# taz.de -- Konkrete Kunst aus Lateinamerika: Die Erzählung einer anderen Moderne
       
       > Transkontinentaler Kulturaustausch in Zeiten knapper Kassen: Das Museum
       > Reina Sofía in Madrid zeigt konkrete Kunst aus Lateinamerika.
       
 (IMG) Bild: Museumsdirektor Manuel Borja-Villel schätzt die Gegensätze der Reina Sofia.
       
       Bei konstant hochsommerlichen Temperaturen um die 38 Grad flüchten sich die
       Besucher Madrids gerne in den überdachten Innenhof des Museo Nacional
       Centro de Arte Reina Sofía.
       
       Vielleicht ist es auch die Salvador-Dalí-Retrospektive, der obligate
       Museums-Blockbuster, der die Publikumsmassen aktuell dorthin lockt. Das
       ehemalige Hospital aus dem 18. Jahrhundert wurde in den neunziger Jahren
       durch einen Neubau des französischen Architekten Jean Nouvel ergänzt und
       beherbergt seitdem neben einer umfangreichen Kollektion außergewöhnlicher
       Werke des 20. Jahrhunderts wie Picassos „Guernica“-Gemälde auch Bibliothek,
       Café, Buchhandlung, zwei Auditorien und temporäre Ausstellungen.
       
       Doch trotz der Massivität des Komplexes schätzt Manuel Borja-Villel, der
       Direktor des Museums, die sichtbaren Gegensätze der Architektur: „Diese
       beiden Gebäude zusammen mit den zwei Dependancen Palacio de Cristal und
       Palacio de Velazquez im Retiro-Park ergeben eine widersprüchliche Struktur
       und funktionieren wie eine Stadt, die ganz unterschiedliche Dinge
       gleichzeitig ermöglicht. Es gab auch schon gleichzeitig oben einen
       Queer-Workshop und unten eine offiziöse Ausstellungseröffnung.“
       
       ## Produktive Widersprüche des Nationalmuseums
       
       Als einen weiteren produktiven Widerspruch des Nationalmuseums bezeichnet
       Borja-Villel das Anliegen der Institution, die Geschichte des 20.
       Jahrhunderts ohne Hierarchien zwischen Kunstwerk und Dokument
       disziplinübergreifend zu erzählen. Die Sammlung soll die Geschichte
       Spaniens nicht als nationale, sondern als lokale reflektieren, um den Blick
       auf die Welt und zugleich von außen auf Spanien zu richten.
       
       So entwickelte sich das Madrider Museum in den letzten Jahren zu einem in
       Europa seltenen Ort, an dem der zeitgenössischen Kunst aus Lateinamerika
       Raum gegeben und der Austausch mit verschiedenen künstlerischen Szenen in
       Südamerika gepflegt wurde. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise in
       Spanien könnten solche Projekte jedoch in Zukunft gefährdet sein.
       
       In jedem Fall drängt die dramatische ökonomische Situation, so der Direktor
       des Museums, auch kulturell zu einem überfälligen Paradigmenwechsel.
       „Sowohl ökonomisch als auch kulturell wurde in Spanien in den letzten
       Jahren eine Politik der Ziegelsteine betrieben, in der die Bedeutung der
       Gebäude höher geschätzt wurde als ihr Inhalt.“
       
       ## Konkurrierende Zentren
       
       Statt weiter an der Vorstellung von Zentrum und Peripherie festzuhalten,
       votiert Borja-Villel dafür, globale Zusammenhänge vom Lokalen aus zu denken
       und die Möglichkeit verschiedener, konkurrierender Zentren in Erwägung zu
       ziehen: „Zurzeit zeigen wir beispielsweise lateinamerikanische Kunstwerke
       der Sammlung Cisneros, die von Teilen dieser Moderne sprechen. Und man
       begreift sofort, dass es sich nicht um eine periphere, in Beziehung zu
       Europa stehende Moderne handelt, auch wenn darin europäische Einflüsse
       enthalten sind. Es ist einfach eine andere Moderne und ein weiteres
       Zentrum.“
       
       So stellt „La invención concreta. La Colección Patricia Phelps de Cisneros“
       („Die konkrete Erfindung. Die Sammlung Patricia Phelps de Cisneros“)
       bedeutende Arbeiten abstrakter Kunst aus den lateinamerikanischen
       Metropolen Montevideo, Buenos Aires, São Paulo, Rio de Janeiro und Caracas
       vor.
       
       Dort entwickelte sich zwischen den 1930er und 1970er Jahren die Formsprache
       geometrischer Abstraktion zu einem künstlerischen und politischen Ausdruck
       neuer gesellschaftlicher Visionen. Um einen exotischen Blick auf die
       Arbeiten zu vermeiden, haben die Kuratoren Gabriel Pérez Barreiro, Leiter
       der Sammlung Cisneros, und Manuel Borja-Villel Werke von Max Bill, Josef
       Albers und Pol Bury integriert.
       
       ## "Kritik an Mondrian"
       
       „In dieser Sammlung gibt es Arbeiten von Jesús Soto oder Hélio Oiticica,
       auch einen Piet Mondrian, sogar ein Gemälde Lygia Clarks, das als eine
       Kritik an Mondrian, nicht weit genug gegangen zu sein, gelesen werden kann.
       Man bemerkt sofort, dass den lateinamerikanischen Künstlern nichts
       Exotisches anhaftet.“
       
       In den elf Ausstellungsräumen gruppieren sich um die 200 Objekte,
       Skulpturen, Gemälde und Zeichnungen nach ihren ästhetischen
       Verwandtschaften und lassen dabei Chronologie und Herkunft außer Acht.
       Lygia Pape, GEGO (Gertrud Goldschmidt), Carlos Cruz-Díez, Gyula Kosice,
       Mira Schendel, Joaquin Torres-García oder Franz Weismann sind nur einige
       der insgesamt 32 renommierten Künstler.
       
       Die Stiftung Patricia Phelps de Cisneros, die ihren Sitz in New York und
       Caracas hat, gehört zu den einflussreichsten Sammlungen zeitgenössischer
       lateinamerikanischer Kunst. Zahlreiche der in Madrid ausgestellten Arbeiten
       sind dem New Yorker Museum of Modern Art als Schenkung überlassen, viele
       werden nun erstmals in Europa gezeigt.
       
       ## Ein willkommenes Arrangement
       
       Inzwischen wurde für die kommenden vier Jahre eine Zusammenarbeit zwischen
       dem Museo Reina Sofía und der Patricia Phelps de Cisneros Collection
       vereinbart – für die spanische Institution in Zeiten knapper Kassen sicher
       ein willkommenes Arrangement, das aber auch von anderen internationalen
       Häusern wie der Tate Modern Gallery oder dem MoMa längst praktiziert wird.
       
       Anlässlich der Ausstellung „La invención concreta“ fand im Juli im Museo
       Reina Sofía der internationale Kongress „Diskurse der Avantgarde in
       Lateinamerika und Spanien“ unter Mitwirkung der Stiftung Cisneros statt.
       Auf die Frage nach dem relativ neuen Interesse der Forschung an der
       lateinamerikanischen Moderne erklärt Borja-Villel dies einerseits mit dem
       ständigen Drängen US-amerikanischer und europäischer Kunstmärkte, neue
       Territorien zu erobern.
       
       „Zugleich ist diese Suche nach anderen Formen künstlerischer und
       politischer Expression aber auch eine Antwort auf eine globalisierte Welt,
       die nicht mehr nur von einem Standort aus betrachtet und verstanden werden
       kann.“ Die Teilnehmer dieses mehrtägigen Treffens, an dem zum Teil sehr
       detailreich einzelne Forschungsprojekte zur „Avantgardebewegungen in
       Lateinamerika zwischen 1920 und 1970“ vorgestellt wurden, waren sich dieser
       Ambivalenz bewusst.
       
       ## Aufwertung und Wertsteigerung des künstlerischen Erbes
       
       Während Pérez-Barreiro, der Leiter der Sammlung Cisneros, daran erinnerte,
       dass die Idee einer ’lateinamerikanischen Kunst‘ zunächst außerhalb
       Lateinamerikas entstanden ist – in Zeiten des Kalten Krieges und einer
       US-Politik der guten Nachbarschaft –, merkte Michael Asbury vom Londoner
       Research Center for Transnational Art, Identity and Nation an, dass die
       eigene professionelle Beschäftigung zu einer Aufwertung und Wertsteigerung
       des künstlerischen Erbes beitrage.
       
       Am Beispiel des argentinischen Malers Antonio Berni versuchte die
       argentinische Kunsthistorikerin Andrea Giunta in ihrem Vortrag aufzuzeigen,
       wie entscheidend es ist, eine andere Geschichte zu erzählen und, ausgehend
       von dem (lokalen) Werk, ein eigenes kulturelles Repertoire zu entwickeln,
       das zu keinem anderen geopolitischen Zentrum gehört.
       
       In diesem Zusammenhang sorgte auch die geringe Beteiligung
       südamerikanischer Kuratoren und Kunsthistoriker am Kongress für Unmut,
       wurde sie doch angesichts der starken Präsenz US-amerikanischer Beiträge
       umso sichtbarer. Zentrum oder Peripherie? Auch hier hatte sich die Frage
       noch nicht erledigt.
       
       Die Teilnahme der Autorin am Kongress in Madrid wurde ermöglicht durch das
       Programm „Recherchereisen für Kuratoren“ des Goethe-Instituts.
       
       12 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva-Christina Meier
       
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