# taz.de -- Aktionskünstler Otto Muehl gestorben: Pissaktion auf dem Professorenpult
       
       > Erst war er Österreichs Antwort auf die 68er-Bewegung, später wurde er
       > wegen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt. Jetzt ist Otto Muehl
       > gestorben.
       
 (IMG) Bild: Blick in eine Ausstellung von Otto Muehl (Archivbild von 2004).
       
       WIEN taz | „Ich hatte eher Angst vor ihm.“ So erinnert sich der Filmemacher
       Paul-Julien Robert an Otto Muehl. Robert wurde 1979 auf dem Friedrichshof
       geboren, Muehls Kommune im Burgenland. „Wir Kinder waren hauptsächlich
       während der Selbstdarstellungsabende in seiner Nähe, wo 200 Leute zusahen.
       Allein das war schon Furcht einflößend“, so der Kommunensproß, der vor
       wenigen Wochen seinen Dokumentarfilm „Unsere keine Familie“ vorstellte.
       Darin arbeitete er seine traumatische Kindheit unter dem Guru auf.
       
       Otto Muehl starb am Sonntag 87-jährig in Portugal, wo er seit einigen
       Jahren lebte. Bekannt, um nicht zu sagen berüchtigt, wurde Muehl, als er im
       Juni 1968 mit Günter Brus und Oswald Wiener, dem Vater der bekannten
       Fernsehköchin Sarah Wiener, zur Aktion „Kunst und Revolution“ in den
       Hörsaal 1 der Wiener Universität einlud. Die Medien berichteten darüber als
       „Uni-Ferkelei“. Denn Teil der Aktion waren drei nackte Männer, die um die
       Wette urinierten: Otto Muehls Pissaktion. Einer entleerte seinen Darm auf
       dem Professorenpult.
       
       Der ausgebildete Gymasiallehrer für Deutsch und Geschichte hatte an der
       Kunstakademie Günter Brus und Hermann Nitsch kennengelernt.
       
       Mit ihnen gründete er eine neue Schule, die unter dem Namen Wiener
       Aktionmus in die Kunstgeschichte eingehen sollte: Österreichs Antwort auf
       die 68er-Bewegung. Brus experimentierte vor allem mit dem eigenen Körper,
       fügte sich Verletzungen zu und machte sich selbst zum Kunstobjekt, Nitsch
       ist bis heute für seine Schüttbilder und Blutorgien bekannt.
       
       Auch Otto Muehl ging es darum, die Trennung zwischen Kunst und Leben
       aufzuheben. Um das zu verwirklichen, gründete er 1970 eine Kommune in Wien,
       die dann zwei Jahre später auf ein Landgut im Burgenland umzog: den
       Friedrichshof.
       
       Die Gemeinde von Anhängerinnen und Anhängern schwoll im Laufe der Jahre auf
       240 an. Insgesamt lebten um die 700 Menschen eine Zeit lang unter Muehls
       Kommando. So attraktiv war das Konzept, das dort radikal gelebt wurde:
       Selbstverwaltung und freie Liebe.
       
       Wilhelm Reich stand Pate bei der sogenannten Aktionsanalyse, die durch die
       Urschreitherapie von Arthur Janov, Fritz Perls’ Gestalttherapie und
       Alexander Lowens bioenergetische Analyse angereichert wurde.
       
       ## Radikale Enthemmung
       
       Nackte Menschen saßen im Kreis, und wie bei evangelikalen Sekten mussten
       Einzelne in die Mitte treten und ihr Innerstes herausschreien, ihre Ängste,
       Begierden, verborgenen Fantasien herauslassen. Radikale Enthemmung durch
       radikale Selbstdarstellung hieß die Devise.
       
       Privateigentum wurde abgeschafft, Kinder gemeinsam aufgezogen und in einer
       Schule auf dem Hof unterrichtet. Man lebte frei nach Wilhelm Reich: „Die
       Familie ist die Brutstätte aller Geisteskrankheiten.“ Wirtschaftlich setzte
       man auf Selbstversorgung durch landwirtschaftliche Produktion und
       Schweinemast. Verschiedene Werkstätten, wie eine Tischlerei und ein
       Mechanikerbetrieb, sowie ein auf Entrümpelungen spezialisiertes
       Transportunternehmen sorgten für Einkommen. Dank glücklicher
       Börsenspekulation schwamm Muehl sogar im Geld und konnte eine Zweigstelle
       auf der Kanaren-Insel Gomera errichten.
       
       Dass die Ideale nur teilweise verwirklicht wurden, dämmerte vielen
       Kommunarden erst nach und nach. Der freie Sex stand vor allem dem immer
       mehr zum Guru mutierenden Otto Muehl zu, dem alle Frauen zu Willen zu sein
       hatten. Nicht nur die erwachsenen Frauen, wie spätestens während des
       Strafverfahrens im Jahr 1991 offenkundig wurde.
       
       ## Freie Liebe und gegen Privatbesitz
       
       Die Kommune nahm immer mehr den Charakter einer Sekte an. Dadurch wandten
       sich immer mehr Sympathisierende ab. Hatten die Kommunarden lange Zeit die
       Öffentlichkeit gesucht, Vorträge gehalten, zu Versuchsgruppen und
       Selbstdarstellungsarbeit mit Gästen geladen, Kinder- und Erwachsenentheater
       veranstaltet, so kapselte sie sich im Laufe der 1980er Jahre zunehmend ab,
       was den Nimbus der Sekte noch potenzierte.
       
       Die Abschaffung des Privateigentums ließ sich nicht mehr durchhalten, die
       freie Liebe verlor in Zeiten von Aids endgültig ihre Anziehungskraft.
       
       Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Auflösung des Friedrichshofs mit
       dem Fall des Eisernen Vorhangs zusammenfiel.
       
       1991 wurde Muehl vor Gericht gestellt. Die Justiz warf ihm
       Sittlichkeitsdelikte, Vergewaltigung, Verstöße gegen das Suchtgiftgesetz
       und Zeugenbeeinflussung vor. Vor allem wegen Missbrauchs Minderjähriger
       wurde er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Sechseinhalb musste
       er absitzen.
       
       Dass einige seiner Opfer gegen ihn aussagten, erschütterte den Guru
       zunächst: „Die Stellungnahme der Jugendlichen damals im Gerichtssaal machte
       mich fassungslos. Ich wollte sie befreien und habe sie mit sexueller
       Überschreitung stattdessen überrumpelt und gekränkt.“ Den Unrechtsgehalt
       seiner Taten wollte er aber auch Jahre später nicht verstehen. „Warum
       sollte der Staat vorschreiben, ab wann man Sex haben darf?“, gab er in
       einem Interview mit der FAZ im Jahr 2004 zu Protokoll.
       
       ## Kunst aus dem Gefängnis
       
       Die Jahre im Gefängnis hat er weniger als Läuterung denn als Impuls für
       sein künstlerisches Schaffen verstanden. So resümierte er nach seiner
       Entlassung: „Die ganze Haft genommen muß ich sagen: positiv. Es hat mich
       echt weitergebracht. Ich habe mich als Künstler verwirklichen können, wie
       ich es draußen nie können hätte. Und der Druck der Justiz hat mich förmlich
       gezwungen dazu.“
       
       Die Haft war zweifellos eine produktive Zeit, aus der zahlreiche Gemälde
       stammen. „Erst in der Haft“, so Muehl im Katalog zu einer Ausstellung im
       Wiener Museum für Angewandte Kunst (MAK) im Jahr 2004, „habe ich mich
       wieder auf den Aktionismus besonnen, die Justiz zwang mich dazu.“ Die
       Retrospektive im MAK hatte nicht den gewünschten Effekt der künstlerischen
       Rehabilitierung. Denn mehrere Missbrauchsopfer nahmen sie zum Anlass, um
       ihre Geschichte zu erzählen. Öffentlich entschuldigt hat sich Muehl bei
       seinen Opfern erst 2010 in einem offenen Brief anlässlich einer Ausstellung
       im Wiener Leopold Museum.
       
       ## Wiener Schnitzel mit Farbe und Ironie
       
       Über Muehls künstlerische Bedeutung sind die Meinungen geteilt. Manche
       stoßen sich an den explizit sexuellen Darstellungen oder den
       frauenverachtenden Perspektiven. „Otto Muehl panierte weibliche Gesäße wie
       Wiener Schnitzel, überschüttete nackte Körper mit Farbe und Essen – er
       schockierte, und das war damals noch möglich, mit Witz und Ironie“,
       erinnerte man sich im ORF-Hörfunk. Muehl nahm Anleihen bei Picasso und van
       Gogh, bei den Expressionisten und der Art Brut. In Erinnerung bleiben wird
       wohl am ehesten die aktionistische Zeit.
       
       Bald nach seiner Haftentlassung übersiedelte Otto Muehl an die
       portugiesische Algarve, wo er mit einigen befreundeten Familien eine neue,
       aber bedeutend zahmere „Art & Life Family“-Kommune gründete. Der an
       Parkinson leidende Künstler und Aktionist hatte sich in den letzten Jahren
       bereits rar gemacht.
       
       Für den Filmemacher Paul-Julien Robert war die schwierigste Szene die, „wo
       meine Mutter und mein Vater darüber reden, dass sie sich keine
       Schuldgefühle machen“, so der Künster in einem Interview mit der
       Tageszeitung Kurier: „Weil ich sie selbst nie nach Schuld gefragt habe, und
       weil ich ihnen keine Vorwürfe machen wollte. Aber dann fangen sie von sich
       aus plötzlich an, davon zu reden, was für mich fast unangenehm war, weil es
       sie ganz klar so stark beschäftigt – auch wenn sie sagen, sie machen sich
       keine Vorwürfe. Offensichtlich ist die Schuldfrage eben doch noch nicht
       ganz geklärt.“
       
       27 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Leonhard
       
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