# taz.de -- Debatte Studium: Training für Großbürokratien
       
       > Die neuen Studiengänge benachteiligen Kinder aus der Unterschicht genauso
       > wie die Alten. Der heimliche Lehrplan ist Schuld daran.
       
 (IMG) Bild: Der Juristensohn scheint es leichter zu haben als die Bäckerstochter
       
       An den Universitäten und Fachhochschulen lässt kaum noch jemand ein gutes
       Haar an der Bologna-Reform. Unterstützung kommt, wenn überhaupt, von
       außerhalb der Hochschulen: von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, von
       unternehmensnahen Stiftungen und einzelnen Journalisten. Von Letzteren wird
       jetzt ein neues Argument in die Bologna-Diskussion eingebracht: Bei der
       Reform möge vieles im Argen liegen, aber sie berge das „Potenzial, die
       Hochschulen gerechter zu machen“ (so Bernd Kramer, „[1][Die Bachelorlüge]“,
       taz vom 13.12.).
       
       Die alten Magister- und Diplomstudiengänge seien einfach nichts für den
       „Sohn der Verkäuferin und die Tochter des Bäckers“ gewesen. Die aus
       bildungsfernen Schichten stammenden Studierenden wären in den
       „dahinwabernden Selbstlernprogrammen“ der alten Unis untergegangen.
       
       Durch ein klar strukturiertes Bachelor- und Masterstudium würden die
       Universitäten jetzt endlich Kinder aus den Schichten der Gesellschaft
       anlocken, die bisher vor einem Studium zurückgeschreckt seien. Je stärker
       die Verschulung des Studiums, so Kramers Tenor, desto eher kommen Kinder
       aus den Unterschichten in die Hochschulen.
       
       ## Scheitern an Selbstorganisation
       
       Die Verfechter der Bologna-Reform haben dabei in einem Punkt sicherlich
       recht. In vielen Diplom- und Magisterstudiengängen wurden Qualifikationen
       verlangt, die in den Hochschulen selbst nicht systematisch vermittelt
       wurden. Studierende lernten nicht nur Germanistik, Physik oder Soziologie,
       sondern mussten sich vom ersten Semester an auch ihr Studienprogramm selbst
       zusammenstellen, sich in einer häufig anonym wirkenden Massenuniversität
       Lernkontakte aufbauen und sich selbst motivieren, schriftliche Arbeiten
       anzufertigen. Und zwar auch dann, wenn kein Lehrender Prüfungsdruck
       aufbaute.
       
       Mit dem US-amerikanischen Erziehungswissenschaftler Philip W. Jackson lässt
       sich die Aneignung dieser Fertigkeiten als der „heimliche Lehrplan“ in den
       alten Studienstrukturen beschreiben. Viele Studierende, sowohl aus
       bildungsfernen als aus bildungsnahen Schichten, sind an seinen
       Anforderungen gescheitert. Diejenigen Studierenden jedoch, die unter diesen
       Bedingungen ihr Studium erfolgreich abgeschlossen haben, konnten am Ende
       nicht nur Germanistik, Physik oder Soziologie, sondern verfügten nicht
       selten auch über Selbstorganisations- und Selbstmotivationsfähigkeiten, von
       denen sie später im Berufsleben profitierten.
       
       Im Zuge der Bologna-Reform wurde mit der Reduzierung der Wahlfreiheiten,
       der Verschärfung der Anwesenheitspflicht und der Inflation von Prüfungen
       dieser heimliche Lehrplan abgeschafft. In den meisten Bachelorstudiengängen
       beschweren sich Studierende nicht mehr über ein Zuviel an Wahlfreiheit,
       sondern beklagen sich eher darüber, dass sie wie Lerndrohnen auf Knopfdruck
       kurzfristig angeeignetes Prüfungswissen wiedergeben müssen.
       
       ## Kafka an der Uni
       
       Die Verschulung à la Bologna hat gleichzeitig zu einer Verschlechterung der
       Betreuung geführt, weil in den meisten Studiengängen dieselbe Anzahl von
       Lehrenden mehr Veranstaltungen anbietet und mehr Prüfungen abnehmen muss.
       Es gibt Studiengänge, in denen Lehrende zwar zu Beginn jeder Sitzung die
       körperliche Präsenz der Studierenden mit Anwesenheitslisten überprüfen, den
       Großteil ihrer Studierenden aber nicht mit Namen ansprechen können, wenn
       sie ihnen in der Mensa begegnen.
       
       Trotz einer Erhöhung der sogenannten Kontaktzeiten mit Lehrenden haben
       Studierende am Ende eines drei- oder vierjährigen Studiums häufig mit
       keinem einzigen Dozenten und keiner einzigen Dozentin ein Gespräch über
       ihre individuellen Stärken und Schwächen geführt, geschweige denn mit ihnen
       ein zum Studiengang passendes individuelles Lernkonzept erarbeitet.
       
       Und trotz Erhöhung des Prüfungsaufwands für Studierende gibt es in vielen
       Universitäten immer weniger individuelle Rückmeldungen zu den von den
       Studierenden geschriebenen Essays, Hausarbeiten und Klausuren, weil die
       Lehrenden mit der Korrektur der in Massenveranstaltungen abgelegten
       Prüfungen kaum noch hinterherkommen.
       
       Angesichts dieser Studienbedingungen bildet sich in der deutschen Variante
       der Bologna-Reform ein neuer heimlicher Lehrplan aus. Studierende und
       Lehrende werden jetzt mit einer kafkaesk wirkenden Bildungsbürokratie
       konfrontiert. Von Bachelor-Studierenden wird verlangt, so jedenfalls die
       Planungsfantasie, dass sie genau 5.400 Stunden für ihren Abschluss
       studieren müssen.
       
       Diese Stunden werden durch eine permanent wachsende Zahl von
       Studienadministratoren in Module mit vermeintlich klar definierten
       Lernzielen aufgeteilt, und jedes Modul inklusive Selbststudiumsanteil wird
       stundengenau vorausgeplant. Die bürokratisch korrekte Absolvierung wird
       dann durch IT-gestützte Campus-Management-Systeme überprüft.
       
       ## Vorteil für den Juristensohn
       
       Studierende lernen im neuen heimlichen Lehrplan, wie sie in
       hochbürokratisierten Organisationen unter Überlastungsbedingungen zu
       arbeiten haben. Wo bekommt man nach Vergleich der verschiedenen
       fächerspezifischen Bestimmungen eines Studiengangs möglichst günstig
       Leistungspunkte her? Wie stark muss man sich an die häufig über Hunderte
       von Seiten langen Modulhandbücher eines Studiengangs halten? Wo lohnt es
       sich, mit der Androhung einer Klage vor Gericht bei Dozenten eine zweite
       oder dritte Prüfungsmöglichkeit einzufordern?
       
       Die Amerikaner nennen die Fähigkeiten, die sich in der Auseinandersetzung
       mit solchen Fragen entwickeln, „How to work the system“: Wie kann man bei
       möglichst geringem Aufwand möglichst viel aus einem System herausholen? Das
       mögen Fähigkeiten sein, die bei späteren Tätigkeiten in Großbürokratien wie
       der Deutschen Bank, der Deutschen Bahn oder der Bundesagentur für Arbeit
       besonders gefragt sind.
       
       Die Aneignung dieser Fähigkeiten dürfte aber wohl gerade Studierenden aus
       jenen Bildungsschichten leicht fallen, die weniger Angst vor dem Kontakt
       mit bürokratischen Großorganisationen haben. Und das ist sicherlich eher
       der Juristensohn als die Bäckerstochter.
       
       20 Dec 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Debatte-Bologna-Reform/!107358/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Kühl
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Lehrkräfte
 (DIR) Bachelor
 (DIR) Bachelor
 (DIR) Promotion
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte Bologna-Reform: Die Bachelorlüge
       
       Noch immer ist der Bachelor verhasst. Dabei bietet die Bologna-Reform die
       große Chance, die Hochschulen gerechter zu machen.
       
 (DIR) Noteninflation bei Doktortiteln: Summa cum Leichtigkeit
       
       Welche Note eine Dissertation bekommt, hängt oft von der Uni ab. An manchen
       bekommen 70 Prozent die Bestnote „summa cum laude“, an anderen sind es 2
       Prozent.
       
 (DIR) Studieren hinter Gittern: Der Knast hat immer recht
       
       Daniel W. ist Gefangener der JVA Bremen und Student. Er steht kurz vor
       seinem Abschluss, aber aus dem wird vorerst nichts.
       
 (DIR) Soziologe über Bologna-Reform: „Eine irrsinnige Planungsfantasie“
       
       Durch die Bologna-Reform ist das Studium komplizierter geworden, sagt der
       Organisationssoziologe Stefan Kühl. Vor allem die Kreditpunkte seien
       schuld.
       
 (DIR) Zehn Jahre Bologna-Reform: Rektoren finden Bachelor blöd
       
       Eine „Erfolgsgeschichte“ nannte Bildungsministerin Schavan das
       Bologna-Abkommen. Nun widersprechen die Hochschulrektoren: Studenten seien
       nicht mobiler geworden.