# taz.de -- Erinnerungen an Christian Semler: Hauptsache, du wärest noch hier
       
       > Wie Christian Semler Pol Pot als „sanft“ bezeichnete, warum er nie
       > taz-Chef werden wollte und warum er eine Legende in der DDR war. Drei
       > Weggefährten erinnern sich.
       
 (IMG) Bild: Die Studentenführer Salvatore Gaston, Christian Semler und Rudi Dutschke (v.l.) auf dem Vietnamkongress 1968.
       
       Die Zigarette wippte mit 
       
       von Michael Sontheimer, taz-Mitgründer 
       
       „Ein freundlicher, sehr sanfter Mann.“ So erinnerte sich Christian Semler
       an den kambodschanischen Kommunisten Pol Pot. In der Großen Halle des
       Volkes in Peking hatte Christian den Massenmörder getroffen, unter dessen
       Regime rund zwei Millionen Menschen zu Tode gekommen waren. Während er von
       der Begegnung mit Pol Pot erzählte, lachte er immer wieder sein glucksendes
       Lachen. Die Zigarette, die in seinem Mundwinkel angeklebt zu sein schien,
       wippte dabei fröhlich auf und ab.
       
       Da ich während des Bürgerkriegs nach dem Sturz Pol Pots im Jahr 1979 öfter
       Kambodscha bereist und ein Buch über das Land geschrieben hatte, war ich in
       der taz-Redaktion so ziemlich der Einzige, mit dem Christian über die
       Entwicklung der kambodschanischen Revolution diskutieren konnte. Umgekehrt
       verfügte Christian, nicht nur was Kambodscha oder Vietnam anging, über ein
       immenses Wissen. Man konnte mit ihm auch über Details des Warschauer
       Aufstands sprechen, über biografische Einzelheiten Adolf Hitlers, oder was
       sonst so interessant ist.
       
       Gleichzeitig war mir die Fröhlichkeit, mit der Christian über Pol Pot
       sprach, etwas ungeheuer und rätselhaft, so rätselhaft wie seine dunkle
       Dekade als Generalsekretär der KPD-AO. Diese Maoisten waren für uns als
       Spontis in den 1970er Jahren die Pest. Sie traten mit einem arroganten
       Führungsanspruch der selbsternannten Avantgarde auf. Sie waren üble
       Antidemokraten.
       
       Anfang der 1990er Jahre erzählte ich meinem Vater, dass ich mit Christian
       Semler in der taz zusammenarbeite, und mein Vater geriet förmlich ins
       Schwärmen, als er sich an die Diskussionen mit Semler am Otto-Suhr-Institut
       der Freien Universität Berlin Ende der 1960er Jahre erinnerte: „Was für ein
       intelligenter, gebildeter junger Mann das war“, sagte mein Vater, der
       damals als Professor scharf von Semler attackiert wurde. „Schade, dass er
       so weit abgedriftet ist.“
       
       Bommi Baumann hatte mir berichtet, wie Christian Semler in der
       Studentenbewegung im Jahr 1969 der Mann der Militanz gewesen sei, wie er
       nicht nur eine kommunistische Partei, sondern auch deren „bewaffneten Arm“
       aufbauen wollte.
       
       Als ich Christian Semler 1992 in der taz kennenlernte, hatte er mit
       Militanz und Waffen nichts mehr am Hut. Er war ein skeptischer, nicht mehr
       junger Mann, der viel gesehen und gedacht hatte, der sich geirrt und seine
       Irrtümer korrigiert hatte, ein milder, solidarischer, sehr sympathischer
       Mann.
       
       In der taz war Christian als kollektives Gedächtnis wichtig, der die
       Geschichte der westdeutschen und Westberliner Linken kannte wie wenig
       andere. Er diente dem taz-Kollektiv als inspirierender, nachdenklicher und
       kluger Gesprächspartner; und als jemand, mit dem man wunderbar lachen
       konnte. Dann, wie gesagt, wippte immer in seinem Mundwinkel seine Zigarette
       fröhlich mit.
       
       „Ich war mal Chef“ 
       
       von Bascha Mika, ehemalige taz-Chefredakteurin 
       
       Manchmal sind es die kleinen Szenen, die einen Menschen liebenswert machen.
       Und auf ganz besondere Weise gewinnend.
       
       Große Konferenz in der taz. Diskutiert wird ein hoch aufgeladenes Thema.
       Ein Praktikant ist besonders eifrig dabei und versuchte die umfassende
       politische Einschätzung. Die einen stöhnen, die anderen schauen betreten.
       Da meldet sich Christian Semler zu Wort. Meldet sich so ordentlich mit
       erhobener Hand, wie er es immer tut.
       
       Und dann erklärt er dem jungen Kollegen die Welt. Legt ihm behutsam die
       Dinge dar, ohne ihn im geringsten bloßzustellen. Ganz freundlich und
       zugewandt. Als hätte Christian nicht den geringsten Anlass für Arroganz.
       Als wäre er nicht einer der brillantesten Köpfe der 68er gewesen und der
       taz sowieso. Er entlarvt Ideologien, referiert Denksysteme und definiert en
       passant ein paar entscheidende Begriffe.
       
       Selbstverständlich spricht er im Stehen. So lässt es sich besser
       gestikulieren. Mit umwerfender Präzision, kenntnisreich bis in die letzen
       Details liefert er die entscheidende Analyse des Themas. Politische Kritik
       und Vision inbegriffen. Dass er mit einer Absurdität oder Pointe endet,
       versteht sich von selbst. Er ist doch der Erste, der was zu Lachen haben
       will. Tatsächlich, er kichert und amüsiert sich köstlich.
       
       Darf eine Chefin Lieblingskollegen haben? Egal, Christian war mir einer der
       Liebsten. Er war für mich das, was die taz an Gutem zu bieten hat. Ein
       Linker, der seinen Standpunkt ständig überprüft, wägt und reflektiert. Der
       sich leidenschaftlich einem aufklärerischen Ethos verpflichtet sieht. Der
       den eigenen politischen Weg kritisch betrachtet und daraus Konsequenzen
       zieht. Ohne jemals abzuschwören. Christian war bei der taz, weil er nie
       gezweifelt hat, dass verdammt viel zu tun bleibt angesichts der
       Verhältnisse. Das zeichnet ihn wohltuend aus gegenüber manchem seiner
       Mitstreiter der früheren Jahre.
       
       Nie gab es jemanden in der Zeitung, der so oft gefragt wurde, ob er nicht
       Chef werden wolle. Alle in der taz wünschten sich ihn an der Spitze.
       Ständig wurde er aufs Neue gebeten, gedrängt. Aber er wollte nicht. Mir
       fiel es schwer, seine Entscheidung zu akzeptieren – bis er mich eines Tages
       an die siebziger Jahre erinnerte, an seine Zeit bei den Maoisten. „Ich war
       mal Chef“, sagte er, „es hat mir und anderen nicht gutgetan.“ Damit war für
       ihn die Sache erledigt. Und ich war um die Einsicht reicher, dass dieser
       Christian Semler nicht nur wahnsinnig klug war, sondern auch weise war.
       
       Und inzwischen, lieber Christian, wäre es mir auch egal, als was du hier
       unter uns wärst. Hauptsache, du wärest noch hier.
       
       Das Band der Solidarnosc 
       
       von Wolfgang Templin, DDR-Bürgerrechtler 
       
       Christian Semler war schon eine Legende, als wir im Frühjahr 1982 das erste
       Mal zusammentrafen. Die Ausrufung des Kriegszustandes in Polen am 13.12.81
       löste auch in der Ostberliner Alternativszene einen Schock und heftige
       Depressionen aus. Wieder einmal schien alles umsonst zu sein, die Panzer
       und die Macht triumphierten. Eine Minderheit von uns wollte sich damit
       nicht zufriedengeben und setzte auf das Überleben der Solidarnosc im
       Untergrund.
       
       Wir konnten allesamt nicht mehr nach Polen und andere Ostblockstaaten
       reisen. Umso mehr waren wir auf Kontakte und Begegnungen mit
       Gleichgesinnten angewiesen, die abenteuerlich genug zustande kamen.
       Christian Semler, seine Frau Ruth Henning, Elisabeth Weber von den Grünen
       und andere Freundinnen und Freunde aus der Bundesrepublik schafften es
       mehrfach zu uns nach Ostberlin. Nahezu alle waren Exmaoisten, die einen
       realistischen Blick auf die diktatorischen Systeme nicht nur des Ostens
       teilten und sich uns Oppositionellen verbunden fühlten.
       
       Christian Semler, der schon 1981 im Kölner Bund-Verlag einen Sammelband mit
       Analysen und Dokumenten zur Gewerkschaft Solidarnosc herausgab, wurde zu
       einem der wichtigsten Unterstützer der osteuropäischen Oppositionellen. Er
       wurde 1984 zum Mitbegründer des Europäischen Netzwerkes für den
       Ost-West-Dialog. Darin versammelten sich Aktivisten der tschechischen und
       slowakischen Charta 77, der ungarischen Opposition, der
       Untergrund-Solidarnosc und anderer mittelosteuropäischer Länder. Auch
       Jürgen Fuchs und Roland Jahn als aus dem Land gesetzte DDR-Oppositionelle
       wirkten mit.
       
       „Den Helsinki-Prozess mit Leben erfüllen“ hieß für die Beteiligten, ihre
       Vorstellungen eines künftigen demokratischen, ungeteilten Europas zu
       entwickeln und den Weg dahin auszumessen. Es hieß, den Protest gegen die
       Unterdrückung und Inhaftierung von Oppositionellen zu organisieren und
       praktische Hilfe für die Betroffenen und ihre Familien zu leisten.
       
       In der Kölner Wohnung von Christian und Ruth sammelte sich halb Osteuropa.
       Wenige Stunden nach unserer Überstellung in die Bundesrepublik aus der
       Haftanstalt Hohenschönhausen im Februar 1988 trafen wir erneut mit
       Christian und Ruth zusammen. „Macht nichts, eure Arbeit geht jetzt zusammen
       mit uns hier weiter, was braucht ihr“, waren mit die ersten Worte.
       Christian verband Hilfsbereitschaft und tiefe Menschlichkeit mit einem
       unglaublichen Gefühl für Situationskomik. Er konnte so über schwere Momente
       hinweghelfen.
       
       Wenn ihn Heribert Prantl als „Radikaldemokrat im allerbesten Sinne“
       beschreibt und Daniel Cohn-Bendit von einem „starken linken Gewissen“
       schreibt, so sind das Eigenschaften, welche die Arbeit für die taz prägten
       und die Auseinandersetzung Christian Semlers mit den mittelosteuropäischen
       Entwicklungen nach 1989 charakterisieren. Polens Reformweg bleibt einer der
       zentralen Punkte seiner Aufmerksamkeit.
       
       Der deutsch-polnischen Annäherung, Aussöhnung und Partnerschaft fühlte er
       sich besonders verpflichtet. Es war ein schönes Gefühl, neben Christian
       stehen zu können, als ihm im September 2010 die Dankesmedaille des
       Europäischen Zentrums Solidarnosc aus der Hand des polnischen
       Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski verliehen wurde. Wir konnten uns das
       letzte Mal in Warschau sehen.
       
       13 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) M. Sontheimer
 (DIR) B. Mika
 (DIR) W. Templin
       
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