# taz.de -- Zusammenwachsen im Großkreis: Man ist sich fern
       
       > Landrat Heiko Kärger vom Kreis Mecklenburgische Seenplatte hat eine
       > Mammutaufgabe. Er muss dafür sorgen, dass der Kreis zu einer Einheit
       > wird.
       
 (IMG) Bild: Im Landkreis sind große Distanzen zu überwinden.
       
       DEMMIN/MALCHIN/STAVENHAGEN taz | Es ist noch früh an diesem kalten, klaren
       Morgen im Herbst, als Heiko Kärger sich wieder einmal eine Facette seines
       neuen Landkreises erschließt. Ringsum fällt fahles Licht über matschige
       Wiesen, weiter hinten zeichnen sich Schrebergärten ab. Heiko Kärger stapft
       auf den Eingang des Flachbaus vor ihm zu. „So“, sagt er, „dann wollen wir
       mal sehen.“
       
       Kärger wird gleich bei einem Wettbewerb antreten, den es bereits seit 15
       Jahren gibt, immer im Herbst, am Schießstand der Demminer Schützengilde:
       das Gästeschießen des Landkreises. Kärger ist zum ersten Mal dabei; Demmin
       ist erst vor gut einem Jahr seinem Verantwortungsbereich zugeteilt worden.
       Sonst ist es für den Landrat ein ganz normaler Tag. Sich sehen lassen,
       Grußworte sprechen, repräsentieren, das macht einen großen Teil seiner
       Arbeit aus, „etwa 30 bis 40 Prozent“, sagt er.
       
       Kärger, CDU, ist ein unauffälliger Typ, 52 Jahre alt, mit randloser Brille.
       Er schiebt sich behutsam durch die Menge in dem Vereinsheim voran, auf dem
       Weg schüttelt er die Hände von Uniformierten, Schützen, Soldaten und
       Notärzten in roten Anzügen.
       
       Ursprünglich wurde das Gästeschießen erdacht, damit Menschen, die im
       Bereich Gefahrenabwehr arbeiten, einander kennenlernen. Inzwischen kommen
       auch Vertreter von Wirtschaft und Verwaltung dazu. Kontakte knüpfen, Nähe
       herstellen. Auf solche Dinge wird es ankommen, wenn der Umbruch gelingen
       soll, in dem die Region steckt. Alte Kreise haben aufgehört zu existieren,
       neue sind dafür entstanden.
       
       Der Kreis Mecklenburgische Seenplatte erstreckt sich vom Norden der
       Uckermark bis fast an die Ostsee, und Kärger ist der oberste Beamte in
       diesem riesigen Reich. Es ist seither oft in Gegenden unterwegs, die er
       bislang kaum kannte. Für Termine, die er sonst immer wahrgenommen hat,
       fehlt dagegen die Zeit. Dann sagen die Leute: „Aber du bist doch früher
       immer gekommen.“ Kärger legt die Stirn in Falten. „Das ist das, was mir ein
       bisschen Leid tut.“
       
       Nach und nach verteilt sich die Menge an Stationen des Parcours,
       Kleinkaliber, Armbrust, Pistole und Sturmgewehr. Kärger öffnet die Tür zu
       einer Halle und lässt sich an einem Holzbalken nieder. Er stopft gelbe
       Stöpsel in seine Ohren und legt die G36 an, die vor ihm aufgebockt ist. Ein
       Soldat im Tarnanzug erklärt ihm, wie man das Gewehr lädt. Durch das
       Fernrohr visiert er die Zielscheibe an der Rückwand an. „Sehen Sie den
       roten Punkt?“, fragt der Rekrut. Von hinten schreit jemand: „Waffe fertig,
       laden, Feuer frei!“ Der Landrat drückt ab.
       
       ## Was im Kalender rot ist, ist voll
       
       Zu Heiko Kärgers Aufgaben zählt nun auch, dafür zu sorgen, dass die
       Kreisgebietsreform in den Ämtern umgesetzt wird. Das bedeutet: Aus den
       Behörden von drei Kreisen und einer kreisfreien Stadt muss eine Einheit
       werden, sozusagen ein Superorganismus der regionalen Verwaltung. „Es läuft
       inzwischen schon viel besser“, sagt der Landrat. „Der helle Wahnsinn“, sagt
       ein Politiker aus der Region.
       
       Wer begreifen will, was ein sperriges Wort wie „Kreisgebietsreform“
       bedeutet, kann Landrat Kärger eine Weile dabei beobachten, wie er versucht,
       die Distanzen in seinem neuen Kreis zu überbrücken. Novemberregen klatscht
       gegen die Scheiben seines Geschäftswagens, seit dem Gästeschießen sind ein
       paar Wochen vergangen. Kärger rauscht im Fond der dunklen Limousine durch
       eine grüne Landschaft, vorbei an Feldern und Weiden.
       
       Kärger, studierter Agraringenieur, ist in den Behörden groß geworden. Ein
       Mann der Verwaltung durch und durch, sagen seine Kollegen. Er zählte zu den
       Befürwortern der Neuordnung, „weil leider Gottes kein Weg daran
       vorbeiführte“. Derzeit leben in dem Kreis noch 270.000 Menschen. In 18
       Jahren werden es 20 Prozent weniger sein. Zugleich tun sich in den
       öffentlichen Kassen riesige Löcher auf.
       
       Bereits jetzt hat der neue Landkreis ein Defizit von 25 Millionen Euro. Die
       Gebietsreform musste sein, sagt er. Nur, wie sie ablief, das hat ihn
       geärgert. „Holterdiepolter“ sei die Region vor diese Mammutaufgabe gestellt
       worden. Niemand war vorbereitet. „Ich hätte nicht mit so vielen Problemen
       im Detail gerechnet“, sagt er. Vorher gab es alle Ämter an allen
       Standorten. Nun wird zusammengestrichen: Das Umweltamt zieht nach Waren,
       das Ordnungsamt nach Demmin.
       
       Heiko Kärger war bis Ende 2011 Landrat des Kreises Mecklenburg-Strelitz,
       der im neuen Großkreis aufgegangen ist. „Der Verwaltungsaufwand ist sehr
       viel größer geworden“, sagt er. „Alleine für die Post brauche ich jetzt
       doppelt so lange.“ Er zieht ein iPad hervor und streicht über das Display,
       eine Tabelle erscheint. „So sieht meine Woche aus“, sagt Kärger, „was rot
       ist, ist voll.“ Fast der ganze Bildschirm glimmt rot. In den Feldern stehen
       Gespräche mit Fachdezernenten, Kreistagssitzungen, Arbeitsgruppen, am Abend
       Feste oder Konzerte.
       
       ## Zu lange Anfahrtswege
       
       Dann bremst sein Chauffeur. Es ist neun Uhr, der erste Termin des Tages
       beginnt in der Rettungswache in Malchin hoch im Norden des Kreises. Im
       Erdgeschoss sitzen knapp ein Dutzend Menschen an u-förmig aufgestellten
       Pulten, Ärzte, Sanitäter, Krankenhausgeschäftsführer.
       
       Thomas Hanff, der ärztliche Leiter des Kreisrettungsdienstes, hat
       eingeladen. Er will Vorschläge machen, wie sich die Rettung von Frühchen
       besser organisiert lässt. Die Größe des Kreises, die langen Fahrtwege,
       können für Babys tödlich sein, wenn sie zu Hause zur Welt kommen. Hanff hat
       seine Gäste bewusst nach Malchin geholt, „damit man die Zeit mal spürt“.
       
       Kärger sitzt still auf seinem Stuhl, die Wange in die Hand gestützt, und
       macht sich Notizen. Hanff erzählt von Babynotarztwagen, in denen Säuglinge
       optimal versorgt werden können. Es gibt eine Stiftung, die solche
       speziellen Fahrzeuge finanziert. Der Kreis könnte sich um einen davon
       bewerben. „Was würde uns das kosten?“, fragt Kärger. „Null“, sagt Hanff.
       „Dann kann ich diese Geschichte nur begrüßen“, sagt Kärger.
       
       Bis zum nächsten Termin ist es nur noch knapp eine Stunde hin. Kärger ist
       ein ruhiger Mann, der in kurzen, sachlichen Sätzen spricht. Der Druck ist
       ihm nicht anzumerken. Er wirkt etwas distanziert, nicht abwesend, aber so,
       als gebe es eine Handbreit Sicherheitsabstand, zwischen ihm und der Welt.
       Die Art, wie er die Arme verschränkt oder Finger vor sich faltet, verstärkt
       den Eindruck.
       
       Es gibt derzeit gleich mehrere dringende Fragen, auf die er eine Antwort
       finden muss. Wie lässt sich die gewaltige Lücke im Haushalt schließen? 111
       Stellen in der Verwaltung hat Kärger bereits abgebaut. Das reicht noch
       nicht. Offen ist auch, wie der Schwund der Bevölkerung gebremst werden
       kann. Heiko Kärger blickt aus dem Fenster, draußen flattern Krähen über
       Rapsfeldern. Der zweifache Vater und vierfache Großvater lebt in Glocksin
       nahe Neubrandenburg. Es gefällt ihm in dieser Gegend. „Man ist doch in zwei
       Stunden in Berlin“, meint er, „das sage ich den jungen Leuten auch immer.“
       
       Nach einer Weile biegt der Wagen auf den Hof der Pommerland Fleisch- und
       Wurstwaren GmbH in Stavenhagen. Geschäftsführer Hans-Joachim Bennke wartet
       bereits. Er bittet Kärger in den hohen Backsteinbau. „Wir sind sehr froh,
       dass Sie uns besuchen“, sagt er. Der Landrat schaut sich regionale Betriebe
       an, so oft es geht. „Wenn die Wirtschaft nicht funktioniert“, sagt er,
       „funktioniert nichts.“
       
       Bennke ist stolz auf seinen Betrieb; er hat ihn durch eine Insolvenz
       geführt und saniert. Nun wachsen die Umsätze. Nur Auszubildende sind immer
       schwerer zu finden. Kärger hört zu und nickt gelegentlich. Bennke erzählt,
       dass seine Wurst seit diesem Jahr keine Glutamate oder künstlichen Aromen
       mehr enthält. „Der ganze Scheißdreck ist raus.“ Hauben und Kittel liegen
       für den Besuch bereit.
       
       ## Große Empfindlichkeiten
       
       Bennke führt durch weiß geflieste Hallen, vorbei an Fließbändern, an denen
       Frauen dünne Schläuche mit Fleischbrät füllen. „Wir arbeiten überwiegend
       mit Naturdärmen“, sagt Bennke. „Und wo kauft man die?“, fragt Kärger. „In
       Georgsmarienhütte.“
       
       Auf dem Rückweg lehnt sich Kärger in seinem Sitz zurück; der Chauffeur
       stampft aufs Gas. Noch immer ist der Umzug der Behörden nicht beendet,
       stehen jeden Tag Transporter vor den Büros der Verwaltungsstandorte.
       
       Der logistische Aspekt des Umzugs ist eine Sache, der menschliche noch eine
       ganz andere. Manche Mitarbeiter haben jetzt einen stundenlangen Weg zur
       Arbeit, andere müssen sich in neue Sachgebiete einarbeiten. Unmut gibt es
       vor allem bei denen, die abgestiegen sind. Etwa den Landräten der früheren
       Kreise, die nun Kärgers Stellvertreter sind. „Das ist vermintes Gebiet“,
       heißt es aus dem Landratsamt. „Tja“, sagt Kärger, „was soll ich dazu
       sagen.“ Er gilt als Chef, der durchaus autoritär auftreten kann, aber bei
       Konflikten eher vermittelt. Er kann es nicht allen recht machen. „Es gibt
       irre Befindlichkeiten“, sagt ein politischer Kenner der Region, „eigentlich
       wundert es mich, dass der Mann noch schlafen kann.“
       
       Die Sonne steht bereits tief, als Kärger in Neubrandenburg eintrifft. Das
       Landratsamt ist in einem Neubaukomplex untergebracht, der aussieht wie aus
       groben Stücken vernietet. Kärger lässt sich an seinem Schreibtisch nieder,
       vor ihm ein Turm aus Postmappen. Er greift einen Stift und murmelt: „Wenn
       die Zeit knapp ist, unterschreiben Sie teilweise blind.“ Dann fängt er an,
       den Stapel abzuarbeiten.
       
       30 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriela M. Keller
       
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