# taz.de -- Leben auf der Straße: Nachschub bei Peggy
       
       > Julian ist drogenabhängig. Er ist froh, das Geld dafür selbst zu
       > verdienen – mit dem Verkauf von Straßenmagazinen. Die Konkurrenz ist
       > groß.
       
 (IMG) Bild: Um über die Runden zu kommen, müssen Julian und sein Freund Till täglich 100 Euro durch Zeitungsverkauf verdienen
       
       BERLIN taz | Niemand schläft in dem Wohnwagen, der seit fast zwanzig Jahren
       am Nollendorfplatz in Berlin steht. Drei Vorhängeschlösser versperren Nacht
       für Nacht die kleine graue Tür. Obwohl die Leute, die tagsüber regelmäßig
       ihren Kopf in den verrauchten Innenraum stecken, nichts mehr bräuchten als
       ein Dach über dem Kopf.
       
       Das, was sich im Inneren des Wagens befindet, hat mehr als einen
       materiellen Wert: tausend Exemplare der aktuellen [1][motz]. Der beige
       Wagen im Westen Berlins ist eine Verteilerstelle der Straßenzeitung. Arme
       und noch Ärmere können hier für 40 Cent pro Exemplar einen Job, einen
       geregelten Alltag und ein bisschen Respekt kaufen.
       
       Tagsüber wacht Peggy Kaufmann über den Wagen. „Ick bin hier eigentlich
       allet: Sozialpädagoge, Krankenschwester, Seelsorger und Verteiler, aber
       ditte am wenigsten.“ Sie lacht. Ihr breiter, schwerer Körper wackelt.
       Früher hat sie ehrenamtlich für den motz-Verein gearbeitet, jetzt sitzt die
       gelernte Sozialpädagogin seit fünf Jahren als Angestellte auf der orangen
       Couch gegenüber der Wohnwagentür.
       
       Links von ihr stapeln sich 910 Zeitungen bis zur Wohnwagendecke, rechts in
       greifbarer Nähe liegt ein kleinerer Stapel, schön in Zehnerpacken sortiert.
       Ihr wacher Blick geht durch die Tür auf Nolle 7, die Bar, in der das Bier
       so viel kostet wie die motz für U-Bahn-Fahrer: 1,20 Euro.
       
       Peggy kennt jeden ihre Kunden, sorgt sich um jeden, und vor allem sorgt
       sich jeder um sie: Miss Piggy und Schneck Peg sind ihre Spitznamen unter
       den Wohnungslosen. Joscha*, sein halbes Leben schon obdachlos, massiert
       Peggys angeschwollene Beine. Olli, der einzige motz-Verkäufer, der außer
       Alkohol keine anderen Drogen konsumiert, kauft ihr täglich eine chinesische
       Suppe – ihre einzige Sucht. Peggy hat eine kleine Altbauwohnung mit
       Gartenanteil, einen blauen Kia Galaxy und einen Freund zu Hause, das weiß
       aber auf Arbeit niemand. Ihre Kunden haben keine Wohnung, kein Geld für ein
       U-Bahn-Ticket und oft nicht einmal lose Freundschaften.
       
       ## Jeder kann hier landen
       
       Nach Peggys Erfahrungen kann eigentlich jeder hier landen, sie hat viel
       gesehen und noch mehr gehört: Michael, ehemaliger Hotelmanager, hat erst
       seinen Sohn verloren, danach seine Frau und dann seinen Job. Jetzt steht er
       tagsüber am Savignyplatz, und nachts schläft er dort, wo er tagsüber die
       Zeitung verkauft. Tom und Sabrina verkaufen nur zu zweit in der U-Bahn. Sie
       haben vor, sich freiwillig der Polizei zu stellen, „um über den Herbst
       einzusitzen“: 2.400 Euro Schulden bei den Berliner Verkehrsbetrieben,
       ungefähr acht Monate Gefängnis. Till, 25, sollte Vater werden. Seit zehn
       Jahren ist er heroinabhängig und deshalb eigentlich nicht zeugungsfähig.
       Trotzdem ist seine Freundin Louise, die nur ab und zu mal kifft, von ihm
       schwanger geworden.
       
       Studien belegen, was Peggy sagt: Obdachlos zu werden geht oft ziemlich
       schnell und kann fast jeden treffen: Frau weg, zu viel Alkohol, Job weg.
       Meist sind es nur drei Schicksalsschläge, die dazu führen, ein Zelt auf
       einer geschützten Grünfläche aufzuschlagen und sich auf einer öffentlichen
       Toilette zu rasieren. Manchmal reicht auch weniger, die falsche Mutter,
       falsche Freunde, keine Hilfe. In Deutschland leben laut Schätzungen der
       [2][Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V.] 280.000 Menschen
       ohne Wohnung. Seit 2008 steigen die Zahlen massiv. Bis 2016 soll es fast
       380.000 Obdachlose auf Deutschlands Straßen geben.
       
       ## Jeder darf verkaufen
       
       Auch die Zahl der motz-Verkäufer steigt. Das Stück Wiese vor dem Zaun, über
       den alle steigen, wenn sie am Nollendorfplatz die Zeitung abholen und nicht
       den Umweg über die Ampel nehmen wollen, ist schon ganz abgetreten.
       Zwangsgeräumte, Hartz IV- Empfänger und Zugewanderte gesellen sich zu
       denjenigen, die das Klischee des Wohnungslosen ausmachen: jung, männlich,
       drogensüchtig.
       
       „Wir unterscheiden nicht zwischen Armen und noch Ärmeren“, meint
       Gründervater und aktueller Chefredakteur der motz, Christian Linde. Im
       zweiwöchigen Turnus und mithilfe von sesshaften und wohnungslosen Autoren
       produziert er eine Zeitung, die immer auch Themen der Betroffenen
       behandelt. „Diese Woche haben sie einen Artikel über einen motz-Verkäufer
       gedruckt, der ein Handy in einem Restaurant geklaut hat.
       
       So was ist schlimm. Schließlich muss ich die Zeitung verkaufen, in der wir
       Verkäufer bloßgestellt werden.“ Till ist mit seinem besten Freund Julian
       einer derjenigen, die die Funktion der Zeitung finanziell und strukturell
       effektiv umsetzen: Sie nutzen das niedrigschwellige Angebot der motz, um
       mit dem täglichen Verkauf ein selbst verantwortliches und geregeltes Leben
       führen zu können.
       
       Julian und Till arbeiten jeden Tag zwölf Stunden außer sonntags. Zweimal am
       Tag, morgens und abends, essen sie, manchmal bei McDonald’s. Dreimal am Tag
       holt Till Zeitungen bei Peggy. Und viermal am Tag müssen sie Heroin
       spritzen. Sie übernachten gemeinsam, teilen ihr Geld, und wenn einer krank
       ist, arbeitet der andere für zwei.
       
       Eigentlich hätten sich die beiden wohl nie kennengelernt. Till, Sohn eines
       Alkoholikers, aufgewachsen in einem Kinderheim; Julian, Sohn eines
       Polizisten, aufgewachsen in einer behüteten Familie in Brandenburg. Till
       hat die Ausbildung zum Elektroinstallateur in einer Thüringer
       Justizvollzugsanstalt (JVA) gemacht, während Julian sein Abitur in Potsdam
       bestritt. Abschlussnote: 1,5. Das war 2006.
       
       ## Mittlerer Eingang, S-Bahn-Linie 1
       
       Damals hätte Julian sich nie träumen lassen, dass er irgendwann einmal dort
       ankommt, wo er heute steht: 23 Kilo Zuhause auf dem Rücken, eine
       motz-Ausgabe in die Luft haltend, mittlerer Eingang, S-Bahn Linie 1. „Einen
       schönen guten Tag wünsche ich, höflicherweise möchte ich mich kurz
       vorstellen.“ Es piept, die S-Bahn-Tür geht zu, Julian macht eine Pause und
       spricht dann mit lauter, tiefer Stimme weiter: „Ich heiße Julian und bin
       einer der zahlreichen Obdachlosen in Berlin.
       
       Dank Ihrer Hilfe ist es mir möglich, über den Verkauf der motz meinen
       Lebensunterhalt auf ehrliche Art und Weise zu verdienen.“ Ungewaschen läuft
       er durch den Gang. Braune längere Haare, löchrige Jeans, ein fleckiger
       Kapuzenpulli. So ist er, aus eigener Erfahrung, der Verkäufer schlechthin.
       „Am Anfang habe ich mich gewaschen, den Bart rasiert, frische Kleidung
       angezogen. Da haben mir die Leute vorgeworfen, ich lüge, ich sei doch gar
       kein Obdachloser.“
       
       7 Euro kostet eine Dusche am Berliner Bahnhof Zoo. Um ab und zu mal
       Bockwurst und ein Schokoeis essen zu können, um die motz- Exemplare für den
       nächsten Tag zu kaufen und um keine Entzugserscheinungen zu haben, müssen
       Julian und Till ungefähr 100 Euro am Tag verdienen. Montag, 1. Juli: 67,55
       Euro. So steht es in kleinen Ziffern in Julians Notizheft, in das er fein
       säuberlich alle Einkünfte und Ausgaben einträgt. Seit dem ersten Tag seiner
       Obdachlosigkeit vor einem Jahr.
       
       Seit dem Tag, an dem er aus dem Gefängnis kam, an dem er durch Zufall Till
       kennengelernt hat, an dem er „in sein neues Leben“ startete. Das Leben, das
       er sich so anders vorgestellt hatte: Erst arbeiten und dann Jura studieren
       war sein Plan. Einen Job hatte er nach dem Schulabschluss sofort gefunden:
       in Bayern, als Garten- und Landschaftsbauer. Von dort wurde er nach
       Amsterdam versetzt und hatte damals schon, mit Auslandszuschlag, 2.500 Euro
       netto in der Tasche. Warum er angefangen hat mit Drogen zu dealen, kann er
       sich auch nicht mehr erklären. Was er wusste, war, dass die Haftstrafe
       seinen Traum vom Jurastudium beenden würde.
       
       Hartz IV zu beantragen wäre für Julian wahrscheinlich ein Klacks. Aber für
       ihn „ist es schlimm genug, dass es solche wie uns gibt“. Das meint er so,
       wie er es sagt. Er ist nicht stolz darauf, drogenabhängig zu sein, aber
       froh, wenigstens das Geld dafür selbst zu verdienen. Zweimal haben Till und
       Julian versucht, das Heroin abzusetzen. Gleichzeitig haben sie eine Wohnung
       beantragt. Die erste war 5 Meter zu groß, die zweite 18 Euro zu teuer,
       beide Anträge wurden abgelehnt. „Wenn du auf der Straße bist und ohne
       Perspektive, ist es unglaublich schwer, clean zu bleiben“, sagt Till.
       
       ## Peggy verdient weniger
       
       Im Gegensatz zu Julian hatte Till eine Perspektive. Seine Freundin war
       schwanger. Mit Kind hätte er sofort eine Wohnung gekriegt und für das Kind
       den kalten Entzug durchgestanden. Drei Tage vor Ende der legalen
       Abbruchzeit hat Louise das Kind doch noch abgetrieben. Tills
       Facebook-Freunde hatten sowieso eine gespaltene Meinung zur Vaterschaft,
       Peggy auch, obwohl sie denkt, dass Till „een richtig juter Junge ist“. Till
       war das egal. In Louises Bauch wuchs seine Hoffnung auf eine andere
       Zukunft.
       
       „Eigentlich müssten die Jungs für mich anschaffen gehen“, meint Peggy. Sie
       sitzt für 5 Euro die Stunde dreimal die Woche im Waggon am Nollendorfplatz.
       Für das Geld würde Till nicht arbeiten – zumindest nicht in seinem
       gelernten Beruf. Peggy eigentlich auch nicht – „wenn ick nur die meisten
       hier nich so gern hätte“. Um halb acht schließt sie drei Schlösser der
       Wohnwagentür ab. Olli trägt ihre voll gestopfte Handtasche über den
       Parkplatz zum Auto, weil Peggy etwas an den Bandscheiben hat. Er legt die
       Tasche auf den Beifahrersitz und dreht sich um, läuft am Wohnwagen vorbei
       und verschwindet über den Zaun. Wo er heute Nacht schläft, weiß Peggy
       nicht. Ihr gemeinsames Leben fängt erst morgen wieder an.
       
       *Die Namen aller Wohnungslosen wurden geändert.
       
       8 Aug 2013
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] http://www.bagw.de/index2.html
       
       ## AUTOREN
       
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