# taz.de -- Adorno-Vorlesung 2013: Hilf, Hegel, hilf
       
       > Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke verabschiedet in
       > Frankfurt wieder einmal die großen Erzählungen. Der Ertrag seiner Worte
       > ist bescheiden.
       
 (IMG) Bild: Ist heute selbst Geschichte: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831).
       
       Die vom Frankfurter Institut für Sozialforschung und vom Suhrkamp Verlag
       organisierten [1][Adorno-Vorlesungen] widmen sich nicht der
       affirmativ-schulbildenden Adorno-Exegese, sondern sollen die kritische
       Auseinandersetzung mit Adorno fördern. In dieser Hinsicht ist die Wahl des
       diesjährigen Referenten – des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Albrecht
       Koschorke – kein Glücksfall.
       
       Er las zwar als Student eifrig, aber so ergeben-kritiklos Adorno, dass er
       heute einem Satz Adornos wie dem folgenden gar nichts mehr abgewinnen kann:
       „Etwas erzählen heißt ja: etwas Besonderes zu sagen haben, und gerade das
       wird von der verwalteten Welt, von Standardisierung und Immergleichheit
       verhindert.“
       
       Koschorke hält das für vorgestrig und stimmt halbwegs wieder einmal
       Lyotards gestrigem Abschiedslied auf die „großen Erzählungen“ zu, obwohl er
       einräumt, dass die Postmoderne der von ihr wortreich abgemeierten Moderne
       ebenso verbunden bleibe wie „wir“ den Diagnosen Hegels, dem ersten
       Theoretiker der Moderne und deren Grundlagen: Subjektivität, Freiheit,
       Eigentum, Recht, Arbeit, Kritik und Öffentlichkeit.
       
       Davon ist in der erzähltheoretischen Zurüstung Hegels durch Koschorke
       allerdings nicht die Rede, dafür von allerlei Desillusionierungsnarrativen,
       wie man in dessen Sprachgestus wohl sagt. Hegel, der aufs Ganze ging und
       eine Totalisierung des Wissens anstrebte, verfolgte nach Koschorke eine
       Doppelstrategie: Er verwarf altes Wissen, theologische Bestände und
       traditionelle Vorstellungen vom Geschichtsverlauf. Im nächsten Schritt
       zögerte Hegel jedoch nicht, Teile des eben Verworfenen in sein „System der
       Entwicklung“ (Hegel) einzubauen.
       
       ## „Hieroglyphe der Vernunft“
       
       So verwarf er die theologisch inspirierte Vorstellung vom Endzweck der
       Geschichte und im nächsten Abschnitt bestand er darauf, dass das
       vernünftige Ziel der Geschichte dieser – von Anfang an! – „notwendig“
       eingeschrieben sei: „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch
       vernünftig an.“ So lässt Hegel Zufälle, Unfälle und Eigengesetzlichkeiten
       im Geschichtsverlauf verschwinden und begründet dessen innere Notwendigkeit
       mit einer Konsequenz, die manchmal ans Lächerliche grenzt oder in reiner
       Ironie endet: Der Staat – so Hegel – sei eine „Hieroglyphe der Vernunft“,
       oder: „der Monarch“ habe „oft nicht mehr zu tun, als seinen Namen zu
       unterschreiben“. Sehen so „philosophische Zwangssysteme“ aus, wie Koschorke
       meint?
       
       Er legt sich Hegel mit dem Hinweis zurecht, alle Großerzählungen seien
       „überdeterminiert“ und daher für alles offen – auch für das „semantische
       Manöver“ (Koschorke), mit dem sich Hegel vor den Herrschenden verbeuge und
       zugleich Einsprüche Widersprechender aus dem narrativ erzeugten „Wir“ der
       Erzählgemeinschaft von „Christen“, „Protestanten“, „Deutschen“, „Europäern“
       und „Männern“ ausschließe.
       
       In Koschorkes erzähltheoretischem Kondensat erscheinen Hegels Werk als
       „Beamtenphilosophie“, ausgeheckt im Rücken der Stein-Hardenberg’schen
       Reformen, und seine Vorlesungen als Gottesdienste zum Lob Preußens. Dieser
       Verdacht entstand schon unmittelbar nach Hegels Tod (1831).
       
       Der Ertrag von Koschorkes Reformulierung der Hegel’schen
       Geschichtsphilosophie im Laufgitter der Erzähltheorie bleibt bescheiden.
       Dass jede Geschichte einen Anfang hat und damit zwangsläufig eine Nicht-
       oder Vorgeschichte produziert, die gegen die erzählte Geschichte
       abgedichtet wird, ist logisch und trivial.
       
       ## Narrative Verfasstheit der Gegegnwart
       
       Als interdisziplinäre Querschnittstheorie beansprucht die Erzähltheorie –
       ähnlich wie Hegels „absoluter Geist“ – einen Sonderstatus oberhalb der
       profanen Wissenspartikel der Fachwissenschaft. Das impliziert nebenher den
       Widerspruch, Hegel für etwas zu kritisieren, was man gerade selbst tut.
       
       Koschorkes Antwort auf die Frage nach der narrativen Verfasstheit der
       Gegenwart franste aus in einen grobschlächtigen Vergleich von Hegels
       Preußen mit der heutigen EU. Die behauptete Differenz – epenfähiger,
       heroisch-nationaler Charakter dort, episodenhafter,
       postheroisch-postnationaler hier – hätte Hegel eine „begriffslose
       Abstraktion“ genannt. Sie weckt Zweifel daran, ob Erzähltheorie als Basis
       der Zeitdiagnose taugt.
       
       1 Jul 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.ifs.uni-frankfurt.de/doc/adorno_vl.htm
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolf Walther
       
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