# taz.de -- Kolumne Schlagloch: Mein Garten in Venedig
       
       > Selbsterhaltung durch Expansion lautet die Formel westlicher Existenz
       > oder wie ich zur Sehenswürdigkeit wurde – am Canal Grande.
       
 (IMG) Bild: Urlaub ist die temporär suspendierte Anwesenheitspflicht im eigenen Leben, Schreiben auch.
       
       Natürlich habe ich die Wohnung genommen. Nicht nur, sagte die Agentur, dass
       sie sehr schön sei, ganz neu gemacht, sondern sie besitze auch, was es in
       Venedig eigentlich gar nicht gäbe, einen eigenen Garten.
       
       Schreiben im eigenen Garten mit Blick auf einen kleinen Kanal, nur ein paar
       Schritte weit vom großen Canal Grande: Was für eine Möglichkeit des
       Aus-der-Welt-Seins! Was wir Sommer, Urlaub nennen, ist eine Art von
       temporär suspendierter Anwesenheitsspflicht im eigenen Leben.
       
       Das Schreiben ist es letztlich auch, und hier ließe sich sogar beides
       verbinden: Das kaum begonnene Afrika-Buch würde sich ganz von allein
       schreiben, während ich Urlaub mache. Natürlich habe ich die Wohnung
       genommen. Und dann geschah es.
       
       ## Ich als Sehenswürdigkeit
       
       Meistens schaue ich erst hoch, wenn ich das Geräusch des Auslösers höre.
       Auf der kleinen Brücke nebenan stehen die Venedig-Touristen und
       fotografieren mich, wie sie die Rialto-Brücke oder die alten, zerbröselnden
       Palazzi fotografieren. Ich bin zu einer Sehenswürdigkeit geworden. Aber
       warum? Und warum empört mich das?
       
       Manche nicken mir zu, wenn ich sie bemerkt habe, manche rufen auch ein
       „What a nice office!“ herüber oder wollen wissen, wo sie hier eigentlich
       sind, denn wen sollten sie sonst fragen als eine richtige Venezianerin, es
       gäbe ja nur noch Touristen in der Stadt. Aber die meisten gehen einfach
       weiter. Ich bin also ein bloßes – Objekt?
       
       Objekt ist, wer dem Blick, der auf ihn gerichtet wird, nicht antworten
       kann, und von dem das, schlimmer noch, auch nicht erwartet wird. Ich bin
       demnach eine Naturtatsache, wie diese Stadtlandschaft auch, mehr zu ihr
       gehörend als zu denen da auf der Brücke Ponte Michiel. So ungefähr,
       überlege ich, nahm auch der koloniale Blick die Landeskinder Afrikas wahr,
       als er begann, den Kontinent unter sich aufzuteilen. Als ein kurioses Stück
       Natur, vor allem aber: als ein Stück Natur.
       
       Am 6. Oktober 1889 bestieg der Leipziger Buchhändler Hans Meyer als erster
       Mensch den Kilimandscharo. Auf seinem Hauptgipfel rief er dreimal Hurra!
       und hisste die deutsche Flagge. Er nannte ihn Kaiser-Wilhelm-Spitze. Unser
       größter Berg ist 6.010 Meter hoch, erklärten die Lehrer in einem fernen
       Land fortan ihren Schülern. Das Land südlich des höchsten Berges Afrikas
       bis hinunter an die Seen auf der einen Seite und bis an die Küste auf der
       anderen war seit 1885 deutsches Schutzgebiet, später Kolonie.
       Hans-Meyer-Gesten kommen heute höchstens noch als Kuriosum in Betracht,
       meinen wir und wähnen uns äonenfern von denen, die damals Afrika
       kolonisierten.
       
       ## Alle Abwässer sind bei mir
       
       Da, schon wieder das Klacken des Auslösers! Ein etwas übergewichtiger
       junger Mann im weißen Hemd läuft schnell weiter, als mein tadelnder Blick
       ihn trifft. Meistens gehen die Fotografen ohnehin schnell weiter, denn es
       riecht nicht gut an meinem Kanal. Im Garten, ja, das muss man wohl sagen,
       auch nicht. Als ob alle Abwässer Venedigs sich ausgerechnet bei mir sammeln
       würden. Es gibt diesen typischen Venedig-Geruch, immer ein wenig faulig,
       immer ein wenig latrinenursprünglich, aber in meinen Garten ist es am
       schlimmsten.
       
       Eigentlich kann man hier gar nicht arbeiten, oder nur mit zugehaltener
       Nase. Ja, es ist vor allem Trotz, dass ich hartnäckig sitzen bleibe. Ich
       habe einen Garten in Venedig und soll ihn nicht nutzen können? Das wäre
       absurd. Die Luft anhalten und vorwärts! Das ist das ursprüngliche
       Glaubensbekenntnis der Lebensform, die wir noch immer westliche
       Zivilisation nennen. Es ist in der Grundschicht eine imperiale Lebensform,
       bis heute, aber eine dünne Tarnschicht liegt darüber.
       
       Ließe sich die zeitgenössische europäische Durchschnittsmoral, insofern sie
       sich von selbst versteht und die Grundlage unseres gesellschaftlichen
       Miteinanders bildet, vielleicht als eine Art von Hausgemeinschaftsethik
       fassen? Niemand erhebt einen Besitzanspruch auf die Wohnung seines
       Nachbarn! Kein Mieter darf einem anderen unter seine Befehlsgewalt zwingen!
       Alle Bewohner gelten grundsätzlich als gleich, sie haben gleiche Rechte und
       gleiche Pflichten. Und niemand fotografiert ungefragt seinen Nachbarn,
       dessen Wohnung oder seinen Garten! Das ist es. Aufgrund von Takt muss uns
       die koloniale Weltanschauung als schlechthin unverständlich und
       verurteilenswert erscheinen.
       
       ## Gedankenvoll und tatenarm
       
       Und doch hat unsere egalitäre Nachbarschaftsmoral, zur Weltsicht geweitet,
       durchaus ihre intellektuellen Grenzen. Bemerkt sie, dass dieses Venedig,
       das ihr so verzaubert vorkommt, im Grunde das steinerne Andenken der
       Unterwerfung der Welt ist, soweit sie ihm erreichbar war? Was wir
       Globalisierung nennen, begann nicht gestern, auch nicht vor einem halben
       Jahrtausend, sondern noch viel früher. Und Selbsterhaltung durch Expansion
       lautet bis heute die Formel westlicher Existenz. Wer nachdenkt, lächelt
       nicht. Vielleicht ist das falsch, ein höfliches Fotomodell lächelt.
       
       Afrika-Flüchtlinge. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren es die Europäer, sie
       flohen von Nord nach Süd, und es ging nicht primär um Unterwerfung des
       Fremden, sondern um Selbsterfindung in einem von der eigenen Herkunftswelt
       noch nicht vordefinierten Raum. Es ging nicht nur darum, die Grenzen des
       Deutschen Reichs zu verrücken, sondern zuerst die eigenen. Afrika als
       Utopie.
       
       Es waren Voltaire-Europäer, die damals kamen. Wir sind uns da längst nicht
       mehr sicher, aber ihr Glaubensbekenntnis lautete: Die wahre Schöpfung des
       Menschen war nicht am Anfang, sie wird am Ende sein! Und der Anblick nicht
       bestellten Landes war in ihren Augen Aufforderung zur Tat.
       
       Der Anblick nicht bestellten Landes? Mein Garten ist zwar groß, aber streng
       genommen ist er kein Garten, wenn man einem leicht vermüllten Brachland,
       auf dem ein Gummibaum und ein weißer Oleanderstrauch wachsen und diverse
       No-Name-Pflanzen absterben, diesen Titel nicht zugestehen will. Da sitzt
       eine inmitten einer Wüste, die ein Garten sein könnte, und merkt es nicht.
       Was für ein Sinnbild des theoretischen Weltverhältnisses! Gedankenvoll und
       tatenarm. Fotografieren sie mich deshalb?
       
       7 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kerstin Decker
       
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