# taz.de -- Die Wahrheit: Inbrünstige Leidenschaft
       
       > Alles über die zu einem Kreischen gesteigerte Stimme.
       
 (IMG) Bild: Was eben noch als leises Raunen begann, kann sich schon bald in schrilles Kreischen verwandeln.
       
       Aus leidvoller Erfahrung wissen wir, dass Romanfiguren ihre Stimme zu einem
       heiseren Flüstern senken können. Viele von ihnen sind aber auch imstande,
       ihre Stimme zu etwas Schrecklichem zu heben, so wie Tante Ivy in Jonathan
       Coes Roman „Der Regen, bevor er fällt“ aus dem Jahre 2009: „Dann fing Tante
       Ivy an zu schreien, ihre Stimme steigerte sich zu einem Kreischen und
       erreichte eine Tonhöhe, die ich noch nie vernommen hatte und zu der ich sie
       niemals für fähig gehalten hätte.“
       
       Die Beispiele lassen sich kaninchenartig vermehren. Es ist kaum zu singen
       und zu sagen, wozu sich manche Romanfigurenstimmen schon gehoben oder
       gesteigert haben – „zu ihrer vollen Kraft“ (Karl Emil Franzos: „Ein Kampf
       ums Recht“, 1882), „zu inbrünstiger Leidenschaft“ (Adolf Hausrath: „Jetta“,
       1884), „zu einem klagenden, wiehernden Geheul“ (Jakob Christoph Heer: „An
       heiligen Wassern“, 1898), „zu wilder Kraft“ (Ludwig Ganghofer: „Die Trutze
       von Trutzberg“, 1915), „zu feierlichem Nachdruck“ (Gertrud Bäumer: „Der
       Jüngling im Sternenmantel“, 1947),
       
       „zu nie gekannter Schrillheit“ (Günter Kunert: „Tagträume in Berlin und
       andernorts“, 1978), „zu einem Piepsen“ (Frank Ewald: „Spreu und Weizen“,
       2000), „zu einem Ansatz von Wut“ (Robin Fox: „Flüsternde Nacht“, 2008), „zu
       hysterischem Geschrei“ (James Twining: „Die schwarze Sonne“, 2008); „zu
       einem wahren Crescendo“ (Oliver Keune: „Ein sanfter Strahl von Licht“,
       2009), „zu einem Donnern“ (Marisa Brand: „Das Geheimnis der
       Tarotspielerin“, 2009), „zu einem schrillen Falsett“ (Sherrilyn Kenyon:
       „Geliebte der Finsternis“, 2009), „zu einem panischen Kreischen“ (Ulrike
       Schweikert: „Die Erben der Nacht“, 2009),
       
       „zu absolut verzweifeltem Geschluchze“ (Meg Cabot: „Susannah – Auch Geister
       lieben süße Rache“, 2010), „zu einem Fanalstoß“ (Junet Barkmond: „Unter der
       südlichen Sykomore“, 2001), „zu einem hysterischen Geheul“ (Celeste
       Bradley: „Mein teuflischer Verführer“, 2012), „zu ungläubigem Erstaunen“
       (Dennis L. McKiernan: „Zwergenkrieger“, 2012) oder auch „zu einem heiseren
       Aufschrei“ (derselbe: „Zwergenzorn“, 2012).
       
       Wünschenswert wäre es, in einem Roman einmal über den folgenden Satz zu
       stolpern:
       
       „Die noch vor wenigen Sekunden zu einem heiseren, lechzenden und lasziven
       Ächzen gesenkte Stimme des Killers hob und steigerte und schraubte sich,
       als ihm die Klinge des Messerstahls zwischen die Rippen fuhr, zu einem
       hysterischen, schrillen, bellenden, panischen, kreischenden und gleichsam
       hufetrappelnden und schnarrenden Jaulen und Schnaufen und Winseln von nie
       gekannter Piepsigkeit und höllenrachenschwarzer Verzweiflung empor, in
       deren fanalstoßartiges Hecheln und Schluchzen sich am Rande auch ein leiser
       Ton der Selbstzufriedenheit, wenn nicht gar der einer orgasmischen
       Erlösungsseligkeit hineinzumischen schien, aus welcher sich für das feiner
       geschulte Ohr freilich auch die hässlichen Untertöne eines allzu lange mit
       der arabischen Synchronisation der Mainzelmännchen beschäftigt gewesenen
       Organs heraushören ließen, und als diese Stimme nach einem letzten heiseren
       Aufseufzen in einen diabolischen Rülpser übergegangen und schlussendlich
       für immer verstummt war, steigerte sich das Freudengeschrei der nunmehr
       erlösten Geiseln zu einem Jubelkonzert von solch inbrünstiger Leidenschaft,
       dass ein kompletter, auf dem Flug nach Afrika befindlicher Kranichschwarm
       tot zu Boden fiel und die Erdbebenwarte Bockenheim sich infolge der
       Bodenerschütterungen genötigt sah, einen Großalarm auszulösen.“
       
       Ab hier kann dann Frank Schätzing weiterschreiben.
       
       Nachzutragen wäre noch, dass sich 1978 in Johannes Mario Simmels Roman
       „Hurra, wir leben noch“ eine Stimme zu etwas erhoben hat, das man einer
       erhobenen Stimme gemeinhin kaum zutrauen möchte, nämlich „zu flüsternder
       Ekstase“. Hierbei handelte es sich um einen Abstecher des Romanciers Simmel
       in die expressionistische Prosa, denn im Normalfall können Ekstasen nicht
       flüstern. Das weiß man doch auch aus „Brehms Tierleben“.
       
       Das Schlusswort gebührt Günter de Bruyn. In seinem 1963 veröffentlichten
       Debütroman „Der Hohlweg“ wählte er einen dornigen Mittelweg zwischen Laut
       und Luise. Davon ist heute zum Glück nur noch ein schwaches Echo zu
       vernehmen: „Sein Gesicht begann schon fleckig zu werden, seine Bewegungen
       hastig, seine Stimme steigerte sich zu heiserem Krächzen.“
       
       5 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gerhard Henschel
       
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