# taz.de -- Bürgerkrieg in Syrien: Eine Landkarte der sexuellen Gewalt
       
       > Auf der Website „Women under Siege“ können syrische Bürger sexuelle
       > Angriffe melden, die in einer Datenbank gesammelt werden. Der Horror wird
       > so sichtbar.
       
 (IMG) Bild: Nicht nur vom Granatenbeschuss bedroht: Frauen in Aleppo
       
       NEW YORK taz | Brooklyn. South Slope. Lauren Wolfe sitzt auf dem Sofa in
       ihrer Wohnung. Neben ihr fläzt sich ein riesiger dunkelbrauner Labrador. Im
       Ofen schmort ein Hühnchen. Vom Fenster aus, Blick auf den Hafen. Es ist
       gemütlich. Wolfe ist im Krieg.
       
       Ein Teil von ihr scheint woanders zu sein, während sie in ihrem Wohnzimmer
       über ihre Webseite spricht – an sich nicht mehr als ein paar Zeilen
       HTML-Code, durch Kabel verbunden mit einem Land, in dem sie nie war. Sie
       ist die Initiatorin von [1][„Woman under Siege“], einer Seite, die Berichte
       über Vergewaltigungen in Syrien sammelt
       
       „Was die Sicherheit betrifft, befinden wir uns in einer verzwickten Lage“,
       sagt sie nervös, während sie abwechselnd auf Tablet und Smartphone tippt.
       „Die bloße Existenz dieser Seite ermutigt dazu, zu twittern oder uns zu
       schreiben – aber es kann sein, dass wir gerade dadurch Leute in Gefahr
       bringen.“
       
       Wenn sie mitbekomme, dass jemand gerade eine Mail von einem Internetcafé
       aus schicke, dann bitte sie den Absender, den Ort so schnell wie möglich zu
       verlassen. Angst und bang sei ihr in solchen Situationen. Den Leuten in
       Syrien sei ihr eigenes Überleben bisweilen weniger wichtig, als
       Informationen nach draußen zu schaffen.
       
       ## 42 Frauen auf einmal
       
       Regierungstreue Schabiha-Milizen sollen im Januar in Homs Frauen
       vergewaltigt haben, berichten Rebellen. Zweiundvierzig Frauen auf einmal.
       Letztes Jahr sei ein Mann aus derselben Stadt von vierzig bis fünfzig
       Angehörigen der offiziellen Streitkräfte vergewaltigt worden. Zuvor habe er
       die Vergewaltigung seiner Frau und seiner Töchter mit ansehen müssen.
       
       Die iranische Nachrichtenagentur Fars und das syrische Staatsfernsehen
       schreiben säkularen und islamistischen Rebellen zwar keine
       Massenvergewaltigungen zu, aber von einzelnen Fällen berichten auch sie.
       Wie in jedem Kriegsgebiet wird auch in Syrien sexualisierte Gewalt von
       beiden Seiten als Waffe eingesetzt. Genaue Informationen sind spärlich. Es
       ist schwer zu sagen, wie viel Gerücht, Propaganda und Wahrheit ist.
       
       Das Webjournalismus-Projekt „Women under Siege“ selektiert Berichte über
       Vergewaltigungen in Syrien nicht, sondern sammelt sie in einer Datenbank
       mit Landkarte. Es ist das erste Mal, dass Vergewaltigungen in einem Krieg
       auf diese Weise dokumentiert werden. Die Vorfälle auf „Women under Siege“
       lassen sich nach Kategorien wie Geschlecht der Opfer, Anzahl der Täter oder
       erfolgte Schwangerschaft filtern. So zeigt die Auswahl nach dem Geschlecht
       der Opfer beispielsweise, dass etwa zwanzig Prozent der Vergewaltigungen an
       Männern begangen wird.
       
       „Women under Siege“ dient zur Dokumentation von Kriegsverbrechen, aber auch
       zur Information vor Ort. Wie bei ähnlichen Projekten mit der Kartensoftware
       kann die Bevölkerung per Twitter und Mail selbst melden, wenn sie etwas
       mitbekommt. So wird der Horror sichtbar, quantifizierbar, verortbar. Die
       Technik gibt dem Volk ein kleines Stück Kontrolle über die Situation
       zurück.
       
       ## Keine hundertprozentige Sicherheit
       
       Den SMS-Verkehr mit Syrien habe „Women under Siege“ aus Sicherheitsgründen
       eingestellt. Auf ihrer Seite empfiehlt sie die Verschlüsselungsprogramme
       „HushMail“ und „Tor“, verweist jedoch darauf, dass es keine
       hundertprozentige Sicherheit gibt. Länder wie China und Iran verfügen über
       Deep Packet Inspection, haben also die Möglichkeit zur Durchsuchung über
       das Netz verschickter Inhalte. Sie können auch „Tor“ blockieren. Die
       syrische Regierung hat genügend Kapital, sich diese Technologien ebenfalls
       zuzulegen. Die Verkäufer sind meist westliche Firmen.
       
       Doch die virtuelle Nähe produziert auch andere Probleme als Netzsicherheit.
       Einmal, berichtet Wolfe, sei sie von einer syrischen Frau nach Tipps
       gefragt worden, um sich vor Vergewaltigungen zu schützen. Die Frau muss
       Wolfe für so was wie eine Expertin in Sachen Krieg und Vergewaltigung
       gehalten haben. Die gebürtige New Yorkerin ist zwar äußerst internetaffin,
       sie war jedoch selbst nie in einem Kriegsgebiet. Was sollte sie der Frau in
       Syrien schon antworten?
       
       Sie wendete sich schließlich an eine NGO und leitete deren Tipps weiter.
       Ratschläge, nicht um sich zu schützen, sondern um mit den Folgen von
       Vergewaltigungen umgehen zu können, wie etwa ungewollte Schwangerschaft,
       Geschlechtskrankheiten und Traumata. Eine „traurige, unangemessene Antwort
       auf eine tragische Situation“ scheint Wolfe das heute.
       
       ## Mehr Online-Krieger
       
       Der Krieg, ungefiltert und in Echtzeit, auch das ist eine Errungenschaft
       des Internets. Es wird mehr Online-Krieger geben und mehr Online-Aktivisten
       – Leute wie Wolfe, die über das Netz tun, was sie können. Fast ein
       Massenphänomen war das schon bei den Anonymous-Aktionen in Ägypten. Wolfe
       benutzt für „Women under Siege“ die Ushahidi-Software, eine kenianische
       Entwicklung.
       
       Als es 2007 nach Wahlen zu politischer Gewalt in Kenia kam, begann die
       Anwältin Ory Okolloh in ihrem Blog „Kenyan Pundit“ damit, über Gewalt in
       den Straßen zu berichten. Der Blog half vielen, sich zu schützen, Gewalt
       aus dem Weg zu gehen. Druckmedien waren zu langsam und zu unzuverlässig.
       Programmierer entwickelten daraufhin die Open Source Software „Ushahidi“ –
       zu Deutsch „Zeugnis“. Sie erzeugt Landkarten, die per SMS, MMS oder per
       Mail von jedem modifiziert werden können. Bisher wurde Ushahidi in Kongo,
       Libyen, Gaza und Indien eingesetzt.
       
       Weil sie Schwarmintelligenz in konkrete Überlebensvorteile verwandeln, sind
       Ushahidi-Karten für den Philosophen und Bioethiker Allen Buchanan
       „Cognitive Enhancement“, kognitive Erweiterung. Wie leistungssteigernde
       Medikamente oder Implantate sollen sich Ushahidi-Systeme direkt auf die
       körperliche Wahrnehmung des Einzelnen auswirken. Die Karten bilden einen
       Mensch-Maschinen-Komplex, werden Teil des neuronalen Systems der Leute in
       den betroffenen Gebieten.
       
       ## Plötzliche Wutanfälle
       
       Aber gilt das auch für uns, für die Zuschauer der Gewalt? Immanuel Kant,
       der Königsberg bekanntlich so gut wie nie verlassen hat, hat geschrieben,
       das Weltbürgerrecht werde sich einstellen, wenn „die Rechtsverletzung an
       einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“. Das scheint heute mehr denn je
       der Fall zu sein. Detaillierte Informationen konnten allerdings weder
       Ruanda noch Bosnien verhindern.
       
       Zurück in Brooklyn. Lauren Wolfe sieht übermüdet aus. Auf Nachfrage hin
       erklärt sie, sie versuche, sich die Effekte ihrer Arbeit vom Leib zu
       halten. Sie fragt: „Wie oft kann man über Mäuse lesen, die einem jungen
       Mädchen in die Vagina eingeführt werden, und dabei emotional präsent
       bleiben?“ Das Abschalten gelinge letztlich nicht. Sie sei gereizt. Immer
       öfter leide sie unter plötzlichen Wutanfällen – wegen Dingen, die ihr
       früher egal gewesen seien. Die Gewalt, ihre Machtlosigkeit, die Untätigkeit
       der internationalen Gemeinschaft – all das nage an ihr.
       
       29 Mar 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.womenundersiegeproject.org/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Johannes Thumfart
       
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