# taz.de -- Absage an den Bundespräsidenten: „Sehr geehrter Herr Gauck …“
       
       > Warum die Schwester eines Hamburger NSU-Mordopfers der Einladung ins
       > Schloss Bellevue nicht folgt: Das Schreiben von Aysen Tasköprü im
       > (gekürzten) Wortlaut.
       
 (IMG) Bild: „Etwas in mir ist zerbrochen“: Schweigemarsch für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt am 19. November 2011 in Hamburg.
       
       Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, vielen Dank für die Einladung.
       
       Ich habe über meine Anwältin gehört, dass Sie nicht wünschen, dass die
       Rechtsbeistände der Nebenkläger dabei sind. Sie möchten nur ihre Empathie
       ausdrücken, aber keine Anwälte auf diesem Treffen sehen. Es wäre emphatisch
       von Ihnen gewesen, nicht darauf zu bestehen, dass ich alleine ins
       Präsidialamt komme. Ich fühle mich dem nicht gewachsen und werde daher Ihre
       Einladung nicht annehmen können. Da Sie ja aber so daran interessiert sind,
       wie es uns geht, werde ich Ihnen gerne schildern, wie es uns geht.
       
       Im Sommer 2001 töteten die Neonazis meinen Bruder. Im Spätsommer 2011
       klingelte die Kripo bei mir. Sie brachten mir die persönlichen Gegenstände
       meines Bruders. Ich fragte die Beamtin, warum jetzt die Sachen kämen; ob es
       etwas Neues gibt. Sie sagte nur, man habe vergessen mir die Sachen
       zurückzugeben. Dann ging sie wieder.
       
       Ich habe stundenlang vor den Sachen meines toten Bruders gesessen; ich habe
       tagelang gebraucht, um mich zu überwinden meinen Eltern davon zu erzählen.
       (…)
       
       Am 11. 11. 2011 klingelte das Telefon. Ein Arbeitskollege war dran und
       sagte mir: „Aysen, mach sofort den Fernseher an“. Dann klingelte das
       Telefon wieder und der Kripobeamte, der den Fall bearbeitet hatte, sagte
       mir, die Mörder meines Bruders hätten sich umgebracht. (…)
       
       Ich habe in dieser Nacht nicht geschlafen, ich musste mich ständig
       übergeben. Am nächsten Tag hätte ich Frühdienst gehabt, ich konnte nicht
       zur Arbeit gehen. Das Telefon klingelte ununterbrochen, Presse und
       Fernsehen wollten Interviews, ich wollte nur meine Ruhe. (…)
       
       Und dann kam der Abend, an dem ich vor dem Fernseher saß und auf einmal das
       Bekennervideo der NSU gezeigt wurde. Ich habe angefangen zu schreien. Da
       lag mein Bruder in seinem eigenen Blut auf den rotweißen Fliesen, die ich
       so gut kannte. Ich sehe seine zierlichen Hände und ich erkenne seine
       Armbanduhr. Und kein Lächeln auf seinen Lippen; er ist ermordet worden. (…)
       An diesem Tag ist mein Bruder ein zweites Mal gestorben und etwas in mir
       ist zerbrochen. (…)
       
       Ich wurde 1974 in der Türkei geboren; seit 1979 lebe ich in Deutschland.
       Ich bin hier zur Schule gegangen, habe meine Ausbildung gemacht und
       gearbeitet. Mein Sohn wurde hier geboren und ich fühlte mich als Deutsche
       mit türkischen Wurzeln.
       
       Noch im März 2011 konnte ich darüber lachen, als eine Sachbearbeiterin im
       Rathaus zu meinem Sohn sagte, er sei kein Deutscher. Der Kleine war ganz
       erstaunt, er habe schließlich einen deutschen Pass. (…) Heute kann ich
       darüber gar nicht mehr lachen. Ich hatte mal ein Leben und eine Heimat. Ich
       habe kein Leben mehr. Ich bin nur noch eine leere Hülle, die versucht, so
       gut wie möglich zu funktionieren. (…)
       
       Ich habe auch keine Heimat mehr, denn Heimat bedeutet Sicherheit. Seitdem
       wir wissen, dass mein Bruder ermordet wurde, nur weil er Türke war, haben
       wir Angst. Was ist das für eine Heimat, in der du erschossen wirst, weil
       deine Wurzeln woanders waren? Meine Mutter verlässt das Haus nur noch, wenn
       es überhaupt nicht zu vermeiden ist. Mein Vater und meine Schwester sind
       schon zusammengebrochen (…)
       
       Mein Arzt hat festgestellt, dass ich nicht arbeitsfähig bin. Die
       Krankenkasse hatte mich einbestellt und mir gesagt, ich soll meine
       Krankmeldung zurücknehmen; ich soll Urlaub einreichen. Als ich mich
       weigerte, bekam ich ein Schreiben, der sozialmedizinische Dienst hätte mich
       als arbeitsfähig eingestuft. Allerdings haben die mich nie gesehen. Seitdem
       werde ich zwischen meinem Arbeitgeber, der auf einen Aufhebungsvertrag
       drängt, der Krankenkasse, die bezweifelt dass ich krank bin und der Arge,
       die meinen Aufenthaltsstatus wissen will, hin- und hergeschubst. Ich fühle
       mich unerwünscht.
       
       Alles was ich noch möchte, sind Antworten. Wer sind die Leute hinter der
       NSU? Warum ausgerechnet mein Bruder? Was hatte der deutsche Staat damit zu
       tun? Wer hat die Akten vernichtet und warum?
       
       Und noch eins zum Schluss: die Menschen, die sich jetzt mit einem Bild von
       meinem Bruder zeigen (…): wo wart ihr 2001? (…) Damals hat niemand um
       meinen Bruder getrauert. Heute ist er Euch auf einmal so wichtig.
       
       Und auch Ihnen, Herr Bundespräsident Gauck, ist mein Bruder doch nur
       wichtig, weil die NSU ein politisches Thema ist. Was wollen Sie an unserem
       Leid ändern? Glauben Sie, es hilft mir, wenn Sie betroffen sind?
       
       Ich würde mir wünschen, dass Sie als erster Mann im Staat mir helfen
       könnten, meine Antworten zu finden. Da helfen aber keine emphatischen
       Einladungen, da würden nur Taten helfen. Können Sie mir helfen? Wir werden
       sehen.
       
       Mit freundlichen Grüßen,
       
       Aysen Tasköprü
       
       15 Feb 2013
       
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