# taz.de -- INTEGRATIONs-Fragen: „Zoologisierung der Anderen“
       
       > Nach Jahrzehnten der Ignoranz entdecken Theater MigrantInnen als
       > Zielgruppe – auch weil das weiße bildungsbürgerliche Publikum immer mehr
       > ausdünnt.
       
 (IMG) Bild: Der Schauspieler Murat Yeginer in seiner Rolle als Ahmet Erhardt in "Ich, Heinz Ehrhardt" am Staatstheater Oldenburg.
       
       taz: Herr Mecheril, Theater versuchen, MigrantInnen auf die Bühne zu holen
       und als Zuschauer zu gewinnen. Sie veranstalten gemeinsam mit dem
       Staatstheater Oldenburg die Reihe „Migration. Geschichten bewegen Grenzen“,
       sind aber Kritiker des Integrationsansatzes. Was machen Sie anders? 
       
       Paul Mecheril: Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie über Migration
       gesprochen wird. Es geht nicht so sehr darum, sogenannte Menschen mit
       Migrationshintergrund auf die Bühne zu bringen. Das scheint mir etwas zu
       sein, was seit einer gewissen Zeit in der deutschen Kulturlandschaft zu
       beobachten ist. Nach Jahrzehnten der Ignoranz ist jetzt ein Schalter
       gekippt und es macht sich da fast eine gewisse Unruhe breit.
       
       Was für eine Unruhe? 
       
       Das Theater hat zum Beispiel begriffen, dass in einigen Jahrzehnten das
       weiße bildungsbürgerliche Publikum sehr ausgedünnt sein wird. Nun bemüht
       man sich, die sogenannten Menschen mit Migrationshintergrund in die Theater
       und auf die Bühne zu bringen. Uns geht es aber eher um Perspektiven auf die
       migrationsgesellschaftliche Realität. Das Sprechen über Migration ist in
       Deutschland nach wie vor etwas ungelenk. Dabei muss man sich immer wieder
       vergegenwärtigen, dass in Deutschland erst seit relativ kurzer Zeit offen
       und offiziell über das Thema Migration gesprochen wird.
       
       Seit wann? 
       
       Seit der Veränderung des Staatsbürgerrechtes 2001 und der Verabschiedung
       des Einwanderungsgesetzes, das leider ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz
       ist. Deutschland hat begonnen, sich als Einwanderungsland zu verstehen und
       sich mit migrationsgesellschaftlichen Fragen zu beschäftigen – obwohl
       Migrationsprozesse immer prägend gewesen sind.
       
       Auch die langjährige und noch immer in bestimmten Feldern geltende Ignoranz
       gegenüber der migrationsgesellschaftlichen Realität im Theaterbereich hängt
       mit den politischen Verhältnissen zusammen, da diese ja beispielsweise auf
       Förder- und Kulturpolitik einwirken. Die Theater, insbesondere einige freie
       Theater, haben gerade erst begonnen, die migrationsgesellschaftliche
       Realität zu berücksichtigen – zuvor galt weitgehende Ignoranz.
       
       Wie greifen die Theater denn heute Migration auf? 
       
       Man kann da zuweilen eine Art Zoologisierung der Anderen beobachten: Man
       hat jetzt die Migranten entdeckt und will wissen, wie diese unbekannte
       Spezies so fühlt, welche Wünsche sie umtreibt, welche Sehnsüchte sie hat.
       So wichtig es ist, dass die Migrationsrealität Gegenstand gegenwärtiger
       Kunst ist, so sehr hat sie sich mit der Gefahr der zuweilen voyeuristischen
       Dingbarmachung der Anderen auseinanderzusetzen.
       
       Was kritisieren Sie an der Integrationsidee? 
       
       Integration ist meines Erachtens kein angemessenes politisches Ziel und
       noch viel weniger Bildungsziel, da sich Integration ausschließlich an die
       sogenannten Menschen mit Migrationshintergrund wendet. Das ist nicht
       überzeugend, weil die über 15 Millionen Menschen mit sogenanntem
       Migrationshintergrund sehr unterschiedlich sind – es gibt Alte und Junge,
       Arme und Reiche, Menschen, die erst seit vier Wochen in Deutschland sind
       und einen deutschen Pass besitzen und welche, die seit 17 Jahren hier sind
       und keinen Pass haben.
       
       Integration ist eine Praxis, die einen Beitrag dazu leistet, dass sich eine
       bestimmte Gruppe als normal inszeniert. Dazu benötigen wir immer die
       Konstruktion der Unnormalen. Der Integrationsbegriff trägt dazu bei, eine
       phantasierte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund beständig einem
       imaginären und faktischen Integrationstest auszusetzen. Wir – also die
       Menschen ohne Migrationshintergrund – sind fraglos integriert, zivilisiert,
       geschlechtergerecht usw. Wir benötigen die Anderen, um deutlich zu machen,
       dass wir die Bevorzugten und Gerechten sind.
       
       Aber Sie benutzen den Begriff doch selbst. 
       
       Eigentlich nur, um auf eine diskursive Struktur aufmerksam zu machen. Ich
       würde vorschlagen, „Mensch mit Migrationshintergrund“ nur ironisch zu
       verwenden. Eine ironische Kritik.
       
       Ist die Forderung, dass Menschen sich gefälligst anpassen sollen, in
       Deutschland besonders ausgeprägt? 
       
       Migrationsgesellschaftliche Pluralität ist sicher für alle Nationalstaaten
       eine Herausforderung. Der nationale Staat benötigt so etwas wie eine
       Identität. Das heißt, ein Wissen über die, die nicht dazu gehören, sonst
       gerät die Logik, die den politischen Kontext konstituiert, in eine Krise.
       Deshalb werden Eindeutigkeiten immer wieder herzustellen versucht.
       
       Inwiefern? 
       
       In Deutschland ist die kulturelle Realität oft noch immer von dem
       Verständnis geprägt, dass Deutscher und Deutsche diejenigen sind, die von
       Deutschen abstammen. Dieses Selbstverständnis ist zwar offiziell seit der
       Umstellung des Staatsbürgerrechts nicht mehr gegeben, wirkt aber kulturell
       beharrlich nach.
       
       Wie kommt es zu der Unterrepräsentation von Migranten in
       Kulturinstitutionen? 
       
       Zunächst müssen wir sehen, dass diejenigen, die als Menschen mit
       Migrationshintergrund in Deutschland bezeichnet werden, durch die formellen
       Bildungssysteme benachteiligt werden und zwar seit Jahrzehnten. Das, was
       man hochkulturelles Kapital nennen könnte, hat sich bei bestimmten
       Bevölkerungsgruppen systematisch nicht bilden können. Solange die
       öffentlich getragenen Theater und der staatliche Kunst- und Kulturbetrieb
       an einem klassischen Kulturangebot festhalten, wird immer eine
       bildungsbürgerliche Schicht angesprochen und reproduziert.
       
       Sie meinen, es gibt Interessen, die Institutionen lieber nicht zu sehr zu
       öffnen? 
       
       Die gibt es auch. Die gesellschaftlichen Institutionen und sicher auch der
       Kulturbetrieb – insbesondere der Theaterbetrieb – haben sich über
       Jahrzehnte hinweg migrationsgesellschaftlich nicht geöffnet. Es gibt
       Theater, dies sind vielleicht nicht erster Linie die freien Theater, die
       sich schwer tun mit Mehrsprachigkeit, die aus ihrem Spielplan die
       migrationsgesellschaftliche Realität getilgt haben.
       
       Sei es, weil die Stücke Themen wie etwa Diskriminierungs- und
       Zuschreibungsrealitäten oder die Situationen der Flüchtlinge nicht
       aufgreifen oder weil weder die Intendantin noch der Kapellmeister, weder
       die gespielten Autoren noch die Schauspielerinnen einen
       Migrationshintergrund haben – wohl aber das Reinigungspersonal.
       
       Es gibt immer wieder kunstpädagogische Projekte, die die Aufgabe haben, in
       „Problemstadtteile“ zu gehen. Ist das nicht auch problematisch? 
       
       Wenn solche künstlerischen Projekte nur eine kosmetische Praxis darstellen,
       man also mit Kunst in benachteiligte Stadtviertel geht, um da ein bisschen
       ästhetisches Rambazamba zu machen, damit die Stadtzeitung einmal positiv
       über den Stadtteil berichten kann, halte ich das für nicht sehr
       überzeugend. Dies ist eine Form der Beschönigung sozialer Probleme. Es ist
       auch nicht wünschenswert, dass künstlerische Projekte mit verstecktem
       pädagogischen Zeigefinger auf die migrationsgesellschaftliche Welt zugehen.
       
       Wenn es also in der ästhetischen Arbeit mit Jugendlichen aus dem
       benachteiligten Viertel eigentlich nur darum geht, ihnen beizubringen,
       weniger machohaft zu sein. Nicht dass ich Machohaftigkeit großartig finde,
       aber die Auseinandersetzung damit sollte anders stattfinden.
       
       Wie denn? 
       
       Kunst kann als Medium Artikulationsräume schaffen. Dies scheint mir gerade
       für deprivilegierte Stadtviertel und für Personen, die die Erfahrung
       machen, systematisch nicht zu Wort zu kommen, interessant und angemessen.
       Artikulationsräume, in denen sich nicht immer das Erwartete zeigt und ein
       anderes Sehen und Hören deutlich und vielleicht auch erprobt wird – hier
       sind künstlerische Projekte eine Option.
       
       1 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lena Kaiser
 (DIR) Lena Kaiser
       
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