# taz.de -- Kolumne Blicke: Das große Gähnen
       
       > Das unbekümmerte Maulaufreißen ist ein Mittelklasseding von Menschen
       > unter 50. Und weit und breit keine Hand vorm Mund.
       
 (IMG) Bild: Auch das Haustier von Ambros Waibel ist müde.
       
       Es ist ziemlich genau ein Jahr her – da sah ich es zum ersten Mal. In
       Gluthitze waren wir zum Münchner Hauptbahnhof gehetzt, um dem Zug nach
       Rosenheim dann doch nur auf den Hintern schauen zu können. Wie uns ging es
       anscheinend vielen, denn am Gleis 11 bildete sich eine Agglomeration
       zumeist jugendlicher Backpacker, insbesondere eine Traube von
       Backpackerinnen US-amerikanischer Herkunft.
       
       Und während die Kinder sich ein Warteeis holten und mich das süße
       Gezwitscher mit all den „It’s like“ und „You know“ beinahe auf den
       Wanderrucksäcken sanft entschlummern ließ – da sah ich es: das große, um
       jede Verletzung der Intimsphäre unbekümmerte Gähnen, ein Maulaufsperren,
       das einen Double Cheese wegen Minderwertigkeitskomplexen zum
       Burger-Therapeuten getrieben hätte. Und weit und breit keine Hand vorm
       Mund.
       
       Don’t be afraid: Es kommt nun nicht die gut deutsche Kritik der
       Yankee-Unkultur, passend zum Obama-Besuch; aber ich muss sagen: Seit ich in
       die rosa Rachen dieser amerikanischen jungen Damen geblickt habe, ist meine
       Weltsicht eine andere geworden. Ich scanne es überall, das unbekümmerte
       Aufreißen. Und je mehr ich davon erhasche, desto weniger gelingt es mir,
       mich von ihm zu lösen.
       
       Das Phänomen betrifft Mann und Frau, sozial und nach Generationen ist es
       allerdings differenziert: Das große Gähnen, weiß ich nach 12 Monaten
       Feldforschung, ist ein Mittelklasseding von Menschen unter 50. Es betrifft
       bleiche Angestellte in Billiganzügen wie leger-kostbar gekleidete Manager,
       Sommertouristinnen, die apricotfarbene Tops zu cremefarbigen Shorts tragen,
       es grassiert unter Hipstern mit engen Hosen wie unter aufgetoasteten
       Tussen.
       
       ## Ich bin sehr müde
       
       Es starkgähnen die Zuvielbeschäftigten und Erlebnishungrigen, es zeigen
       ihre mandelbestückten oder beschnittenen Schlünde all jene, die immer
       arbeiten müssen und doch nicht auf die geile Party verzichten mögen, die,
       denen ein Urlaub keine Erholung, sondern nur ein Mehr und Immermehr sein
       kann, ganz wie dem „Kleinen Häwelmann“ von Theodor Storm seine nächtliche
       Fahrt unter Vater Mond.
       
       Das große Gähnen ist das Zeichen der chronischen Überforderung und der
       kindlich-trotzigen Abwehr derselben. Es ist das popularisierte „Schlafen
       kann ich, wenn ich tot bin“ von Rainer Werner Fassbinder. Es ist das, wo
       man hineinsehen muss, wenn jeder ein Künstler, jeder seines Glückes Schmied
       zu sein hat. Das überlastete Individuum, es wehrt sich wie ein Löwenvater,
       es droht mit diesem Gähnen. Es reißt das Maul auf, weil es nichts zu sagen
       hat. In der Mitte der Gesellschaft gähnt ein Abgrund, es sind Zombies auf
       den Straßen, die nicht mehr schlafen wollen, weil sie Angst vor ihren
       Träumen haben.
       
       Die Gähner zeigen der Gesellschaft ihr Zäpfchen, wie sie ihr eine Achtel
       Generation früher die Arschritze gezeigt haben. Sie gähnen und gähnen, und
       wenn sie damit fertig sind, dann schütteln sie sich und machen weiter, als
       hätten sie kein Loch im Kopf, mit ihren schwachsinnigen Jobs, ihren
       grauenhaften Vergnügungen und blinden Sightseeingtouren!
       
       Und ja, ich gehe jetzt schnell in den Urlaub. Ich bin nämlich sehr müde.
       
       21 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ambros Waibel
       
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