch entfachte Feuer
       legen. Und Betschart ist Schweizer.
       
       Indizien für die edle Geburt gibt es einige. So haben in Wallhausen 909
       Ottos Eltern Heinrich und Mathilde geheiratet, Heinrich hat seiner
       14-jährigen Gemahlin die Pfalz als Morgengabe überlassen. Später hat Otto
       Wallhausen oft angesteuert. Vieles spricht dafür, dass er hier geboren
       wurde. Was fehlt, ist ein Beweis. Urkunden gibt es wenige aus jenen Jahren,
       schon gar keine, die eine Geburt anzeigen. Und erhalten hat sich aus Ottos
       Zeit nichts als der dicht bewaldete Kyffhäuser, die sanften Ausläufer des
       Harzes und der Kranichzug im November.
       
       Betschart verschwindet in einem Eingang, um bald aus einem anderen wieder
       herauszukommen. Der Schweizer kennt jedes Gewölbe, jeden Gang, jede Fuge,
       als hätte er wie Alberich über die Jahrhunderte ausgeharrt, um das Erbe des
       Kaisers zu hüten. Dabei kam Betschart, ein Bildhauer aus dem Kanton Schwyz,
       erst vor sieben Jahren hierher.
       
       Am Vorabend im Keller hatte der 53-Jährige bei Kerzenlicht seine Geschichte
       erzählt und die seines Förderers, des schweizerischen Unternehmers
       Meier-Föllmi. Beide – halb aus Spaß, halb im Ernst – blätterten 2004 im
       Katalog der Deutschen Grundstücksauktion und blieben bei einem Schloss aus
       dem 17. Jahrhundert hängen, das das Land Sachsen-Anhalt anbot. „Da stand,
       dass der Ort Wallhausen zu den fünf bedeutendsten Kaiserpfalzen gehört
       hat“, erzählte Betschart. Geglaubt haben sie’s nicht.
       
       Doch je mehr sie erfuhren, desto weiter standen ihre Münder offen. Ein
       Flecken irgendwo jenseits von Magdeburg als Geburtsort Kaiser Ottos des
       Großen? Otto, der das Kloster Einsiedeln, eines der mächtigsten Klöster der
       Schweiz, so üppig mit Privilegien ausstattete, dass es noch heute eine
       Sonderstellung einnimmt? Und ist nicht Meinrad von Einsiedeln, der Gründer
       des Klosters, sein, Meinrad Betscharts, Namenspatron?
       
       ## Ein Drittel der Historiker ist sich sicher
       
       Was gibt es an Wallhausen zu zweifeln? „Ein Drittel der Historiker sagt,
       Wallhausen ist der Geburtsort, ein Drittel sagt, es ist wahrscheinlich der
       Geburtsort und ein Drittel erwähnt es nicht“, zählt Betschart auf, legt das
       wichtigste Argument nach: „Es gibt keinen anderen Ort, der Wallhausen das
       streitig macht.“ Und mit jedem Viertel Wein, das die Kellnerin brachte,
       nahm die Gewissheit zu, dass Ottos Wiege nur hier gestanden haben kann.
       Eines allerdings blieb den beiden Schweizern lange ein Rätsel: Warum nur
       verkauft der deutsche Staat diesen weltgeschichtlich bedeutsamen Fleck?
       
       Als wollten sie den Geburtsort bestätigen, leuchteten die Sterne in der
       Nacht wie über dem weihnachtlichen Betlehem. Doch am Morgen ist alles grau.
       Hier unter dem Kies sollen die Reste der Pfalz schlummern, hatte Betschart
       gesagt. Grabungen würden alles bestätigen, allerdings müsste der Hausherr
       für die Untersuchung einige zehntausend Euro aufbieten.
       
       Da knirscht es. Ein Mann steht auf dem Hof, buschige Brauen, weißes Haar
       und wache Augen, – Klaus Hinsching ist ehrenamtlicher Bürgermeister von
       Wallhausen. Er blickt andächtig die Fassade hinauf. „Es war ein ideales
       Schulgebäude, weite Flure, breite Treppen, geräumige Klassen“, beginnt er.
       Bis zu 400 Kinder wurden vom Lehrerkollektiv unterrichtet, mittendrin
       Geschichtslehrer Hinsching. Doch nach der Wende ging es mit den
       Geburtenzahlen bergab, 2003 wurde die Schule für immer geschlossen.
       
       Ein Glücksfall sei es gewesen, sagt der 68-Jährige, dass die Schweizer das
       Schloss ersteigert haben. Nicht nur, dass kräftig investiert wird und 20
       Wallhäuser umgehend Arbeit gefunden haben. Jetzt könne endlich auch das
       Erbe Kaiser Ottos gepflegt werden. „Haben Sie die Ausstellung gesehen?“
       fragt Hinsching stolz.
       
       Die Ausstellung „Wallhausen – Geburtsort Ottos des Großen“, von einem
       Historiker von der Magdeburger Universität kuratiert, versucht schon im
       Titel alle Zweifel am Geburtsort zu zerstreuen. Sie präsentiert Fundstücke
       aus Wallhausen, zitiert den Chronisten Widukind von Corvey, wirft einen
       Blick auf die „ottonische Sakrallandschaft“ Minden und Meißen und zählt
       über vierzig Urkunden auf, die in Wallhausen ausgestellt wurden und heute
       in Archiven in ganz Europa lagern.
       
       Die Glanzstücke haben die Schweizer Hausherren organisiert. Es sind zwei
       Pergamente aus dem Kloster Einsiedeln, in denen Otto die Privilegien
       garantiert und die der Abt nach Wallhausen ausgeliehen hat.
       
       ## Vereinnahmt von den Nazis
       
       Es scheint fast, als habe der Kaiser die beiden Schweizer geschickt, seine
       Wallhäuser zu wecken. Hinsching widerspricht. Auch im Sozialismus wurde
       Otto nicht vergessen, versichert er. Eigentlich war er für die DDR nur ein
       Eroberer mit einem unbändigen Drang nach Osten. Verhängnisvoll war auch,
       dass Heinrich Himmler in der Stiftskirche Quedlinburg, wo Ottos Eltern
       begraben liegen, 1938 eine SS-Weihestätte einrichten ließ. Und dass das
       „Unternehmen Barbarossa“, die Planung für den Überfall auf die Sowjetunion
       1941, zeitweilig den Decknamen „Otto“ trug, machte den Kaiser vollends
       suspekt.
       
       Man konnte an Ottos Herrschaft aber gut das Feudalsystem darstellen,
       erinnert sich Hinsching. „Sie können sicher sein, dass ich als
       Geschichtslehrer immer mehr gemacht habe.“ Hinsching, seit 1994
       Bürgermeister, ist Richtung Dorf aufgebrochen, deutet auf die Plakette an
       der Schlosseinfahrt, „Kaiserpfalz Walahuson“ steht da seit 2008 in Bronze
       gegossen.
       
       Kein Zweifel – Otto trugen die Wallhäuser stets in ihrem Herzen, auch wenn
       Ort und Einwohner manchen Nackenschlag einstecken mussten. Nicht nur, dass
       die Pfalz bald nach Ottos Tod 973 an Bedeutung verlor. Hohe Häupter haben
       sich über Jahrhunderte nicht mehr blicken lassen, das Stadtrecht wurde 1831
       aberkannt und 1945 bombardierten die Amerikaner Wallhausen, 68 Einwohner
       starben. Daher verströmt das Dorf keine Fachwerkheimeligkeit, sondern hat
       auffallend geöffnete Straßenfluchten, große Fenster und breite Plätze.
       
       Immerhin bewirkten 1990 die Wiedergeburt Sachsen-Anhalts und die Wahl
       Magdeburgs, Ottos Grablege, zur Landeshauptstadt, eine Renaissance. Doch
       Wallhausen blieb lange ignoriert. Magdeburg, Quedlinburg, Halberstadt,
       Merseburg, selbst in Ottos Sterbeort Memleben – überall konnten sich
       Touristen auf die Spuren der Ottonen begeben, nur Wallhausen blieb in all
       den Broschüren unerwähnt. Am Schlimmsten war der MDR. In einem Film über
       Otto wurde Wallhausen als Geburtsort erwähnt, der Ort irrtümlich jedoch an
       die Aller verlegt.
       
       ## Thron fürs Otto-Feeling
       
       Jetzt ist alles anders. Mit der diesjährigen Landesausstellung „Otto der
       Große und das Römische Reich“ in Magdeburg ist das Dorf in die Riege der
       Erinnerungsorte aufgenommen worden. Und im April folgte der Ritterschlag.
       Nach Jahrhunderten fand ein Landesherr wieder hierher. Ministerpräsident
       Reiner Haseloff von der CDU eröffnete die Otto-Schau im Schloss.
       
       „Eine wunderbare Ausstellung!“, lobte Haseloff. Er hatte alles betrachtet,
       alles studiert. Nur den schlichten Aachener Königsthron, den Otto 936
       bestieg und den Bildhauer Betschart aus Holz in Originalgröße nachgebaut
       hat, um allen ein Otto-Feeling zu verschaffen, bestieg Haseloff nicht.
       Hinsching ist ein bedächtiger Mann, Überschwang kann er gut verbergen. „An
       Wallhausen wird man nicht mehr vorbeikommen,“ sagt er nur.
       
       Im Schloss versenken sich am Nachmittag die Schachspieler in ihr Spiel. In
       Magdeburg unterdessen, hundert Kilometer nordöstlich von Wallhausen, steigt
       das Gemurmel der Otto-Verehrer in die Gewölbescheitel des Domes hinauf. Die
       Besucher strömen vom Eingang zum Sarkophag im Chor, verweilen kurz und
       verschwinden wieder.
       
       Ottos marmorner Sarkophag ist schlicht wie der Aachener Thron. Er wirkt wie
       der Angelpunkt eines versunkenen Reiches, dessen Reste in Sachsen-Anhalt
       verstreut sind. 973 starb Otto in der Pfalz Memleben, sein Leichnam wurde
       hierher überführt. So erzählt es ein Faltblatt über Otto und den Mageburger
       Dom, das am Büchertisch verkauft wird. Doch der erste Satz unter „Wichtige
       Daten“ ist ein Schlag für Betschart und Hinsching: 912 – Otto als Sohn
       Heinrich I. in Quedlinburg geboren“.
       
       Wallhausen muss weiter um seinen Platz in der Geschichte bangen. Als
       Hoffnungszeichen lässt Klaus Hinsching heute eine Eiche pflanzen.
       
       23 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gerlach
 (DIR) Thomas Gerlach
       
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 (DIR) Sachsen-Anhalt
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