# taz.de -- Roberto-Bolaño-Schau in Barcelona: Macht euch auf den Weg ins Offene
       
       > Eine beeindruckende Ausstellung in Barcelona widmet sich dem chilenischen
       > Schriftsteller Roberto Bolaño: „Archivo Bolaño. 1977–2003“.
       
 (IMG) Bild: Roberto Bolaño in Girona, 1984.
       
       Damit er sich in seinen Manuskripten zurechtfand, versah Roberto Bolaño sie
       bisweilen mit Skizzen. Wenn er widrigen Umständen etwas abtrotzte, was er
       für gelungen hielt, malte er einen Oberkörper im Profil. Eine Hand griff
       nach den langen Haaren und zog den Schopf nach oben, in der Brust war das
       Herz sichtbar, drumherum winzige Kreise. Dazu notierte er: „Zeilen, die
       imstande waren, mich an den Haaren zu ziehen und aufzurichten, wenn mein
       Körper es nicht mehr aushalten wollte.“
       
       An anderen Stellen malte er Linien, die mal gerade, mal gewellt, mal
       gezackt ausfielen. Darauf befand sich ein mit wenigen Strichen
       hingeworfenes Boot: Die gerade Linie zeigte ruhige See an, die nächste
       Wellengang, die dritte stürmische See. Die erste Linie, hielt er fest,
       beruhige ihn, die zweite beunruhige ihn, die dritte sei „die Verkrampfung.
       Mein Penis tat mir weh, der Bauch etc.“
       
       Roberto Bolaño schrieb so gewaltige Romane wie „2666“ oder „Die wilden
       Detektive“ und zahlreiche weitere Bücher wie „Das Dritte Reich“,
       „Lumpenroman“ oder, gerade ins Deutsche übertragen, „Die Nöte des wahren
       Polizisten“. Er kam 1953 in Chile zur Welt, als Jugendlicher zog er mit
       seiner Familie nach Mexiko. Die meiste Zeit seines kurzen Lebens – er starb
       im Sommer 2003, während er auf eine Lebertransplantation hoffte –
       verbrachte er in Katalonien, von 1977 bis 1980 lebte er in Barcelona, dann
       in Girona, einem pittoresken Städtchen im Landesinnern, schließlich im
       Küstenort Blanes.
       
       Über sein Leben in diesen Jahren, seine Freundschaften und das allmähliche
       Entstehen seines noch heute nicht zur Gänze gesichteten Werks legt zurzeit
       eine beeindruckende Ausstellung in Barcelona Zeugnis ab. Im Centre de
       Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) sind 230 meist handbeschriebene
       Seiten aus seinem überbordenden Archiv zu sehen, außerdem Objekte,
       Fotografien und Bücher, zur Verfügung gestellt hat all dies Bolaños Witwe
       Carolina López. Passenderweise liegt das CCCB im Raval-Viertel, ein paar
       Schritte von der einstigen Wohnung in der Carrer Tallers 45 entfernt.
       
       ## Ich = Arturo Belano
       
       Für Aficionados und Philologen ist die Ausstellung ein Fest, und auch für
       diejenigen, die nicht eingeweiht sind, leistet sie einiges, vorausgesetzt,
       man kann Spanisch lesen. In den abgedunkelten Räumen im Untergeschoss des
       CCCB wird greifbar, wie die Einbildungskraft arbeitet, welche Wege sie
       geht, woran sie sich nährt. Nachgedruckte Listen aus Notizbüchern geben
       Auskunft darüber, was Bolaño las, welche Musik er hörte und welche Filme er
       im Kino sah: im April 1980 zum Beispiel „Dawn of the Dead“ von George
       Romero.
       
       Zeitungsmeldungen wie die von einem Chinesen, der seinen 142. Geburtstag
       feiert, oder über die Frauenmorde im Norden Mexikos sickern in den fiktiven
       Kosmos ein, Erfahrungen des Autors verwandeln sich in literarische
       Begebenheiten, Freunde und Kollegen bekommen neue Namen und werden
       Romanfiguren. In den Schaukästen zu „Die wilden Detektive“ findet sich eine
       Liste, die den realen Personen ein fiktives Gegenstück zuweist.
       
       An erster Stelle steht: „ich = Arturo Belano“. An zweiter: „Mario Santiago
       = Ulises Lima“. Mario Santiago (1953 bis 1998) war ein mexikanischer
       Dichter; gemeinsam mit Bolaño und anderen lancierte er in den 70er Jahren
       das „Infrarealistische Manifest“, das der Ausstellung das Motto leiht:
       „Déjenlo todo, nuevamente. Láncense a los caminos“. Lasst von Neuem alles
       stehen. Macht euch auf den Weg.
       
       Was Bolaño einmal in seinen fiktiven Kosmos eingespeist hat, verwendet er
       in anderen Zusammenhängen wieder. Die Zeichnung der geraden, der gewellten
       und der gezackten Linie etwa taucht in „Die wilden Detektive“ wieder auf.
       Dort bilden die drei Linien ein Gedicht namens „Zion“. Dessen Autorin,
       Cesárea Tinajero, ist eine der vergessenen und verschwundenen Dichter, die
       im Werk Bolaños so häufig vorkommen, als abwesende, geisterhafte
       Existenzen. Die übrigen Figuren lenken ihre Energie darauf, den
       Verschollenen zu finden, sie reisen in die hintersten Winkel der
       mexikanischen Sonorawüste, doch ihre Suche führt sie nie ans Ziel.
       
       ## In Haft in Chile
       
       Bolaño war die meiste Zeit seines Lebens kein erfolgreicher Schriftsteller;
       erst Mitte der 90er Jahre begann sich dies zu ändern, nachdem er „Die
       Naziliteratur in Amerika“ und „Stern in der Ferne“ bei den spanischen
       Verlagen Seix Barral und Anagrama veröffentlicht hatte. In den Jahren davor
       hielt er sich mit Jobs über Wasser, als Verkäufer im Modeschmuckladen
       seiner Mutter in Blanes oder – wie sein Alter Ego Arturo Belano in „Die
       wilden Detektive“ – als Nachtwächter auf einem Campingplatz im Küstenort
       Castelldefels. Auf einer Visitenkarte aus jenen Tagen steht: „Roberto
       Bolaño, Dichter und Vagabund, Carrer Ample Nr. 13 2° 1°, Blanes, Gerona.“
       
       Als junger Mann war er sogar einmal in Haft: 1973 reiste er von Mexiko nach
       Chile, um die Regierung von Salvador Allende zu unterstützen. Der Putsch
       vom 11. September 1973 überraschte ihn. Weil er in der Zwischenzeit einen
       mexikanischen Akzent angenommen hatte, erregte er die Aufmerksamkeit der
       Polizei; mehrere Monate verbrachte er im Gefängnis, bevor er das Glück
       hatte, ausreisen zu können.
       
       En passant ist die Ausstellung auch eine über die Produktionsmittel der
       Literatur, da Bolaño zu einer Zeit aktiv war, als der Computer aufkam.
       Vieles in den Vitrinen ist handschriftlich notiert, in einer gleichmäßigen,
       leicht nach links neigenden Schrift. Es gibt erstaunlich wenige
       Korrekturen, die erste Seite von „Das Dritte Reich“ etwa enthält gerade mal
       zwei Streichungen. Daneben gibt es die Typoskripte, erst mit mechanischer,
       später mit elektrischer Schreibmaschine verfasst. Letztere – eine Olivetti
       – hängt in einem Glaskasten an der Wand, daneben die Tastatur des
       Computers, an dem Bolaño arbeitete. Die Gefahr, dass die Gegenstände
       fetischisiert werden, ist nicht ganz gebannt: Schaut her, das haben die
       Hände des großen Autors Tag für Tag berührt.
       
       Die Fotografien sind aussagekräftiger; sie zeigen zum Beispiel einen
       schlanken Mann am Schreibtisch, auf einem einfachen Holzstuhl, vor einem
       dieser riesigen Bildschirmquader, neben sich den vollen Aschenbecher.
       Bolaño rauchte Ducados, eine spanische Zigarettenmarke, schwarzen Tabak. In
       der Vitrine zu „Das Dritte Reich“ liegt die Pappschachtel des
       Strategiespiels „The Third Reich“, daneben eine Karte, in der
       Truppenbewegungen und -standorte eingetragen sind.
       
       ## Detektivische Instinkte
       
       Der Autor war ein ähnlich versierter Strategiespieler wie Udo Berger, der
       Protagonist von „Das Dritte Reich“. Berger macht mit seiner Freundin Urlaub
       an der Costa Brava. Während sie an den Strand geht, bleibt er im
       Hotelzimmer, um sich dem Strategiespiel zu widmen, in dem er den Zweiten
       Weltkrieg nachträglich für Deutschland entscheiden möchte. Auf einem Foto
       sieht man Bolaño auf einem Balkon stehen, der Blick geht aufs Meer, rechter
       Hand ragt aus dem Wasser ein Felsblock auf. So ähnlich kann man sich die
       Aussicht vom Hotelzimmer Udo Bergers vorstellen.
       
       Die Ausstellung verwandelt sich den mäandernden Texten des Autors in dem
       Maße an, in dem es hier wie dort Fragen ohne Antwort und Pfade ins Offene
       gibt. Wie etwa stand der Autor dazu, dass um ihn herum Katalan gesprochen
       wurde, während er auf Spanisch schrieb? Spielte das eine Rolle? Oder nicht?
       Dass er vor seinem Tod alleine eine neue Wohnung bezog, wird zwar von
       seinem Freund Javier Cercas im Katalog erwähnt; dass er einer anderen Frau
       begegnet war, nicht.
       
       Da die Ausstellung in enger Zusammenarbeit mit der Witwe Carolina López
       entstand, erstaunt die Auslassung nicht. Sie passt zudem zu den Büchern, da
       auch die nicht alle Informationen preisgeben. So wie die Romane
       detektivische Instinkte hervorkitzeln, so verspürt man nach Verlassen des
       CCCB den unwiderstehlichen Drang, sich von Neuem auf den Weg in die Welt
       Roberto Bolaños zu machen, sei’s auf den zahlreichen ihm gewidmeten
       Internetseiten, sei’s in seinen Büchern.
       
       ## „Archivo Bolaño. 1977–2003“. Bis 30. Juni, CCCB – Centre de Cultura
       Contemporània de Barcelona, Katalog (spanisch/englisch) 15 Euro
       
       3 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Barcelona
       
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