# taz.de -- Kunst in Bremerhaven: Humor und Rigorismus
       
       > Jahrzehntelang hat Jürgen Wesseler Kunst von Weltrang nach Bremerhaven
       > geholt: in den Kunstverein, aber vor allem ins dortige Kabinett für
       > Aktuelle Kunst. Was dort seit 1967 so alles zu sehen gewesen ist, würdigt
       > nun schon die zweite Ausstellung.
       
 (IMG) Bild: Lust auf die Welt und ihre Anstrengungen: Jürgen Wesseler, 2005 fotografiert von Gregor Schneider.
       
       BREMEN taz | Am Morgen wartet Jürgen Wesseler wie bestellt und nicht
       abgeholt. In der Bremer Weserburg soll er einer Gruppe junger
       Kunstwissenschaftler erklären, was es mit der konzeptuellen Avantgarde auf
       sich hat. Er geht von Objekt zu Objekt, von Wandbild zu Videoprojektion. Es
       ist seine Sammlung, diese Ausstellung „Kabinettstücke – Vorhut aus dem
       Hinterland Teil 2“. Gezeigt werden von Wesseler kuratierte Arbeiten aus 45
       Jahren. Zuerst zu sehen waren sie allesamt im Bremerhavener Kabinett für
       Aktuelle Kunst, vom Gründungsdirektor der Weserburg, Thomas Deecke, einmal
       mit der legendären Avantgarde-Galerie „Der Sturm“ verglichen. Ein Ort für
       die zeitgenössische Kunst also, seiner Zeit immer wieder um Jahre voraus.
       
       Im Vorbeigehen erzählt Wesseler, der beinahe 25 Jahre dem Kunstverein
       Bremerhaven vorstand und seit 1967 das Kabinett betreibt, von Künstlern,
       die aufs Meer gefahren und nie zurückgekehrt sind. Er bleibt vor einer
       Arbeit stehen, die der Konzeptkünstler Lawrence Weiner Wesselers Sohn
       Moritz zur Geburt geschenkt hat. Weiner empfahl ironisch: „Davon soll er
       sich mit 18 Jahren einen Porsche kaufen.“ Machte Moritz natürlich nicht.
       
       ## Begeisterte Anekdoten
       
       Dann tauchen, doch noch, der Direktor der Weserburg und ein paar eher
       unmotivierte Studierende auf. Wesseler erzählt zur Begrüßung eine Anekdote
       über den Künstler Henk Visch so begeistert, dass er fast dessen Skulptur
       „Das Lächeln“ umstößt. „Eigentlich müsstet ihr zu mir nach Bremerhaven
       kommen und ich nicht zu euch nach Bremen“, sagt er dann. „Als Kurator muss
       man Lust haben auf die Welt. Anstrengung ist nötig!“
       
       Anstrengungen und Welt hat Wesseler, ehemals Vermessungsingenieur beim
       Bremerhavener Stadtplanungsamt, nie gescheut. Mit trockener, norddeutscher
       Ironie hat er schon zu Beginn seiner Kuratorentätigkeit geflachst, dass ihm
       für die Arbeit im Kabinett, wenn er alt und wehrlos sei, „irgendwer das
       Bundesverdienstkreuz überhängen“ werde. 2008 war dieser Irgendwer dann der
       Bremer Regierungschef. Gerhard Richter schickte ein übermaltes Foto mit dem
       Satz: „Ich finde das gut und richtig.“
       
       Das Verdienstkreuz hat Wesseler für eine Arbeit bekommen, die Bremerhaven
       auf die Landkarte des internationalen Ausstellungsbetriebs gesetzt hat.
       Eine Stadt, die immer besser als ihr Ruf war, die es aber nie leicht gehabt
       hat mit ihrem teils desaströsen Bild in den deutschen Medien – trotz
       Kunstmuseum, Dreisparten-Theater und Zukunftstechnologien im boomenden
       Hafen. Vor ein paar Jahren noch stellte der Spiegel Bremerhaven quasi auf
       eine Stufe mit der New Yorker Bronx in den 80er-Jahren: Da stand ein junger
       Redakteur in der Fußgängerzone vor dem leer stehenden Hotel Naber, einst
       das erste Haus am Platze, und meinte, nur Verfall zu sehen.
       
       Nur ein paar Schritte weiter, in einer kleinen Seitenstraße, hätte er
       direkt unter dem Kunstverein das Kabinett für Aktuelle Kunst entdecken
       können. In diesen 33-Quadratmeter-Raum lockt Wesseler seit über 45 Jahren
       Kunst „jenseits des Tellerrandes“. Nicht immer leicht zu vermitteln: Die
       Verrisse füllen heute zwei große Aktenordner.
       
       Und trotzdem machte Wesseler weiter, zusammen mit Freunden, seiner Frau
       Christine und später mit der Unterstützung seines Sohnes Moritz. Auch in
       dem Wissen, dass in Bremerhaven, abseits des großen Ausstellungsbetriebs,
       eben auch größere Freiräume bestehen. Für die Künstler wie für den Kurator.
       
       Schon sein Vater hatte Wesseler 1943 mitgenommen, als er im Kunstverein ein
       Bild kaufte. „Ich war mit seiner Wahl gar nicht einverstanden“, sagte
       Wesseler einmal der Nordsee-Zeitung. Was einerseits von seinem Humor
       kündet, andererseits von unbedingtem Rigorismus, wenn es um Kunst geht.
       
       So kamen zu den heute gefeierten und in der Bremer Weserburg gewürdigten
       Ausstellungen des Kabinetts oftmals nur ein paar Besucher: Die Avantgarde
       fand unterhalb des Aufmerksamkeits-Radars der meisten Bremerhavener Bürger
       statt. Doch sie fand statt. Wesseler gab nie viel auf Publikumskunst, war
       nicht gerade offen für Einwände seiner Kritiker: „Ich habe die Erfahrung
       gemacht, dass das Publikum nicht in dem Maße lernfähig ist, wie das immer
       gerne behauptet wird.“
       
       ## Väter und Söhne
       
       Als Ende November vergangenen Jahres nun der belgische Maler Luc Tuymans
       und Wesseler Schulter an Schulter im Bremerhavener Kunstverein standen, war
       es Wesselers Sohn Moritz, der in die Ausstellung von Tuymans grafischem
       Werk einführt.
       
       Wesseler, der für das Bremerhavener Klima immer ein wenig zu dünn angezogen
       wirkt in seinem weiten, olivgrünen Mantel, den feinen Cordhosen, dem
       schönen Fischgratjackett, blinzelt durch die runde Hornbrille und ist
       sichtlich erfreut: über die Kunst, über Tuymans und über seinen Sohn, den
       Kurator, mit dem er mehrmals am Tag telefoniert und auf den er mächtig
       stolz ist. Zusammen mit Wesselers Frau Christine steht hier eine Familie
       beisammen, der sich die Künstler des Kabinetts verbunden fühlen.
       
       So liefen die Ausstellungen immer über persönlichen Kontakt und über
       Sympathien. Das Kabinett, für die FAZ schon vor vielen Jahren eine
       „Lotsenstation für besondere Sehgewohnheiten“, war nicht nur Wegweiser,
       sondern auch Heimathafen für ein immer im Entstehen befindliches
       (Gesamt-)Werk, welches nun im Nachhinein, zum Beispiel in der Weserburg, in
       seiner Bedeutung beobachtbar wird.
       
       Über die Zeit kamen immer wieder junge Künstler, manchmal sogar auf eigene
       Kosten: Gerhard Richter, Imi Knoebel, Sol LeWitt, Sigmar Polke, Lawrence
       Weiner, Hanne Darboven, Manfred Pernice und viele mehr. Sie kamen, bevor
       sie gefeierte Stars des Kunstbetriebs wurden, bevor sie auf der Documenta
       ausstellten. „Lange bevor es entsprechende Magazine oder gar das Internet
       gab“, sagt Wesseler, sei er losgezogen, um wie ein Spürhund Gleichgesinnte
       nach Bremerhaven zu locken. Als er einmal in Düsseldorf war, ging er in
       eine Telefonzelle, blätterte im Telefonbuch und rief Joseph Beuys an. Kurz
       darauf empfing ihn der Aktionskünstler, Rasierschaum im Gesicht, und nahm
       ihn mit zu seinem Schüler Blinky Palermo. So oder so ähnlich verlief der
       erste Kontakt meistens: direkt, ohne Umschweife, persönlich.
       
       Jürgen Wesseler, den ein Kritiker mal mit einem Einhorn verglichen hat,
       einem Fabeltier, welches alleine von Luft und der Liebe zur Kunst lebt,
       redet darüber nur, wenn er gefragt wird. Nach über 45 Jahren ehrenamtlicher
       Kuratorentätigkeit muss er sich nichts mehr beweisen. Und dass sein Ruf in
       Paris und New York größer ist als zu Hause, ist nicht mehr als eine kuriose
       Randnotiz. „Provinz ist halt nur da, wo man sie zulässt“, hat er einmal
       gesagt. Ein ganz wichtiger Satz. Er besagt, dass es auf die Arbeit und die
       Intention ankommt. Nicht auf die Institution und deren vorgebliches
       Prestige. Diese Haltung wurde von den Künstlern, die kamen, immer
       gewürdigt.
       
       Zu Ehren seines Mentors hat Gregor Schneider – der 2001 den Deutschen
       Pavillon auf der Biennale in Venedig klaustrophobisch zubaute und dafür den
       goldenen Löwen erhielt – Wesselers Kabinett im Museum für Moderne Kunst in
       Frankfurt maßstabsgetreu nachgebaut. Seit 2009 werden da Ausstellungen des
       Kabinetts als „Double“ kuratiert, von Moritz Wesseler und dem
       Kunstwissenschaftler Mario Kramer. Eine größere Respektsbekundung ist fast
       nicht denkbar.
       
       ## Maximaler Respekt
       
       In der Weserburg spricht Jürgen Wesseler nun gewissenhaft mit den jungen
       Kunststudenten, die scheinbar wenig bis gar nichts von ihm wissen. Sie
       stellen keine Fragen. Sie haben keine Ideen. Wesseler lässt es sich nicht
       anmerken, aber solches Desinteresse an der Kunst macht ihn ratlos.
       
       Später rührt er in seinem Espresso, schaut durch seine Hornbrille, funkelt,
       und sagt nüchtern: „So werden die keine vernünftigen Kuratoren.“ Dann zieht
       er seinen dünnen, olivgrünen Mantel über und verschwindet zurück ins
       Hinterland.
       
       9 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ruben Donsbach
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kunst
       
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