# taz.de -- Die Wahrheit: Bomben und Balladen
       
       > Aus allen Teilen der Erde machten sich sechs Dichter der Wahrheit zu
       > einer fröhlichen Sternfahrt nach Münster auf. Am Ende hieß es: „Wir
       > kommen wieder!“
       
 (IMG) Bild: Die Wahrheit-Dichter präsentierten sich in aller Pracht ihrem westfälisch verzückten Publikum.
       
       Am vergangenen Freitag fand im Vorfeld des 18. Internationalen
       Lyrikertreffens in Münster unter dem Titel „Goethes schönste Söhne“ eine
       Wahrheit-Lesung der besonderen Art statt. Aus allen Teilen der Erde oder
       zumindest Deutschlands hatten sich sechs Dichter der Wahrheit zu einer
       fröhlichen Sternfahrt in die westfälische Metropole aufgemacht, um den
       Münsteranern Glück und Freude zu bringen.
       
       Nach einem monatelangen, viertausendseitigen Briefwechsel, in dem eifrig
       diskutiert wurde, wie die Lesung strukturiert sein solle, ob sie überhaupt
       strukturiert sein solle und was man dort eigentlich vortragen wolle,
       konnten sich die sechs Dichter letztlich darauf einigen, dass man sich –
       wie vor zwei Jahren – zunächst einmal um 17 Uhr im Hotel treffen würde, um
       dort alles Weitere zu überdenken.
       
       Doch anders als vor zwei Jahren war die Stadt diesmal auf den Besuch der
       wilden Dichter vorbereitet und hatte Vorkehrungen getroffen, um die
       Goethesöhne fernzuhalten. So hatte irgendein Schlaukopf – womöglich der
       Kulturamtsleiter selbst – eine Bombe am Hauptbahnhof deponiert, woraufhin
       das gesamte Stadtviertel stundenlang gesperrt wurde. Bei allem Respekt vor
       kulturellen Ängsten: Wegen der Ankunft der Wahrheit-Dichter gleich damit zu
       drohen, einen ganzen Bahnhof in die Luft zu jagen, das halten wir doch für
       ein bisschen übertrieben.
       
       Aber die Goethesöhne wären nicht die Goethesöhne, wenn sie nicht allesamt
       Mittel und Wege gefunden hätten, die Festung Münster dennoch einzunehmen.
       Klaus Pawlowski beispielsweise kaperte vor den Stadttoren kurzerhand einen
       Linienbus und zwang dessen Fahrer, ihn auf dem kürzesten Wege direkt zum
       Hotel zu fahren.
       
       Und so gellten dann ab 16.50 Uhr immer wieder glockenhelle Jubelrufe durch
       das Gasthaus, wenn sich wieder ein Dichter eingefunden hatte und den
       bereits anwesenden Kollegen freudentränenüberströmt in die ausgebreiteten
       Arme fiel. Endlich waren sie alle zusammen – ausgesucht einzig und allein
       nach den strengen Typ-Kriterien, die beim Casting für eine Boygroup stets
       angewandt werden, damit jedem Mädchenherzen ein Typ zum Schwärmen angeboten
       werden kann: Klaus Pawlowski verkörperte den Typ „Der Schüchterne“, Georg
       Raabe war „Der Draufgänger“, Reinhard Umbach „Der Sensible“, Christian
       Mainz „Der freundliche Clown“, Thomas Gsella „Der elegante Weltmann“ und
       der Neuling in der reimstarken Runde, Peter P. Neuhaus, verkörperte perfekt
       den Typus „Der große Bruder“.
       
       ## „Alles hört auf mein Kommando!“
       
       Um exakt 17.10 Uhr fuhr der geräumige Tourbus vor dem Hotel vor, um die
       Band in das etwa 500 Meter entfernte imposante Gebäude des
       Mitveranstalters, des altehrwürdigen Verlages Monsenstein und Vannerdat, zu
       chauffieren. Eine Strecke, die man auch zu Fuß hätte bewältigen können,
       wenn nicht – wie bereits vor zwei Jahren – der elegante Damendichter Thomas
       Gsella, der sich eigens für die Lesung das Haupthaar bei einem angesagten
       Coiffeur hatte legen lassen, befürchtet hätte, die herrliche Frisur könne
       durch den prasselnden Regen Schaden erleiden.
       
       Nur wenig später sah man Goethes schönste Söhne an einem riesigen
       Eichentisch unter den alles überragenden Porträts der Verlagsgründer hitzig
       darüber diskutieren, wie die Lesung denn strukturiert sein solle, ob sie
       überhaupt strukturiert sein solle und was man dort eigentlich vortragen
       wolle. Endlich aber schlug der Draufgänger Georg Raabe wie bereits im Jahre
       des Herrn 2011 gewaltig mit der Faust auf den Tisch: „Alles hört auf mein
       Kommando! Wir lesen einfach in folgenden Rubriken: 1. Die Entwicklung des
       Ölpreises in den Jahren 1972 bis 2003, 2. Dinosaurierforschung am
       Scheideweg, 3. Leben und Tod – nur dumme Angewohnheiten?, 4. Haikus, 5.
       Statistiken.“
       
       So instruiert wanderten die Goethesöhne und ihre Betreuer, Verlagschef
       Roland Tauber und Wahrheit-Redakteurin Corinna Stegemann, zum nahe
       gelegenen Veranstaltungsort Triptychon, der von den äußerst entzückenden
       und hilfsbereiten Gastgebern bereits liebevoll mit Tarnnetzen und allerlei
       zauberhaftem Beiwerk dekoriert worden war. Die Dichter nahmen auf dem
       Podium, die massenhaft hereinströmenden Gäste erwartungsgemäß im Saal Platz
       – und schon bescherten Goethes Nachkommen den Zuhörern eine Dichterlesung,
       wie sie nicht schillernder hätte sein können. Die festgelegten Rubriken
       wurden selbstverständlich penibel eingehalten, und die Zuhörer wurden
       rasant zwischen Lachen, Staunen und Verehrung hin und her geschleudert.
       
       Gute zwei Stunden vergingen im Rausch der Reime wie Sekunden. Die Dichter
       wurden während der unzähligen Zugaben von hübschen jungen Damen mit Rosen
       überhäuft, und der Rest der Nacht verliert sich in einem luziden
       Erinnerungsstrudel farbenprächtigster Elemente.
       
       Und als die güldene Sonne über Münster aufging, da waren sich alle einig:
       „Wir kommen wieder!“
       
       22 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Corinna Stegemann
       
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