# taz.de -- Ungerechte Schulempfehlungen: Irren ist pädagogisch
       
       > Ärztekinder bekommen dreimal so häufig Empfehlungen für Gymnasien wie
       > Arbeiterkinder. Doch die Entscheidung Eltern zu überlassen, macht es noch
       > ungerechter.
       
 (IMG) Bild: Wer kann schon in der vierten Klasse erkennen, wer einmal das Abitur schafft?
       
       BERLIN taz | Wenn der Grundschullehrer damals recht behalten hätte, dann
       würde Isabella Kochs Sohn heute vielleicht gar nicht studieren: Den der
       empfahl ihn nur für die Realschule. Dabei hatte der Junge sich damals
       bereits das Gymnasium ausgeguckt, auf das er nach der vierten Klasse gehen
       wollte – eines mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt, so wie Freunde aus
       der Klasse.
       
       „Aber nach einem Lehrerwechsel brachen seine Leistungen ein“, erinnert sich
       die Mutter aus Bayreuth – die Chancen auf das begehrte Gymnasium sanken.
       Die letzte Rettung für ihren Sohn war damals eine Gesamtschule in der Nähe,
       die ebenfalls zum Abitur führt. „Wenn wir diese Hintertür nicht gehabt
       hätten, hätte ich sicher gegen die Empfehlung angekämpft“, sagt Isabella
       Koch.
       
       Die [1][Grundschulstudie Iglu] wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf eine
       der heikelsten Fragen, vor der Eltern und Kinder bei der Schullaufbahn
       stehen: Wer soll entscheiden, welchen Weg ein Kind nach der Grundschule
       geht? Wer entscheidet über Wohl und Wehe, über Gymnasium, Realschule oder
       Hauptschule – und nach welchen Kriterien? In manchen Bundesländern wie
       Bayer sind die Vorgaben streng: Die Lehrer der Grundschule geben eine
       Empfehlung ab – und die ist bindend.
       
       Eine unglaubliche Bürde, findet Gabriele Klenk, Vorstandsmitglied des
       Grundschulverbandes und Rektorin im Allgäu: „Wir sind gezwungen, diese
       Empfehlungen auszusprechen. Aber wie sollen wir in der vierten Klasse
       erkennen, ob jemand bis zum Abitur kommt?“ Ein Fehler, findet die Mutter
       Isabella Koch: „Die Eltern sollen selbst entscheiden dürfen, auf welche
       Schulform sie ihr Kind nach der Grundschule schicken.“
       
       ## Die Herkunft ist bestimmend
       
       Sollten sie? Tatsächlich wirft Iglu auf den ersten Blick kein gutes Licht
       auf das Urteil der Grundschullehrer. Ein Chefarztkind hat eine mehr als
       dreimal größere Chance für das Gymnasium empfohlen zu werden als ein
       Facharbeiterkind – bei gleichen Kompetenzen.
       
       Und mehr noch: Die Leistungshürde, die Kinder aus sogenannten
       bildungsfernen Schichten überspringen müssen, ist in den vergangenen Jahren
       sogar gestiegen. Sie müssen ihre Klassenkameraden aus dem Bildungsbürgertum
       noch stärker in ihrem Können überbieten als früher, damit ihre Lehrer ihnen
       eine anspruchsvolle weiterführende Schule zutrauen. Im internationalen
       Leistungsvergleich schneidet die deutsche Grundschule gut ab – die
       klaffende Wunde ist ihre Ungerechtigkeit.
       
       Die Lehrerurteile begünstigen auf den ersten Blick nicht nur die Kinder des
       Bildungsbürgertums - sie sind oft auch himmelschreiend falsch. Eine
       Untersuchung des Essener Bildungsforschers Rainer Block zeigt: Von den
       Gymnasiasten, die auf eine Realschule absteigen, hatte eine überwältigende
       Mehrheit von 73 Prozent einst eine Gymnasialempfehlung erhalten.
       
       Fast 84 Prozent derer, die später auf die Hauptschule herabwechseln, hatten
       die Grundschullehrer eine höhere Schule empfohlen. Zahlen, die Münsteraner
       Grundschulrektorin Rixa Borns nicht verwundern. „Ich habe Kinder mit einem
       tollen Zeugnis aufs Gymnasium geschickt, die dann plötzlich Probleme
       bekamen“, sagt sie. „Und Kinder mit Dreien und Vieren haben hinterher ein
       Spitzenabitur gemacht.“ Irren ist pädagogisch.
       
       ## Eltern können es nicht besser
       
       Es wirkt also nur konsequent, dass viele Länder die Verbindlichkeit der
       Grundschulempfehlungen in den vergangenen Jahren wieder gelockert haben.
       Zuletzt Baden-Württemberg, wo seit diesem Jahr wieder die Eltern die freie
       Wahl über die weiterführende Schule haben. Die Stimmung an den Schulen
       hätte sich dadurch „deutlich entspannt“, sagt ein Sprecher des
       Kultusministeriums der taz.
       
       Aber zu welchem Preis? Der Soziologe Jörg Dollmann hat untersucht, welche
       Auswirkungen die Einführung verbindlicher Schulempfehlungen in
       Nordrhein-Westfalen hatte. Sein Ergebnis: Das Lehrerurteil mag ungerecht
       sein – lässt man den Eltern aber die Wahl, wird das Schulsystem noch
       ungerechter. Ein Befund, den auch andere Studien bestätigen.
       
       Denn vor allem die Eltern, die selbst aufs Gymnasium gingen, schicke ihre
       Kinder wieder dort hin – auch wenn die Noten eigentlich eher die Realschule
       nahe legen würden. Kinder aus eher bildungsfernen Familien scheuen dagegen
       trotz guter Leistung den Gang aufs Gymnasium – solange es den sanften Zwang
       der Lehrermeinung nicht gibt.
       
       Schulrektorin Rixa Borns kennt auch diese umgekehrte Seite der
       Empfehlungen: Sie erinnert sich noch gut, wie sie den Eltern einer
       Schülerin in langen Gesprächen zureden musste, damit sie ihr Kind aufs
       Gymnasium schicken: Was, wenn unser Kind Probleme in der Schule bekommt und
       wir nicht helfen können? Was, wenn sie die Statuskämpfe in der Klasse
       verliert, weil wir nicht das Geld haben, um ihr teure Markenklamotten zu
       kaufen? „Solche Ängste gibt es“, sagt Borns, „öfter, als man denkt.“
       
       Vor Kurzem hat sie die Schülerin wiedergesehen, bei einem Klassentreffen.
       Sie hatte sich bei ihrer Grundschullehrerin bedankt für die Ermutigung.
       Vielleicht wäre es gerechter, wenn man die Lehrer entscheiden lässt.
       Vielleicht auch nicht. „Am gerechtesten wäre es“, meint Lehrerin Borns,
       „wenn wir nicht so früh darüber entscheiden müssten.“
       
       11 Dec 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Deutsche-Schueler-im-globalen-Vergleich/!107220/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Kramer
 (DIR) Bernd Kramer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schule
 (DIR) Gymnasium
 (DIR) Gymnasium
 (DIR) Waldorfschule
 (DIR) Grundschule
 (DIR) Bachelor
 (DIR) Bildung
 (DIR) Vergleich
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Freie Schullaufbahn: Folgenreiche Kreuzchen
       
       In Niedersachsen soll nicht mehr die „Empfehlung“ nach der 4. Klasse über
       den Weg aufs Gymnasium entscheiden, sondern ein Beratungsgespräch mit den
       Eltern.
       
 (DIR) Erste staatliche Waldorfschule: Lernen mit den Schmuddelkindern
       
       In Hamburg will sich die erste staatliche Waldorfschule gründen. Der
       Gegenwind ist stark. Dabei taugt die Schule als Zukunftsmodell für das
       Bildungswesen.
       
 (DIR) Bildungsforscher über Migranten: „Die Eltern sind überalarmiert“
       
       Viele Eltern meiden Schulen mit vielen Kindern aus Zuwandererfamilien – zu
       Unrecht, so Bildungsforscher Wilfried Bos. Heterogenität sei sogar von
       Vorteil.
       
 (DIR) Debatte Bologna-Reform: Die Bachelorlüge
       
       Noch immer ist der Bachelor verhasst. Dabei bietet die Bologna-Reform die
       große Chance, die Hochschulen gerechter zu machen.
       
 (DIR) Kommentar Leistungen Grundschüler: Leistung lohnt sich nicht
       
       Wir sind nicht zu sehr Mittelmaß, sondern noch zu wenig Mindestmaß: Nicht
       die Spitzengruppe der Schüler verdient Aufmerksamkeit, sondern die
       Risikoschüler.
       
 (DIR) Deutsche Schüler im globalen Vergleich: Solide, nicht spitze
       
       Zwei Studien zeigen, dass deutsche Kinder im Lesen und Rechnen über dem
       internationalen Schnitt liegen. Aber nur wenige sind in der obersten
       Kompetenzstufe.
       
 (DIR) Vergleich der Bundesländer: Grundschüler im Süden sind vorn
       
       Nach einem Grundschul-Bundesländervergleich steht fest: Im Süden lernen die
       Kinder meist besser. Alle Stadtstaaten haben Probleme. Es gibt ein breites
       Mittelfeld.
       
 (DIR) Zweigliedriges Schulsystem: Die neue Elite
       
       Lange galten Gesamtschulen als Relikte der 70er Jahre. Doch im neuen
       zweigliedrigen System erleben sie einen Boom. Doch für alle sind sie längst
       nicht mehr.