# taz.de -- Die Wahrheit: Elegantes Suppenhuhn
       
       > High-End-Lösungen für karnivore Konsumenten von Lebensmitteln, deren
       > Stammbäume sich lückenlos bis zu den Merowingern nachverfolgen lassen.
       
 (IMG) Bild: Das Suppenhuhn Mathilde ist von edler Abkunft und uralter Rasse.
       
       „Ich hätte gern ein Suppenhuhn“, sage ich, aber die Verkäuferin legt
       mahnend den Finger auf ihre Lippen. Ich dürfe die übrigen Kunden nicht
       stören, bedeutet sie mir. Denn die sind tief in die Betrachtung der
       fleischernen Exponate versunken: Zwei Hornbrillenmänner fachsimpeln raunend
       über die expressive Radikalität der Textur eines luftgetrockneten
       Schinkens, während eine ebenfalls wie luftgetrocknet wirkende Blondine vor
       Freude japst, als ein Mann ihr zärtlich ein Schweinemedaillon in einer
       handgearbeiteten Fassung aus Lardo di Colonnata um den ausgedörrten Hals
       legt.
       
       „Stefane ist gleich bei Ihnen“, flüstert die Verkäuferin, und während ich
       überlege, ob Stefane das Suppenhuhn ist, bekomme ich einen Espresso
       serviert. Ich werde misstrauisch. Wenn man irgendwo Espresso für umme
       bekommt, wird es danach umso teurer.
       
       Dann blättere ich in Hochglanzzeitschriften, die der Verherrlichung des
       Landlebens dienen sollen. Die Texte handeln allesamt von ehemals
       heruntergekommen Herrenhäusern in Branden- oder Mecklenburg, die von gut
       situierten Paaren aus dem Westen renoviert wurden. Auf den Fotos stehen sie
       wie Plantagenbesitzer vor ihren Anwesen: Während der Herr des Hauses in
       viriler Pose ein historisches Jagdgewehr geschultert hat und seinem treuen
       Hund oder dem braven Hausossi den Kopf tätschelt, schaut die Dame des
       Hauses versonnen in die Ferne, während ihre manikürten Hände auf einem
       Quilt ruhen, über dessen Anfertigung eine hundertseitige Sonderbeilage
       informiert. Als sich ein junger Mann vor mir aufbaut, lege ich den
       Gutsbesitzerporno beiseite und erkenne, dass er ein lebendiges Huhn auf dem
       Arm trägt.
       
       „Ich bin Stefane, und das ist Mathilde zur Niederlohe von Braxhausen“, sagt
       Stefane.
       
       „Es ist ein Huhn“, sage ich, aber Stefane widerspricht.
       
       „Mathilde ist ein Bergischer Kräher von elegantem Wuchs und angenehmem
       Wesen.“
       
       „Bartel, ebenfalls angenehm“, sage ich zum Huhn und verbeuge mich, während
       Stefane mir bereits Mathildens Stammbaum erläutert, der sich offenbar
       lückenlos bis zu den Merowingern beziehungsweise deren Hühnern
       nachverfolgen lässt.
       
       „Mathilde ist von edler Abkunft“, erläutert Stefane beflissen, das Huhn
       schaut mich dagegen ziemlich arrogant an, und ich beginne,
       Minderwertigkeitskomplexe gegenüber meinem zukünftigen Abendessen zu
       entwickeln. Die nächste halben Stunde widmet Stefane dem Lebenslauf meines
       Suppenhuhns, den er mir sowohl in tabellarischer Form wie auch als Essay
       ausgehändigt. Er ist wesentlich länger als mein eigener, aber ich pflege
       auch nicht seitenlang über meine Ernährung zu schwadronieren, obwohl das
       Thema einiges hergeben würde. Ich erfahre, dass Mathilde ausschließlich von
       Hand mit makrobiotischen Dinkelsprossen und lauwarmen Emmerbrei gefüttert
       wurde. Außerdem hat sie eine Ausbildung zum Therapiehuhn abgeschlossen und
       würde gern mit behinderten Kindern arbeiten, falls das mit der Suppe nichts
       wird. In ihrer Freizeit hat sich Mathilde sozial engagiert und dafür
       gesorgt, dass auch die blinden Hühner mal ein Korn finden.
       
       Ich bin tief beeindruckt, aber auch kurz davor, zum Vegetarismus
       überzutreten, denn dieses Huhn hat eindeutig mehr Soft Skills als ich.
       
       „Vor dem Kauf arrangieren wir gern einen privaten Besuchstermin, damit Sie
       sich ein wenig näher kennenlernen können“, sagt Stefane, und ich habe
       plötzlich sehr deutlich das Gefühl, bei einem hochpreisigen Escortservice
       für Sodomisten gelandet zu sein. „Ich weiß nicht recht“, flüstere ich, um
       Mathildens Gefühle nicht zu verletzen, außerdem habe ich ein wenig Angst
       vor ihr bekommen. „Vielleicht ist Huhn doch nicht das richtige.“
       
       Stefane zieht ein Paar hauchfeiner Naturkautschukhandschuhe über und nimmt
       ein Stück Fleisch aus einer liebevoll ausgeleuchteten Kühlvitrinen, die mit
       einem Schloss gesichert war.
       
       „Das ist ein ganz feines Rückenstück“, sagt er. „Sabine war von alter Rasse
       und hat Kunstgeschichte studiert. Und sie war selbstverständlich
       Nichtraucherin. Ganz bewusst leichte Fütterung, ideal für moderne
       mediterrane oder kalifornisch-asiatische Fusionküche, das merkt man dem
       Produkt einfach an. Oder darf es etwas Rustikaleres sein, ein schönes
       Bratenstück für vier bis sechs Personen vielleicht? Wir hätten da noch ein
       bisschen Günther, Bauarbeiter aus Bottrop, kräftiges Muskelfleisch mit
       einer ordentlichen Fettschicht und zartem Raucharoma.“
       
       18 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Bartel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Landleben
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 (DIR) Frühling
       
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