# taz.de -- Erdem Gündüz über stillen Protest: „Mir geht es um Respekt“
       
       > Als „der stehende Mann“ vom Taksimplatz wurde Erdem Gündüz weltweit
       > bekannt. Er will keine Politik machen, sondern die Menschenrechte
       > stärken.
       
 (IMG) Bild: „Durch meine Aktion haben Menschen wieder etwas Hoffnung geschöpft", sagt Erdem Gündüz.
       
       taz: Herr Gündüz, als Sie nach der Räumung des Geziparks im Juni für
       mehrere Stunden regungslos auf dem Taksimplatz in Istanbul ausharrten,
       wurden Sie zur Ikone. Wie hat diese Aktion Ihr Leben verändert? 
       
       Erdem Gündüz: Ich bin danach spät in der Nacht nach Hause gegangen. Damit
       war die ganze Sache für mich zu Ende. In den folgenden Tagen habe ich von
       den Reaktionen wenig mitbekommen. Ich war nicht im Internet und mein
       Telefon war in dieser Zeit abgestellt.
       
       Haben Sie später deshalb Schwierigkeiten bekommen? 
       
       Nein. Auch wenn es in manchen Zeitungen hieß, dass ich festgenommen worden
       sei. Das stimmte nicht. Nur als ich kürzlich zur Polizei gegangen bin, um
       meinen Pass zu verlängern, der abgelaufen war, haben die Polizisten dort
       ein paar Sprüche gemacht nach dem Motto: Du bist doch ein CIA-Agent, oder?
       
       Wer hat denn dieses Gerücht in die Welt gesetzt? 
       
       Ein regierungsnaher Journalist, der später zu Erdogans Berater ernannt
       wurde, hat mich beschuldigt, ich sei ein Agent oder ein Mitglied von Otpor,
       der serbischen Bürgerbewegung, die den Sturz von Milosevic eingeleitet hat.
       Und Egemen Bagis, der Minister für Europa-Angelegenheiten, hat über Twitter
       verbreitet, ich habe vor meiner Aktion drei Tage in der deutschen Botschaft
       verbracht. Dabei bin ich dort nie gewesen.
       
       Was hat Sie zu Ihrem stillen Protest veranlasst? 
       
       An dem Montag, an dem ich mich auf den Taksimplatz gestellt habe,
       herrschten Hilflosigkeit und ein Gefühl der Niederlage. Die Polizei hatte
       damit angefangen, gezielt in Wohnungen zu gehen und Leute festzunehmen.
       Durch meine Aktion haben die Menschen wieder etwas Hoffnung geschöpft.
       
       Dass Sie sich vor das Atatürk-Kulturzentrum gestellt haben, an dem eine
       riesige Fahne mit dem Konterfei des Staatsgründers hing, gab Ihrer Aktion
       eine besondere Symbolik. Was wollten Sie damit ausdrücken? 
       
       Ich vermisse Atatürks visionäre Gedanken und das, was er dem Land gegeben
       hat. Früher als in Europa hat er das Wahlrecht und das Recht auf Bildung
       für Frauen eingeführt. Er hat in vielen Bereichen wie Kleidung und Kultur
       eine Revolution durchgeführt, um die Türkei näher an die westliche Welt zu
       führen, Klassenunterschiede zu beseitigen und Religion und Staat zu
       trennen.
       
       Atatürk war aber auch ein Diktator, der die religiöse und kulturelle
       Vielfalt seines Landes unterdrückt hat. Gerade Kurden sehen ihn deshalb
       kritisch, denn deren Sprache war jahrzehntelang verboten. 
       
       Man muss Atatürk im Licht der damaligen Zeit betrachten. Die Türkei war
       1926, als die Republik gegründet wurde, in Besatzungszonen aufgeteilt.
       Damals gab es 26 ethnische Gruppen, die verschiedene Sprachen gesprochen
       haben. Damit sich alle verständigen konnten, gab es nur einen Weg: eine
       gemeinsame Sprache. Mir geht es um Gleichheit und Respekt. Im türkischen
       Pass wird nicht zwischen Türken und Kurden unterschieden. Da steht nur:
       türkischer Staatsbürger.
       
       Auch die Soldaten, die am Atatürk-Mausoleum in Ankara Wache halten, stehen
       still da. War diese Analogie Absicht? 
       
       Die Soldaten dort stehen unter Befehl, sie müssen stramm stehen und tragen
       eine Waffe. Meine Hände waren in den Hosentaschen, und ich habe mich auch
       nicht vor ein Atatürk-Denkmal gestellt. Deshalb kann man das nicht
       vergleichen.
       
       Sie haben sich vor zehn Jahren an der Universität mal ein Kopftuch
       aufgesetzt. Warum? 
       
       Damals durften Frauen mit Kopftuch nicht an den Universitäten studieren,
       während es den Männern mit Bärten und islamischer Bekleidung erlaubt war.
       Wir wollten die Rechte der Kopftuchträgerinnen verteidigen. Aber das heißt
       nicht, dass ich der Meinung wäre, dass muslimische Frauen ihren Kopf
       bedecken sollten. Ich finde, zwischen dem Menschen und Gott sollte es keine
       Instanz geben.
       
       Damals haben Sie gegen die Diskriminierung von religiösen Studentinnen
       protestiert. Jetzt kämpfen Sie gegen die Intoleranz eines religiösen
       Regierungschefs. Ein Paradox? 
       
       In den Zeitungen, die ihm nahestehen, heißt es, dass ich mich mit meiner
       Kopftuchaktion über die Religion lustig gemacht hätte. Das ist eine Lüge.
       Ich habe auch kein Problem mit Erdogan, sondern mit dem System.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Ob Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus, Hardcore-Islamismus – all
       diese Ideologien beschneiden die persönliche Freiheit der Menschen. Dass
       die Rechte der Arbeiter beschnitten werden oder die Rechte der Frauen,
       damit habe ich ein Problem. Diese Regierung unterstützt alles, was mit dem
       sunnitischen Islam zu tun hat – und alles andere nicht. Die Türkei hat in
       wirtschaftlicher Hinsicht einen großen Sprung gemacht. Aber auf dem Gebiet
       der Menschenrechte hat sie sich nicht entsprechend weiterentwickelt.
       
       Was ist drei Monate nach den Gezipark-Protesten von der Bewegung geblieben? 
       
       Momentan herrscht dort eine Ruhe und Stille, als wäre finstere Nacht. Und
       obwohl es keine Proteste mehr gibt, geht die Repression weiter, die Leute
       werden mit juristischen Mitteln verfolgt. Im Stadtteil der Fußballfans von
       Besiktas, die sich an den Protesten beteiligt hatten, herrscht hohe
       Polizeipräsenz. Telefone werden abgehört. Druck wird ausgeübt. Diese
       Fangemeinde hat sich deshalb zurückgezogen. Es herrscht ein Regiment der
       Angst.
       
       Auch viele Künstler und Prominente haben sich an den Protesten beteiligt.
       Welche Folgen hatte das für sie? 
       
       Der Schauspieler und TV-Moderator Memet Ali Alabora wurde von der Regierung
       zum Drahtzieher der Proteste erklärt – und damit zur Zielscheibe. Andere,
       die die Gezipark-Proteste unterstützt haben, haben Besuch von den
       Drogenfahndern der Polizei bekommen. Ein Basketball-Spieler wurde aus dem
       Nationalteam verbannt, weil er sich geweigert hatte, dem Sender ntv ein
       Interview zu geben, der während der Gezipark-Proteste besonders einseitig
       berichtet hatte.
       
       Was ist mit dem Divan-Hotel, in dem die Demonstranten Zuflucht vor dem
       Tränengas fanden? 
       
       Der Besitzer gehört zu einer der reichsten Familien des Landes.
       Steuerfahnder haben die Büros ihres Konzerns durchsucht, Computer und
       Laptops beschlagnahmt. Erdogan hat gesagt: Entweder ihr seid auf meiner
       Seite, oder ihr werdet weggefegt. Und so verhält er sich auch.
       
       Sie sind Tänzer, aber Sie werden als Aktivist ausgezeichnet. Als was
       möchten Sie lieber wahrgenommen werden? 
       
       Ich bin Künstler. Mir geht es nicht um Politik, sondern um Menschen. Das,
       was ich mache, kann man politisch finden – oder komplett unpolitisch. Man
       mag es oder man mag es nicht.
       
       7 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Bax
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Protest
 (DIR) Taksim-Platz
 (DIR) Gezi-Park
 (DIR) Schwerpunkt Protest in der Türkei
 (DIR) Proteste in der Türkei
 (DIR) Besiktas
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Bosporus
 (DIR) Polizei
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
 (DIR) Gezi-Park
 (DIR) Schwerpunkt Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte Türkei: Das Modell Erdogan ist tot
       
       Die Türkei steht kurz davor, sich in einen religiösen Polizeistaat zu
       verwandeln. Entscheidend ist, wer 2014 Bürgermeister in Istanbul wird.
       
 (DIR) Krawall beim Istanbul-Derby: Auswärtssieg für Erdogan
       
       Nach dem Abbruch des Spiels zwischen Besiktas und Galatasaray wird über die
       Motive gestritten. Fest steht jedenfalls, wem der Spielabbruch nützt.
       
 (DIR) Nach Tod eines jungen Demonstranten: Neue Proteste in der Türkei
       
       In mehreren türkischen Städten gab es erneut Auseinandersetzungen. In
       Istanbul setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas gegen Demonstranten
       ein.
       
 (DIR) Debatte Türkei: Abschied von den Vätern
       
       Der Boom am Bosporus ist auf Schulden gebaut. Erdogans Spielraum schwindet
       zügig – und seine Verbündeten schwächeln.
       
 (DIR) Proteste in der Türkei: Demonstrant stirbt bei Polizeieinsatz
       
       Bei einem Protestmarsch in der südtürkischen Stadt Antakya ist erneut ein
       junger Demonstrant getötet worden. Er wurde von einem Gasgeschoss am Kopf
       getroffen.
       
 (DIR) Debatte Türkei: Bröckelnder Boom
       
       Um den Taksimplatz ist es ruhig geworden. Das neo-osmanische Projekt des
       Erdogan-Regimes droht dennoch zu scheitern – an der Ökonomie.
       
 (DIR) Kommentar Proteste in der Türkei: Originell, fröhlich, emanzipiert
       
       Mit ihren Aktionsformen fordert die Gezi-Bewegung die Staatsmacht heraus,
       schafft schöne Bilder und zeigt, welchen gesellschaftlichen Wandel sie
       ausgelöst hat.
       
 (DIR) Stiller Protest in türkischen Städten: Bis hierher und nicht weiter
       
       Die Regierung bezeichnet sie als „Terroristen“. Die reagieren mit
       schweigendem Protest: Sie bleiben einfach stehen – stumm, reglos,
       stundenlang.